Mein erstes Winter-Vanlife, wie nomadige Fachleute auf vier Rädern das Leben im Van während der Wintermonate nennen, gehört zu den besten Erfahrungen meines Lebens. Geplant war es nicht – erst recht nicht in Skandinavien! – aber ich bin da irgendwie hineingeschlittert. Und auch währenddessen öfter mal geschlittert. Nur selten im Leben konnte ich auf eine solche Dichte an neuen Erfahrungen pro Tag zurückblicken, wie zu jenen kurzen Tagen während der langen Monate nördlich des Polarkreises. Im harschen Winter Nordskandinaviens durfte – oder besser gesagt musste – ich viele Dinge neu kennenlernen. Dazu gehörten unter anderem: mein Auto, meine Vorstellung von »viel Schnee«, mein Kälteempfinden, meine Autoreifen und ich selbst.
Als ich im August 2019 kurzhosig und vollgepackt mit warmen, spätsommerlichen Vibes losfuhr, wusste ich nicht, dass ich mich bis Mitte Dezember nicht von der Schönheit der arktischen Leere würde losreißen können. Ich brach mit den Worten »Ich bin mal für ein paar Wochen in Skandinavien« auf und meinte das damals auch so. Erstens, weil ich generell keinen Plan fürs Leben hatte, der über einen Zeitraum von ein paar Wochen hinausging, und zweitens, weil ich irgendwas sagen musste. Man fährt nicht einfach los, winkt aus dem Autofenster und sagt kein Wort. Ich bin ja nicht die Queen. Und so kam es, dass ich unter dem Arbeitstitel startete, nur mal für ein paar Wochen nach Skandinavien zu fahren, um dieses »Vanlife-Ding« mehr oder weniger sachte anzugehen.
Den Spätsommer Skandinaviens sowie die darauffolgenden ersten Herbsttage kannte ich bereits von meinen Erfahrungen als Disco-2-Lifer. Allerdings war ich damals nur ein schnöder Tourist, der beim Losfahren schon genau den Tag kannte, an dem er wieder zu Hause in Deutschland sein würde. Damals war klar, dass dieser Tag vor dem Wintereinbruch sein würde. Doch auch den skandinavischen Spätsommer und Herbst kann man oberhalb des Polarkreises nicht wirklich als solchen erkennen. Also zumindest dann nicht, wenn man mitteleuropäische Verhältnisse zum Maßstab nimmt. In der zweiten Augusthälfte schien zwar durchaus noch eine güldene Sonne vor viel strahlendem Blau, aber ihr Schein trog: Es war meistens kühl, und wenn nicht, dann kalt. Nur rund um die Mittagsstunden konnte man ein Bad in der Sonne mit den wärmenden Momenten eines mitteleuropäischen Spätsommers gleichsetzen. Morgens und abends wurde es arschkalt. Ich mochte das aber ganz gern so. Wenn man tagsüber in kurzen Klamotten wanderte, war es abends ein besonderer Genuss, sich mit anpassenden Maßnahmen im Textilbereich den Regeln der Natur zu unterwerfen. Dann konnte sich eine flauschige Outdoor-Zipper-Jacke unter Umständen wie die Umarmung der strengen, aber liebenden Mutter Natur anfühlen.
Und während ich jeden neuen Herbsttag mehr lieben lernte und die Farben genoss, die einerseits zahlreicher wurden, und andererseits weniger, war ich too loveblind, um den heranpirschenden Winter klar zu sehen. Meine Kleidung wurde zwar schleichend umfangreicher, aber so erging es auch meinem Herz! Zwischen Bergen, Fjorden, Wandertouren und meditativen Angelstellen vergaß ich fast alles, was sonst existierte. Gut, okay, meinen lästigen Job als Werbetexter konnte ich nicht ganz ignorieren. Doch genau dieser Mix aus Fokus auf die Arbeit und Abtauchen in die unvergleichliche spätherbstliche Nordwelt ließ mich gleichsam naiv wie lebensbejahend vergessen, dass ich in kürzester Zeit mit Eis an Stellen konfrontiert sein würde, wo vorher keins war. Gegen Ende September bemerkte ich, dass eines Morgens gar nichts mehr blühte und fortan wunderschöne Eisblumen das neue Erscheinungsbild für natürliche Kreativität wurden. Und dann blühte es endlich auch mir: »Ich bin in Nordskandinavien! Und ich will unbedingt hierbleiben, doch der Winter klopft streng an die nicht isolierte Schiebetür.«
Nein, mein Camper besitzt bis heute kein Winterpaket, also keine wintertaugliche Isolierung in Boden und Wänden sowie keine verkleideten Wasserrohre etc. Aber es ging auch ohne. Im Gegensatz zu meinem Auto kam ich scheinbar mit einem soliden Winterpaket ab Werk. Sowohl mental als auch physisch. Obwohl ich selbst Gegenteiliges erwartet hätte, da meine Lungen-OP erst sieben Monate her war, machten mich meine neu entfachte Lebensfreude, meine neuen Vanfreunde sowie die omnipräsente Aura nordischer Götter und der allgegenwärtige Geist der alten Wikinger extrem kälteresistent. Außerdem zog einen die aufkommende Stille des arktischen Winters in ihren Bann wie das betörende Singen der Sirenen. Ich musste einfach dorthin fahren. Weiter rein. Weiter nördlich. Immer weiter!
