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PAX

Das war bescheuert. Ich hätte mich nicht an diesen praktisch Fremden wenden sollen. Ein Fremder, der zugleich mein Alpha war. Diese Dumpfbacke war derjenige, der mich überhaupt erst in diesen Schlamassel gebracht hatte. Wäre er kein Mitglied von Jonahs Team gewesen, wäre das alles nicht passiert. Wenn er die Höflichkeit besessen hätte, gar nicht erst auf die Welt zu kommen, wäre das alles nicht passiert.

Nun ist es aber passiert und Zekes Arme waren das Einzige, das mich zusammenhielt.

Ich hatte nicht darum gebeten. Ich hatte das hier nicht gewollt. Ich wusste nicht einmal, was es mit meinem Leben machen würde.

So zwang ich mich, „es“ beim Namen zu nennen: ein Kind.

Meine Nerven lagen blank. In solchen Phasen würde ich normalerweise einen Code programmieren – alle meine Probleme in logischen Mustern von Befehlen verarbeiten und die defekte Software meines Gehirns mit der reinen Rechnerlogik ersetzen. Die Leute beklagten sich über Computer, die nicht das taten, was sie wollten – und das war auch so. Kein Computer würde jemals das tun, was du willst. Er würde nur das tun, was du ihm aufträgst.

Weshalb konnte ich nicht wie ein Computer sein? Warum konnte Zeke nicht wie ein Computer sein?

„Kleiner Vogel, du zitterst ja.“

Ich bereitete ihm Sorgen. Scheiße, verdammt! Warum sollte er sich keine Sorgen machen? Ich war ein einziges Wrack. Ich war die denkbar ungeeignetste Person, die ein Kind bekommen konnte. Meine einzigen Vorbilder – wenn man sie so nennen konnte – waren ein gewalttätiger Vater und eine drogenabhängige Mutter. Sie starb, als ich sieben Jahre alt war und als die Misshandlungen meines Vaters immer schlimmer wurden, lief ich davon. Ein Leben auf der Straße war einfacher als ein Leben bei ihm.

Sicher, ich hatte ein Auge auf die anderen Kids geworfen, aber ich konnte sie nicht alleine beschützen. Ich wurde mit den Jahren immer raffinierter – so hielt ich mich aus Schwierigkeiten heraus und half anderen, wenn ich konnte. Aber ich ließ keinen von ihnen an mich heran. Ich konnte ihnen nicht trauen. Und sie konnten mir nicht trauen. Am Ende waren wir alle auf uns allein gestellt.

Außerdem hatte ich panische Angst, so zu werden wie meine Mutter. Unzählige Kinder gerieten in den Sumpf der Drogen und suchten nach einem Ausweg. Sie fanden ihn. Doch es war nicht die Art von Ausweg, die ich mir erhofft hatte. Und ich war ziemlich leicht gereizt, wie mein Dad. Das hatte mir meine Mom oft genug gesagt. „Du bist genau wie dein Vater“, lallte sie immer dann, wenn ich sie anschrie, sie solle vom Boden aufstehen, denn ich fürchtete, dass es dieses Mal zu spät war.

Schon als Siebenjähriger wusste ich, dass ich mich nie wieder von jemandem kontrollieren lassen konnte. Das bedeutete, keine Bindung zu anderen aufzubauen. Emotionen überwältigten einen stärker als Fäuste.

Und das galt selbst für den Fall, dass ich jemandes Zuneigung wert war. Jemandes Liebe. Ich war es nicht. Nicht so. Meiner Mutter lag nicht einmal so viel daran, am Leben zu bleiben, um mich von den Schlägen meines Dads zu schützen. Und mein Dad …

Dieses Arschloch hatte sich einige Jahre nach meinem Fortgehen in den Tod gesoffen. Ich hatte die Todesanzeige vor ein paar Jahren im Netz gelesen, als ich mich dazu durchgerungen hatte, nach ihm zu suchen. Es hätte weitaus Schlimmeres verdient.

Aber wir sind das Produkt unserer Eltern, richtig? Wie hätte ich also ein guter Vater werden können, wenn ich von so einem abschreckenden Beispiel abstammte?

„Shhh, kleiner Vogel. Du wirst ein toller Vater sein.“

Mir stockte der Atem. Woher wusste er …

So ein Mist! Hatte ich gerade alles ausgeplaudert? In der Panik musste ich meine Gedanken einfach vor mich hin gebrabbelt haben.

„Das kannst du nicht wissen.“ Ich verfluchte das Schniefen in meiner Stimme, konnte jedoch nichts tun, um es zu unterdrücken.

Zekes Finger strichen sanft über meinen Rücken und ich konnte nicht umhin, mich dem Trost zu beugen, den sie spendeten. Mein Verstand forderte mich auf abzuhauen. Er sagte mir, dass das hier gefährlicher war als alles, was mir auf der Straße widerfahren war, aber ich konnte nicht davonlaufen. Ich konnte ihn nicht verlassen.

Doch er würde mich mit Sicherheit wegstoßen. Ich hatte ihn verschreckt. Er hatte meinem Geplapper nicht wirklich zugehört. Aber sobald er die Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, würde er mich wegschicken. Ich war zu schwierig. Ich war zu kaputt.

Aber er tat es nicht. Jedenfalls noch nicht.

