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PAX

Mich hatte die Tatsache, dass die Jungs tatsächlich einen unscheinbaren weißen Lieferwagen hatten, überrascht. Ich erwartete eine Auseinandersetzung mit ihnen um einen gigantischen Militär-Humvee, den ich erwartet hatte, aber immerhin hatten sie doch etwas im Köpfchen. Es bestand kein Zweifel, dass jeder, der daran vorbeifahren würde, einen Pädophilen oder Serienkiller am Steuer erwartet hätte, aber es gab auch einen guten Grund: Es war die Art von Auto, die auch Elektriker oder Klempner fahren würden.

Einziger Unterschied war der, dass dieser Wagen auf beiden Seiten mit Sitzbänken und Stauräumen ausgestattet war, während ähnliche Fahrzeuge voll mit Werkzeug beladen waren. Das war nicht gerade meine Definition von Komfort. Mit sechs großen Männern jedoch auf so engem Raum zusammengepfercht zu werden – ja, das war zumindest meine Definition von Hölle. Aber es war immer noch besser, als zu fliegen.

Schon nach kurzer Zeit legte sich Ezra unter eine der Bänke auf den Boden und benutzte seine Jacke als Kopfkissen. Schnell besetzte Boomer den freien Platz gegenüber von ihm mit seinen Stiefeln und breitete sich über den Mittelgang aus.

„Für den Fall, dass du einen fahren lässt, Boomer, will ich dich nur erinnern, dass ich freies Trittfeld auf deine Eier habe.“

„Selbst wenn, weiß ich nicht, ob du oder irgendjemand hier drin in der Lage wären, etwas außer diesem abgestandenen Knoblauchgestank zu riechen.“

Und so begann ein gemütlicher Austausch an Beleidigungen. Levi packte seinen E-Reader aus und Noah notierte sich etwas in seinem Notizbuch. Somit blieben nur noch Zeke und Whale übrig. Ich fragte mich, ob ich ihn wie die anderen Jonah nennen sollte. Schließlich würde ich seine Tarnung hier nicht mehr auffliegen lassen können. Zudem passte Jonah so viel besser zu ihm als Whale, nachdem ich ihn in natura getroffen hatte.

Zeke saß gegenüber von mir und funkelte Jonah finster an. Wie lange er wohl so weitermachen würde.

Nicht lange, wie es schien, denn er folgte dem Beispiel seines Bruders, knüllte seine Jacke zusammen, klemmte sie zwischen seinen Kopf und die Wand und schlief binnen weniger Minuten ein.

Diese Kunst schienen alle Militärtypen zu beherrschen.

„Ich glaube nicht, dass ich mich jemals richtig bei dir bedankt habe“, meinte Jonah. Seine in Falten gelegte Stirn zeigte auf seine gefalteten Hände.

Ich spielte nicht den Dummen. Mir war klar, wovon er sprach: Ich hatte ihm geholfen, aus dem Kartell rauszukommen, als wir noch jünger waren. „Du weißt, dass du das nie tun hättest müssen.“

„Mag sein. Aber ich wollte es tun. So viele Male. Aber Worte schienen nie genug zu sein. Aber jetzt, wo ich hier sitze und darüber nachdenke, merke ich, dass Worte das Einzige sind, was ich habe.“

Es fühlte sich an, als würde jemand ein Messer in meine Brust rammen und drehen. Ich verdiente seinen Dank nicht. Hätte ich früher etwas mehr gewusst, hätte ich schneller reagiert – hätte ich vielleicht seinen Bruder finden können, bevor die Spur kalt wurde.

Aber so kam es nicht. Und die Spur verlief irgendwann im Sande.

„Nun, du revanchierst dich hiermit dafür“, antwortete ich stattdessen und bemühte mich, die Unterhaltung auf einen sicheren Boden zu lenken.

Immerhin konnte ich damit Jonahs Gedanken zum Schweigen bringen. Dachte ich zumindest, bis er erneut seinen Mund öffnete.

„Darf ich dich, ohne unhöflich zu wirken, fragen, welche Pronomen du verwendest?“

Fuck. Apropos unsicherer Boden.