Winter-Vanlife kam mit allerhand Verpflichtungen und täglichen To-dos daher, die ich als Amateur nicht zwingend auf dem Schirm hatte. Oder besser gesagt: auf der Windschutzscheibe. Die knapp zweieinhalb Quadratmeter große, leicht gewölbte Glasfront, die mir stets sehr gut beim Geradeausfahren half, bedeckte nach langen Winternächten gern mal eine mehrere Zentimeter dicke Eisschicht, welche oftmals unter einigen Dezimetern Schnee begraben lag. Das gleiche Schauspiel war auf meinen zwei Solarpanels auf dem Dach zu beobachten, die dann logischerweise keinen Strom mehr produzierten. Mit viel Sonne oder gar Tageslicht durfte man im Winter dort oben ohnehin nicht rechnen, aber ich hatte den sportlichen Ehrgeiz entwickelt, jedes Watt mitzunehmen, das die scheue Wintersonne noch zu geben bereit war. Außerdem wollte ich nicht eine von diesen Arschgeigen sein, die ihr Dach nicht von den Eis- und Schneemassen befreien, um dann auf dem Highway in Mario-Kart’scher Manier alle Verfolger mit fliegenden Überraschungsbomben zu beglücken. Hinter Lkw ist mir das selbst schon häufiger passiert, und es macht real deutlich weniger Spaß als auf der N64. Um aus der Frontscheibe wieder hinausschauen zu können, hatte ich zwei Optionen: 1. Den Motor und die Heizung zwei Stunden laufen lassen. 2. Mich mit Besen und extra langem Eiskratzer bewaffnen, um über die garstigen Aggregatzustände von Wasser herzufallen wie ein wütender Wikinger über ein beschauliches Dorf in Mitteleuropa. Natürlich entschied ich mich immer für die zweite Variante. Es machte sogar Spaß. Der morgendliche Wikinger-Raubzug nördlich meiner Motorhaube wurde zu einer Art Frühsport-Routine, die mir wirklich guttat. Randnotiz: Das Laufenlassen des Motors, um Eis, Schnee und zweistelligen Minusgraden zu trotzen, ist eine weitverbreitete Methode in arktischen Gefilden. Ich parkte mal im November auf einem Supermarktparkplatz bei Skjervøy, das ziemlich weit im Norden liegt, und wunderte mich über das sonore Surren, dass die arktische Stille durchdrang. Auf dem Parkplatz standen circa 25 Fahrzeuge, darunter teure Pick-ups, brandneue Volvos und andere schicke Mühlen, die mit laufendem Motor ungeduldig auf ihre einkaufenden Herrchen warteten. Die Motoren liefen, die Schlüssel steckten, und die sehr gechillten dazugehörigen Menschen legten drinnen kjøtt, brød, ost und elg salami für den Gegenwert eines portugiesischen Bruttojahresgehalts in ihr Körbchen. Ich mochte diesen Moment. Er transportierte so viele Wahrheiten. Zum Beispiel, dass ein laufender Motor nachhaltiger ist als ein Motor, der bei zweistelligen Minusgraden mehrfach an- und ausgeschaltet wird. Es zeigte auch, dass es in Nordnorwegen wenig kriminelle Energie gibt, denn Lenkradschlösser oder andere präventive Maßnahmen konnte ich ebenfalls nicht entdecken.