„Kleiner Vogel, das alles hat dich nicht zu einer schrecklichen Person werden lassen. Es hat dich stark gemacht. Ich bin noch nie jemandem begegnet, der so mutig und stark ist wie du.“

„Ich bin nicht stark“, flüsterte ich. „Ich bin kaputt. Zerbrochen in so viele Einzelteile, dass man sie unmöglich wieder einsammeln kann. Sie liegen in der ganzen Welt verstreut, wenn nicht gar im ganzen Universum.“

„In meinem Job sind mir schon viele gebrochene Menschen über den Weg gelaufen, aber du bist keiner davon.“

Ich wünschte mir, dass seine Worte wahr wären. Es tat weh, ihnen Glauben zu schenken, aber ich gab mich keinen falschen Hoffnungen hin. Es würde nur noch mehr schmerzen, wenn alles zusammenbrechen würde.

„Mich kümmert es nicht, wie lange es dauern wird, bis du mir glaubst.“ Zeke schlang einen Arm um meine Knie und hob mich in seine starken Arme. „Ich habe mein ganzes Leben Zeit, dich vom Gegenteil zu überzeugen.“

Er trug mich in sein Schlafzimmer und setzte mich auf dem Bett ab. Ich wandte mich von ihm ab, da ich immer noch damit rechnete, dass er mich zurückweisen würde. Doch er verbrachte nur ein paar Minuten damit, die Bettdecke über mich zu ziehen und die Kopfkissen zurechtzurücken, bevor er sich zu mir ins Bett kuschelte und mich wie einen kleinen Löffel an sich zog.

„Darf ich … darf ich deinen Bauch berühren?“

Bei dieser Frage fühlte ich mich nach allem, was heute Abend passiert war, am verwundbarsten. Aber eine so kleine Bitte konnte ich ihm nicht abschlagen. Was, wenn er mich daraufhin zurückweisen würde?

Damit konnte ich im Moment nicht fertig werden. Ich brauchte seine Berührung.

Als ich stumm nickte, glitt seine große, raue Hand unter mein Shirt und legte sich auf meinen flachen Bauch.

„Ich liebe die Vorstellung, dass unser Welpe hier heranwachsen wird“, sagte Zeke leise. „Ich kann verstehen, dass du Angst hast. Verdammt, den Schaden, den Babys anrichten können, habe ich selbst gesehen. Ich habe auch Angst. Aber wir haben uns und die Unterstützung des Teams. Mir ist klar, dass du bisher noch kein derartiges Team oder auch nur eine einigermaßen intakte Familie hattest, aber du wirst schon sehen. Sie werden dir zeigen, was Liebe ist – was Familie ist.“

Wieder kamen mir die Tränen, dieses Mal lautlos. Sie kullerten meine Nase und meine Wange hinunter und benetzten das Kissen unter meinem Kopf.

„Ich werde dir all diese Dinge zeigen, wenn du mich nur lässt.“ Zeke vergrub sein Gesicht in meinem Nacken. „Schon mal was von Kintsugi gehört?“ Ohne auf meine Antwort zu warten, fuhr er fort: „Das ist eine japanische Kunst. Eine Zeit lang stand Ezra total auf so etwas. Er war schon immer handwerklich begabt, spielte Gitarre und half als Sanitäter. Hauptsache, seine Hände hatten eine Beschäftigung. Es überrascht mich, dass ich mir den Namen merken konnte, aber er hat mich damit zugetextet, sodass ich keine andere Wahl hatte. Aber es geht darum, dass wenn eine Keramik kaputt geht, die Scherben wieder zusammengefügt werden. Dabei wird allerdings nicht versucht, die Bruchstelle zu verschleiern, sondern sie wird mit einer Goldfüllung verschlossen. Dadurch sieht die Töpferei noch viel schöner aus als vorher. Ich denke nicht, dass du kaputt bist, aber falls doch, ist es deine Unvollkommenheit, die dich wunderschön macht.“

Zögernd legte ich meinen Arm über seinen und drückte seine Hand noch fester gegen meinen Bauch. Auch wenn ich ihm nicht glaubte, wollte ich es zumindest. Und jetzt, nur für diesen Moment, gestattete ich mir, so zu tun, als ob all das, was er gesagt hatte, wahr wäre. Ich ließ mich auf die Vorstellung einer Familie ein, einer echten Familie, die füreinander da war und sich liebte. Ich malte mir aus, wie Zeke für mich sorgen würde.

Erstmals in meinem Leben spürte ich, wie mich der Schlaf überkam. Für gewöhnlich konnte ich den Schlaf mit Hilfe einer Vielzahl von Energydrinks so lange hinauszögern, bis ich von meinem Zuckerrausch wieder runterkam und mich die Müdigkeit überfiel. Danach würde ich für einige Stunden über meinem PC schlafen, bis ich mit einem plötzlichen Ruck aufwachte.

Zeke gab mir einen Kuss auf die Schulter. „Bei mir wirst du immer sicher sein, kleiner Vogel.“

Genau das wars – Sicherheit.

Noch nie hatte ich ein Gefühl von Sicherheit verspürt. Doch jetzt tat ich es. Heute Abend war etwas in meinem Inneren zerbrochen und was es auch war … ich hatte das Gefühl, dass Zeke recht hatte. Er würde mich wie ein goldener Kleber wieder zusammensetzen und mich in neuer Schönheit erstrahlen lassen.

Hmm. Ich schätze, dass ich ihn behalten könnte. Schließlich trug er mein Mal an seinem Hals und sein Welpe wuchs in meinem Bauch heran. Abgesehen davon … war der große Rüpel irgendwie ganz süß. Außerdem musste ich zugeben – und sei es nur für mich selbst – dass die Gewissheit, dass dieser Alpha mir den Rücken stärkte und mich beschützen würde, etwas Schönes war. Wenn ich nicht vorsichtig genug war, würde ich mich garantiert in ihn verlieben.