„Es ist mir nur klar geworden, wie wenig ich eigentlich über dich weiß. Ich habe keinen blassen Schimmer, ob du irgendwo eine Familie hast oder wo du geboren wurdest. Für mich kam nie die Frage auf, ob du dich als etwas anderes als ein Kerl identifizierst. Im Übrigen kenne ich nicht einmal deinen richtigen Namen.“

„Pax“, antwortete ich barsch und seufzte, als Jonah mich überrascht und verletzt ansah. „Einfach nur Pax“, sagte ich sanfter. „Das bin ich einfach. Und was die Frage nach dem Geschlecht angeht? Ich stehe nicht darauf, in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden. Bei meiner Geburt kam ich als Junge zur Welt und blieb deswegen auch mein ganzes Leben bei der Bezeichnung ‚Er’. Falls du es noch nicht mitgekriegt hast, bin ich kein großer Fan von Veränderungen. Aber ich pfeife darauf, was andere von mir erwarten, wenn es um mein Aussehen oder meine Kleidung geht.“

Ich hatte darauf gewartet, dass Jonah zum verbalen Gegenangriff ansetzt. Ich hatte mich ihm gegenüber defensiv und kleinlaut gezeigt. An dieser Stelle sagten die Leute in der Regel: „Danke, war nett, dich kennengelernt zu haben, aber ich bin raus. Du bist zu kratzbürstig.“ Das haben sie jedenfalls früher gesagt, als ich mich noch unter Leute mischte. Früher, als ich noch ein Kind war.

Aber Jonah sagte nichts dergleichen. Ein Teil von mir wollte glauben, es läge bloß an unserer räumlich beengten Umgebung, aber tief in meinem Innern wusste ich, dass Jonah anders war. Nicht ohne Grund hatte ich so lange Kontakt zu ihm gehalten, wo ich doch alle anderen Beziehungen über Bord geworfen und jede Brücke niedergerissen hatte, die mir nicht über meine persönlichen Ziele hinaushelfen konnten.

Erst als wir in dieser Nacht einen Stopp einlegten, brach er das Schweigen, das mir jedoch sehr behaglich war.

* * *

„Also, teilen du und dein Gefährte euch ein Zelt?“, fragte Ezra und mir sträubten sich die Nackenhaare. Im Leben nicht würde ich mir mit irgendjemandem ein Zelt teilen. Würde mein Leben davon abhängen, würde ich es vielleicht schaffen, Jonah zu ertragen, aber meine Privatsphäre war mir wichtig. Ich würde sogar auf dem Rücksitz des Vans pennen, wenn das meine einzige Option wäre. Ohnehin die sicherste Option. Besser geschützt.

„Papa P hat extra ein zusätzliches Zelt einpacken lassen“, erklärte Noah und drückte mir eine grüne Tasche in die Hand, in der vermutlich besagtes Zelt steckte. „Weißt du, wie man ein Zelt aufbaut, oder soll ich einen dieser Idioten beauftragen, es für dich zu übernehmen?“

Zekes Blick brannte förmlich auf meiner Haut, obwohl ich ihn nicht einmal ansah. Ich reckte mein Kinn empor. „Ich schaffe das schon.“

Ich entschied mich für jene Stelle im Kreis, die am weitesten von Zeke entfernt war – also genau gegenüber von ihm, allerdings direkt neben Jonah.

„Weshalb hat jeder von euch ein eigenes Zelt?“, fragte ich Jonah leise, als dieser mir den Aufbau der Stangen erklärte und diese in den Boden rammte. „Wäre ein großes Zelt, in dem alle untergebracht sind, nicht sinnvoller?“ Nicht, dass ich das wollte – ich zog mein Einzelzelt vor – aber ich wollte die Logik dahinter verstehen.

„Flexibilität. Falls jemand von der Gruppe getrennt wird, steht er nicht ohne Schutz da. Und Geistesvermögen. Ehrlich, diese Jungs sind ein einziger Haufen von Zicken, schon wenn sie nur eine Stunde im selben Raum verbringen. Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn alle im selben kleinen Raum schlafen müssten.“

Einleuchtend.

Unser Essen wurde in Form von silbernen Tüten – MREs – verteilt und nachdem ich eine davon verdrückt hatte, hatte ich immer noch Hunger. Als mir eine zweite Portion angeboten wurde, nahm ich sie, aber lehnte eine dritte ab, obwohl der Hunger mich noch immer plagte. Ich hatte keine Lust, derjenige zu sein, der isst und isst und isst, bis wir plötzlich irgendwo ohne MREs festsitzen. Das Arschloch, das sich überfressen hatte, wäre das erste Opfer eines kannibalistischen Angriffs gewesen.