Einmal, als ich in Norwegen über ein Hochplateau fuhr und das Thermometer meines Vans -30 °C Außentemperatur anzeigte, blinkten innen alle Warnleuchten wild auf. Während ich überlegte, ob das bunte Schauspiel mehr nach Eis-Disco oder nach Van-Exorzismus aussah, offenbarte sich linker Hand ein arktisches Eisszenario, das mich anhalten ließ. Ein gefrorener Fjord, umstanden von vereisten Bergen, alles Ton in Ton, pures Perlweiß. Man konnte alle beteiligten Komponenten nur deshalb voneinander unterscheiden, weil sich genau hinter dem Fjord, zwischen zwei Bergen, die Sonne mit einem dermaßen güldenen Gold vom kurzen Tag verabschiedete, dass sich durch das spontane Wechselspiel aus schwarzen Schatten und goldenen Highlights alle Konturen und Umrisslinien der Szenerie voneinander abhoben. Ich fuhr kurz ran, um Fotos zu schießen. Natürlich ließ ich als strebsamer Arktispraktikant den Motor laufen und hüpfte aus dem Van. Noch bevor meine Füße den Boden berührten, fühlte sich meine Nase so an, als ob jemand Blitzbeton eingefüllt hätte. Sie war binnen einer halben Millisekunde so fest geworden, dass ich sie kaum mehr rümpfen konnte. Alles war eingefroren. Jedes Rotzmolekül, jedes Nasenhaar, jeder Millimeter meiner Nasenschleimhaut transformierte zur Miniatur-Wunderland-Bühnenkulisse von Frozen. In Windes Eile, der stark wehte, schoss ich ein paar Bilder mit meiner zitternden Kamera und hüpfte zurück ins Auto. Ich hatte nur einen Pullover an, da ich direkt vom Fahrersitz aus hinaussprang. Allerdings war mein Pullover ein handgefertigtes Stück aus Hamburg: ein knallroter Norwegerpullover aus Merinowolle von »Fischerhemden Uwe«. Bei Temperaturen bis -5 °C brauchte ich dank des Wunderzwirns selten eine Jacke, wenn ich draußen irgendetwas rund ums Auto erledigte, wie zum Beispiel das Freikratzen der Windschutzscheibe. Ich vermisse die Kälte und den Pullover. Wird höchste Zeit, dass ich mich wieder von der Kälte umgarnen, vom Eis tragen und vom Ruf der Wildnis führen lasse!
Ich vermisse auch den Spirit der Norweger. Als ich die Lofoten Ende November verließ, hielt ich kurz vor dem Festland beim einzigen Camping, der zu der Zeit noch aufhatte. Wäsche, duschen etc. standen mal wieder an. Ich war der einzige Gast mit Camper auf dem großen Platz. Es lag kniehoch Schnee, und der angrenzende See sah aus wie ein zugeschneiter Spiegel. Tageslicht gibt es im Dezember kaum, alle meine Erinnerungen an den Campingplatz sind dunkel. Sehr gut, aber dunkel. Nur in zwei der vielen Hütten brannte Licht, weil dort Monteure wohnten, die irgendwo einen Auftrag hatten. Ich saß die meiste Zeit oben im Haupthaus des Campings und arbeitete. Mein Van fühlte sich dieser Tage irgendwie zu einsam an. Im Haupthaus war im Grund nur der drollige Besitzer des Platzes anwesend, der ebenfalls einsam und von Langeweile geplagt war. Trotzdem oder deswegen öffnete er jeden Morgen das Haus, kochte frischen Kaffee und wartete auf Kundschaft. Ich saß dann unweit der Rezeption an einem Tisch, trank seinen Kaffee leer, und wir plauderten zwischendurch über dies und das. Manchmal bekam ich auch einen Teller Kekse. Da die Gäste-Waschmaschine kaputt war, durfte ich bei ihm waschen. Er wohnte am Rand des Platzes und hatte ein nettes Holzhaus mit Seeblick – zumindest in den helleren Jahreszeiten. Eines Nachmittags sprang er plötzlich auf und sagte, dass er einen Termin habe. Er übertrug mir nach nur 36 Stunden »des Kennens« die Verantwortung für seinen Platz und sagte, ich solle die Gäste, die sich angekündigt hatten, nett empfangen und sie in alles einweisen. Dann winkte er und düste los. Ich muss unbedingt meinen Lebenslauf aktualisieren: »Manager eines Campingplatzes auf den Lofoten: 27.11.2019, 14:30 Uhr bis 27.11.2019, 16:45 Uhr.«
Ich hoffe, ich habe mit meinen drastischen Kälteschilderungen niemanden abgeschreckt. Denn selbst, wenn ich drei Fußzehen und eine Nasenspitze verloren hätte, würde ich dieses besondere Van-Erlebnis jedem wärmstens empfehlen. Im Folgenden werde ich mich nun mit Freude und einem Hauch Wehmut an alle Momente erinnern, die konstant oberhalb des Polarkreises und unterhalb des Gefrierpunktes lagen. Mir wird ganz heiß ums Herz, wenn ich an die Massen aus Schnee und Eis zurückdenke, so weit das Auge reichte.
Diese Geschichte zu meinen Reifen beginnt im Straßengraben auf Senja: Es war Freitagabend, ich war auf dem Weg zu meinem neuen Freund Peter und wurde von einem Schneesturm überrascht, der den bereits vereisten und platt gefahrenen Schnee auf den Straßen um viel Neuschnee bereicherte. Die Sicht aus der Windschutzscheibe bestand im Grunde nur aus den Abertausenden Schneeflocken, die dort vom Wind getrieben aufprallten. Im Licht meiner Scheinwerfer sahen sie wie Millionen von klitzekleinen Kometen aus. Sonst sah man nur finstere Nacht. Es war zwar erst 20 Uhr oder so, aber es wirkte wie mitten in der Nacht. Bis dato spielten meine »Allwetterreifen« ganz gut mit. Leider hatte ich beim Eintritt des Schneesturms versäumt, auszusteigen und Schneeketten auf die Antriebsräder zu ziehen. Ich dachte: ›Das geht auch so.‹ Ging es eine Weile auch. Nur in dem Moment, als ich einen relativ steilen Berg hinabfahren musste und plötzlich mit einem Lkw konfrontiert war, der diesen nicht richtig hochkam und schon leicht schräg auf der Straße stand, bereute ich mein Versäumnis. Natürlich konnte der Lkw bergauf nicht vollständig anhalten, sonst wäre er niemals wieder losgekommen, und so kämpfte er sich mit durchdrehenden Reifen und überwiegend auf meiner Straßenseite weiter nach oben. Ich wollte auch nicht anhalten, sondern so schnell es ging an ihm vorbeifahren. Vor lauter Minikometen im Sichtfeld schätzte ich jedoch die Breite der Straße falsch ein und mein Vorderreifen sackte in den Graben. Zum Glück war genau an dieser Stelle eine Art Plateau, wie eine kleine Stufe, sodass der Reifen nicht komplett in den Graben rutschte – und dann womöglich meinen ganzen Van hineingezogen hätte. ›Scheiße!‹, dachte ich und machte die Warnblinker an. Die Lichter des Lkw verschwanden im Rückspiegel, und ich stand erst mal recht verlassen dort herum. Zum Glück hörte es nach ein paar Minuten auf zu schneien. Ich rief meine Versicherung an und fragte, ob solche Abschleppmanöver in Norwegen in der Police enthalten wären. Tollerweise waren sie es, und meine Versicherung kontaktierte nach dem Abfragen meines Standorts einen lokalen Abschleppdienst. Dieser sollte allerdings noch gute zwei bis drei Stunden brauchen. Es war Freitagabend, bis eben tobte noch der Schneesturm, und ich war nicht sehr weit weg vom Arsch der Welt. Während ich wartete, nahm der Verkehr überraschend zu, da wohl auch auf Senja und nahe dem Arsch der Welt viele Norweger am Freitagabend Ausgehpläne haben. Da die Straßenanzahl auf Senja übersichtlich ist, kamen viele der Ausgehenden an mir vorbei. Und ich muss sagen, wirklich jedes Auto hielt, um zu fragen, ob alles okay sei und ob ich Hilfe benötigte. Viele fuhren wieder, als ich von meiner kontaktierten Versicherung berichtete, aber manche wollten sich nicht abwimmeln lassen. Von Reifenhaftspray bis Teppichstücken wurde an und unter meinen Reifen viel getestet, damit ich vielleicht aus eigener Kraft aus dem Graben fahren könnte. Doch es half alles nichts. Ein Norweger setzte sich sogar an mein Lenkrad und wollte es selbst probieren. Nachdem er den Reifen bis direkt an die Kante des Plateaus bewegt hatte, ohne herauszukommen, sprang er wieder aus meinem Van, rief mir »No, that didn’t work!« zu und fuhr in seinem Auto weiter.