Ich verdrängte den schauerlichen Einfall aus meinem Kopf. Unwahrscheinlich, dass die Jungs auf einer so kurzen Mission auf Kannibalismus zurückgreifen würden. Allerdings bezweifelte ich nicht, dass sie früher oder später dem Kannibalismus verfallen würden. Der Überlebensinstinkt lag in ihrer Natur. Man denke an die Geschichte ‚Die Donner Party’.

Ich musste unbedingt versuchen, diese Gedanken aus meinem Kopf zu schütteln.

Als ich in meinem provisorischen Bett lag, nagte das Hungergefühl förmlich an meinen Knochen und ich lauschte, wie sich die anderen langsam unter ihre Decken begaben. Normalerweise war ich an Hungerwellen gewöhnt, die schnell anstiegen und wieder abebbten, aber das hier war wie ein Tsunami – eine unaufhaltsame, langsame Welle, die von Minute zu Minute größer wurde.

Oh, verdammte Scheiße. Das war kein Hunger. Es war Hitze.

Während ich innerlich gegen das Unvermeidliche ankämpfte, begannen meine Finger und Zehen zu zucken. Ich konnte mich dem Verlangen, das in mir aufstieg, nicht widersetzen. Mir blieb nur die Wahl, entweder selbst die Zügel in die Hand zu nehmen und sie zu lenken, oder abzuwarten, bis ich zu einem zitternden, winselnden Wrack der Begierde wurde.

Letzteres war keine Option.

Mit dieser Erkenntnis schlich ich mich leise aus meinem Zelt, überquerte den leeren Kreis und ließ mich vor Zekes Zelteingang auf die Knie sinken. Sein Atem ging langsam und gleichmäßig. Er war bereits eingeschlafen.

Dadurch fühlte ich mich mutiger. Ich zog den Reißverschluss hoch, kroch hinein und zog ihn hinter mir wieder zu. Bevor ich auf den Knien seinen Körper erkundete, nahm ich mir einen Moment Zeit, um mich auszuziehen. Ich ließ meine Hände über Zekes Oberschenkel wandern, wobei mich die Hitze seiner Haut selbst durch den Stoff hindurch regelrecht verbrannte, bis ich endlich fand, wonach ich gesucht hatte.

Ich sprang rittlings auf meinen Gefährten und drückte ihm sein eigenes Messer an die Kehle, während ich darauf wartete, dass er wach wurde. Seine Augen öffneten sich und plötzlich war er ganz still. Ich beugte mich nach unten, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, während ich das Messer noch ein Stück fester gegen die Haut an seinem Hals drückte.

„Ich akzeptiere dich, aber nur, weil ich durch dich in Hitze verfallen bin und Jonah meint, dass du gar nicht so übel bist. Nicht aus biologischen Beweggründen, sondern weil ich es so will.“ Das war nicht ganz gelogen. „Aber wir machen das auf meine Art. Ich bleibe oben und wehe dir, du versuchst, das Kommando zu übernehmen.“ Ich tippte mit der Klinge auf seinen Hals und erklärte ihm, was es für Konsequenzen nach sich ziehen würde, wenn er meine Regeln missachtet.

Zeke sah keineswegs verängstigt oder zornig aus, wie ich es erwartet hatte. Er wirkte … triumphierend und in seinen tiefen Augen lagen unausgesprochene Versprechungen. Versprechungen, von denen ich nichts wissen wollte. „Was immer du willst, kleiner Vogel.“

Arschloch. Warum war sein Selbstbewusstsein so anziehend und gleichzeitig so nervtötend? Er bildete sich ein, mich für sich zu haben. Da hatte er sich leider verschätzt. Ich hatte ihn, aber nur so weit ich es sagte. Nicht mehr. Nicht weniger. Und sobald das alles hier zu Ende war und mein Körper nicht mehr darauf drängte, sich mit ihm zu vereinen, war die Sache für mich erledigt. Mehr würde es nicht sein. Das war alles, was es jemals sein würde.