Die Herzlichkeit der Leute war wirklich schön. Aber alle, die anhielten, taten das Gleiche. Sie schauten auf meine Reifen, lachten laut und schüttelten den Kopf. Viele erklärten mir, dass ich mit solchen Reifen hier oben keine Chance hätte. Mir wurden »real winter tires« und sogar Spikes empfohlen. Vor allem, wenn ich noch länger bleiben und bis ans Nordkap fahren wollte.
Nach zwei Stunden kam endlich der Abschleppwagen. Darin saß ein junger Typ, der sehr wortkarg und sichtlich genervt war, dass er einen ignoranten Touri mit Sommerreifen am Freitagabend aus dem Graben ziehen musste. Er tat sein Werk, drückte mir einen Zettel in die Hand und verschwand wieder. Ich war froh, aber auch besorgt, wie ich es noch bis zu Peters Haus schaffen sollte. Mittlerweile war es nach 22 Uhr, und der eine Tunnel, den ich noch passieren musste, war bereits gesperrt. Nachts fanden dort Reparaturarbeiten statt. Nach dem Tunnel wartete eine steile Abfahrt, die zu dem Fjord führte, an dem Peter wohnte. Adrenalingeladen fuhr ich einfach los und hoffte das Beste. Auf einer steilen Bergaufpassage gingen dann mal wieder sämtliche Warnleuchten an, und die Reifen drehten konstant durch. Oben angekommen, fuhr ich einfach nur nach rechts von der Straße ab und hielt in etwas, das wie eine kleine Parkbucht aussah. Ich zog die Jalousien zu und ging erschöpft ins Bett. Mit der ersten »Helligkeit« des Tages öffnete ich die Schiebetür und musste feststellen, dass ich in einer Baustelle stand. Um mich herum lagen Baumaterialien, Baufahrzeuge und anderer Kram. Und Tonnen von Schnee. Mein Baustellen-Campingplatz gehörte zu den umfangreichen Tunnelreparaturen, denn der Tunnel lag nur noch wenige Meter vor mir. Ich fuhr hindurch, freute mich über das Gefühl von rund 1.000 Metern Asphalt unter meinen Reifen und stoppte direkt danach wieder auf einem vereisten Parkplatz. Es war Zeit für die Schneeketten, um die fünf Kilometer lange Abfahrt auf der Winterpiste schadenfrei zu überstehen. Natürlich hatte ich die Schneeketten eine Nummer zu groß gekauft, weil meine Größe ausverkauft war. Und ich Amateur dachte, dass es bestimmt cool aussieht, wenn die Ketten bisschen lockerer sitzen. Baggy Style. Leider blieben sie nur mit Mühe und Not am Reifen, als ich den Berg mit maximal 15 km/h hinabrollte. Das Rasseln und Klappern klang deutlich nach einer Nummer zu groß, aber es funktionierte. Ich fuhr die letzten zehn Kilometer bis zu Peter sehr entschleunigend.
Als ich ein paar Tage später wieder aufbrach, um nach Tromsø zu fahren, waren die Straßen zum Glück überwiegend frei dank milderer Temperaturen und der Salzsalven der großen Räumfahrzeuge. Da ich mich im vereisten Tromsø dann deutlich mehr als Schlitten bewegte und weniger als Van, machte ich umgehend einen Termin bei einer lokalen Werkstatt aus und ließ mir echte norwegische Winterreifen mit Spikes auf schwarzen Stahlfelgen montieren. Was für ein Gefühl: Frisch behuft gen Norden!
Meine anderen Reifen, die dort oben nichts taugten, musste ich Tetris-mäßig unter dem Bett verstauen, wodurch drei Boxen und viel Equipment, das vorher im Keller lagerte, fortan neben mir im Bett Platz finden mussten. Zudem verlieh jetzt der konstante Geruch von Reifen und Schmierfett meinem Schlafzimmer ein überraschend heimeliges Flair. Rückblickend waren die Spikes die beste Entscheidung. Das Gefühl, irgendwo in Nordnorwegen im motorisierten Eigenheim über glänzende Eispisten zu brettern, während sich die wilden Schneeaufwirbelungen im Rückspiegel mit der tief stehenden Sonne zu einem dynamischen Kunstwerk vereinten, ist unbeschreiblich. Ich schaute oftmals mehr in den Rückspiegel als nach vorn. Nicht besonders schlau, aber trotzdem lohnend.
Nur einmal noch, in einer sehr eng geführten S-Kurve, brach mein Heck aus und ich slidete auf einer Pulverschnee-Eis-Melange quer über beide Fahrbahnen. Zum Glück ohne Gegenverkehr. Wäre zeitgleich einer der fetten Nord-Trucks unterwegs gewesen, würde ich jetzt in Walhalla für meine mitteleuropäischen Fahrkünste verspottet werden. Tote Wikinger können echt gemein sein.
Ich erinnere mich an einen sehr bezeichnenden Moment, als ich im November 2019 die Zubringerstraße nach Hammerfest fuhr, die über schöne Brücken sowie durch viel Eis, Schnee und Tunnel führte. Völlig zu Recht bezeichnet man diese Region und ihre Bedingungen als arktisch. Die gesamte Umgebung war, so weit das Auge reichte, weißer als jedes Zahnpastawerbung-Grinsen.
Ich war nicht mehr weit von der nördlichsten Stadt der Welt entfernt – wie sich Hammerfest in der Eigenwerbung beschreibt –, als mir endlich mal ein anderes Auto entgegenkam. Nicht, dass ich in dem Moment einsam war oder dergleichen, aber manchmal war es schön zu wissen, dass noch jemand da draußen rumgurkte. Das entgegenkommende Auto war ein VW T3 Syncro in grandiosem Zustand und mit allerhand Offroad-Spielzeug auf dem Dach und an den Seiten. Am Steuer saß ein kerniger Österreicher mit Dreitagebart und abenteuerlustigen Augen. Seine Nationalität erkannte ich nicht dank meines anthropologischen Talents, sondern wegen des »AT« auf seinem Nummernschild. Als wir uns so nahe waren, dass wir uns gegenseitig in die Augen schauen konnten, geschah einer dieser magischen Momente unter Männern, der von außen vermutlich nach nichts aussah, aber zwischen uns Bände sprach. Das lag zum einen an unserer einfach gestrickten Natur, aber eben auch an dem Umstand, dass wir beide allein im arktischen Norden unter diesen besonderen Bedingungen umherfuhren und scheinbar beide an der Stadt Hammerfest interessiert waren. In dem Moment, als zwischen unseren Windschutzscheiben nur noch knapp zwei Meter lagen, schauten wir uns an, nickten uns so zu, dass man die Kopfbewegung auch mit geübtem Auge kaum wahrnehmen konnte, und zuckten mit dem Zeigefinger nur für eine Millisekunde vom Lenkrad hoch, um uns höflich und anerkennend zu grüßen. Anwesenden Profis wäre ebenfalls aufgefallen, dass der jeweils linke Mundwinkel beider Akteure eine minimale Aufwärtsbewegung vollzog, während sich das linke Augenlid zu einem sogenannten Fünftel-Zwinker schloss. Wie gesagt, das alles war von außen kaum zu erkennen, doch wir transportierten dabei folgende Worte: »Hey! Schön dich hier zu sehen. Wie geht’s? Es gibt nichts Schöneres, als gerade hier zu sein, oder? Der absolute Wahnsinn. Pass auf dich auf! Der arktische Winter kann ebenso tückisch wie schön sein. Genieß es! Bis bald vielleicht, Kamerad.«
Daraus möchte ich folgende, allgemeingültige Erkenntnis ableiten: Männer sind tiefgründiger, als man denkt, es ist nur schwer zu erkennen.
Das in Schnee und Eis gehüllte Hammerfest ist für mich der Inbegriff des Nordens. Im Hafenbecken lebte ein weißer Belugawal, und im Stadtraum fand man Laufschlitten, die mit Schlössern an Zäunen und Pfosten befestigt waren, wie bei uns Fahrräder. Und natürlich ist Hammerfest die Heimat der »Royal and Ancient Polar Bear Society«. Oder, wie man auf Norwegisch ganz niedlich sagt: Isbjørnklubben. Der kalte klubben beschreibt sich selbst am besten, deshalb zitiere ich ihn hier einfach mal wörtlich: »The idea was to create a unique memory for guests of the World’s Northernmost Town. The polar bear is our city’s coat of arms and was therefore chosen as the society’s logo. The strength of the polar bear reflects the willpower and survival skills necessary for living in the Arctic.« Und da ich einige Nächte im Van am äußersten Rand des Hafenbeckens von Hammerfest wohnte, lasse ich willpower and survival skills fortan die Skills-Liste meines Lebenslaufs anführen, das ist ja wohl klar. In solchen klubben verbringe ich die Wochenenden am liebsten.
Die Sodomisten unter meinen Leserinnen und Lesern werden enttäuscht sein. Der Titel war nur Clickbait, inspiriert von den Abgründen des heutigen Onlinejournalismus. Sorry! Natürlich habe ich nicht mit einem Rentier geschlafen. Zumindest nicht im romantischen Sinne. Und es war auch kein ganzes Rentier, sondern nur sein kostbares Fell.
Der Norden Skandinaviens hat mich aus vielerlei Gründen zu einem Fan auf Lebzeiten gewonnen. Das liegt aber nicht nur an der einmaligen Natur, sondern auch am Spirit sowie der besonderen Geschichte der dort lebenden Völker. Das Leben und die Kultur der Sami sind beispielsweise überaus beeindruckend. Und auch, wie sie bis heute im rauen Lappland überleben. Früher waren die langen kalten Winter ihre größte Herausforderung, heute ist es das kalte Gemüt unserer modernen Welt, das kein echtes und ehrliches Interesse mehr an Traditionen, Bräuchen und Identitäten hat. In Parks können Touristen das Leben der Sami noch als Kulisse bestaunen. Kinder dürfen mit Lassos auf Rentiere werfen, und abends wird ein Feuer angemacht. Leider ist alles nur eine Show. Wie der Rest der Welt auch. Willkommen in der Moderne.
Nach dieser kleinen Gesellschaftskritik, in der ich den Eindruck erweckt habe, als sei ich besonders tiefgründig und nachdenklich, tat ich im skandinavischen Winter so, als wäre ich ein Wikinger. Die Welt der wilden Nordmänner und -frauen samt ihren Mythen, Sagen und Göttern hat es mir angetan. Beim Fahren tauchte ich gern in Hörbücher ab, die anschaulich erzählen, wie nach dem Glauben der Wikinger die Welt entstanden ist. Das Spannende daran war, dass ich mit jedem Tag in dieser Kulisse des Nordens – und besonders zu dieser Jahreszeit – die Wikinger-Welt besser nachvollziehen lernte. Alle Traditionen, Mythen und Gestalten passten in diese Landschaft und andersherum wie die Faust aufs Auge.
Man kann sich denken, dass ich natürlich mehr als einmal im Wikingermuseum auf den Lofoten zu Gast war, um faktische Informationen zu erhalten und den Geist der Wikinger einzuatmen. Selbstverständlich waren die massiven Esstische, Kelche, Webstühle, Feuerstellen, Waffen und Livedarsteller in dem gigantischen Langhaus-Nachbau auch nur eine Show, aber ich war trotzdem hooked. Heute weiß ich, was mich damals in die Arme der Wikinger getrieben hat: In weiser Voraussicht darauf, dass ich bald lange bei konstant zweistelligen Minusgraden in einem mäßig isolierten Auto wohnen würde, begab ich mich auf die Suche nach meinem inneren Krieger. Und wer, wenn nicht die Wikinger selbst, hätten eine bessere Inspirationsquelle sein können, um mit stolz geschwellter Brust und viel innerer Ruhe kampfbereit meinem Schicksal entgegenzutreten? Für diesen Zweck kaufte ich mir keine Streitaxt, aber immerhin die mächtigste Waffe der Welt: Mjölnir. Hinter diesem schönen Namen, der so klingt, als wolle man nach zu vielen Hörnern Met noch ein weiteres bestellen, verbirgt sich der berüchtigte Hammer Thors. Mjölnir gilt dort oben als eine Art Kraftsymbol. Was ja auch Sinn ergibt, der Sage nach hatte das Ding einen gehörigen Wumms und hätte die ganze Welt zerstören können. Oder eben retten! So stark war … oder ist er. Vielleicht existiert er physisch ja noch irgendwo? Seine Symbolkraft kann jedenfalls heute noch Berge versetzen. Deshalb wollte ich mir unbedingt ein energiegeladenes Replikat am Rentierlederband um den Hals und vor die Brust hängen, wo seine Energie meine Lunge erhalten und beschützen sollte. Im Wikingermuseum fand ich ein tolles Exemplar, das durch seine Einfachheit besticht. Im Grunde ist es ein bronzefarbenes Stück Metall, das unten die typisch breite Hammerform Mjölnirs aufweist und oben einfach zweifach eingedreht ist, um sich solide am Lederband festzuhalten. Keine Ornamente, kein Prunk. Pure Mjölnir-Power ohne Schnickschnack. Als zusätzlichen Schutz für meinen rechten Lungenflügel, der ja vorwiegend defekt ist, fädelte ich rechtsseitig noch einen kleinen Thulite auf. Dieser wird auch der »rosa Stein Norwegens« genannt und symbolisiert Lebenskraft. Dass er dafür steht, fand ich erst später heraus, aber scheinbar griff ich instinktiv zum richtigen Stein.
Mein Mini-Mjölnir erwies mir treue Dienste. Gemeinsam zerschlugen wir nicht nur jede Form von Zweifel, sondern auch viele Angriffe von Kälte. Da es aber im Innenraum bei Nacht sehr kalt wurde, waren Mjölnir und ich Manns genug, um uns einzugestehen, dass wir noch jemandem im Team brauchten, um die arktischen Nächte souverän wegzulächeln. Es kam nicht selten vor, dass die Wand am Kopfende meines Bettes morgens ein Kunstwerk aus Eisblumen war, da meine Atemluft an ihr kondensierte und bis zum Morgen eingefroren war. Um Gas zu sparen, machte ich nachts immer meine Heizung aus. Ich stellte den Timer allerdings auf 6 Uhr, damit ich den Tag nicht aus dem Bett heraus in arktische Innenraumkälte starten musste. Leicht vorgewärmt, im einstelligen Gradbereich über Null, so mochte ich meine Morgenluft im Van.
Abgesehen von meinem Gasheizungswecker hatte ich zum Schlafen nur einen mehrere Jahre alten Schlafsack an Bord und eine weiße Decke. Ich weiß nicht mehr, woher ich sie hatte, aber sie war vom Schlag »günstige IKEA-Decke«. Eine, mit der man sich zu Hause auf der Couch im Sommer zudecken würde, wenn die kühle Abendluft Hallo sagt. Warum war mein Bett in diesem unpassenden Anti-Winter-Modus? Weil ich bei meiner Abfahrt, wie bereits erwähnt, nicht so weit vorausgedacht hatte. Doch die rettende Lösung lag quasi direkt vor mir. Sie lag in der Seele und in der Kultur Lapplands. Sie lag im Erbe der stolzen Sami. Sie lag an der Rezeption des einzigen Campingplatzes, der zu der Jahreszeit in der Gegend um Kiruna noch offen hatte: Camp Alta. Dort kaufte ich mein erstes Rentierfell. Im Grunde kann man da oben fast überall Rentierfelle kaufen. Mögen die meisten Sami-Farmen oft nur noch Show sein, geschlachtet wird dort wirklich noch. Neben den Fellen kann man alle Teile vom Rentier kaufen. Filet, Ragout, ganze Keulen, Burger, Organe oder Blut. Roh, geräuchert oder als Salami. Der nächste Supermarkt hat garantiert alles. Das gilt auch für Elche. Und andere gigantische Tiere, die ich hier noch nicht konkretisieren möchte.
So kam es, dass Mjölnir und ich eines schönen Frühwintertags ein Rentierfell in unserem Bett begrüßen durften. Die zweilagige Oberschicht aus Schlafsack und IKEA-Decke blieb bestehen, aber ich bettete mich fortan sprichwörtlich auf dem Rentierfell. Es war zwar nur etwas größer als halb so groß wie ich, aber das reichte vollkommen aus. Nach meiner ersten Nacht darauf fühlte ich mich meinem geliebten Norden noch näher und glaubte, den nordischen Geist noch besser verstanden zu haben. Dieses Fell strahlte Energie aus. Und zwar in Form einer unerklärlichen Wärme. Es gab mir nachts nicht nur meine entweichende Körperwärme zurück, sondern hatte zusätzlich die surreale Kraft einer kabellosen Heizdecke. Ich verstand, warum man in Lappland diese Tiere im wahrsten Sinne bis aufs Blut verehrt – und reihenweise umbringt. Ohne Rentiere hätte kein Mensch hier oben jemals überleben können. Vom Huf bis zum Horn wird aus sämtlichen Körperteilen Nützliches aller Art gefertigt. Doch der König aller nicht essbaren Teile ist definitiv das Fell. Leider hatte ich ein Fell gekauft, das günstiger war, für nur circa 120 Euro, aber dafür einen wichtigen Präparationsschritt nicht durchlaufen hatte. Die Sami können auf natürliche Weise die Felle so präparieren, dass die Haut geschmeidig bleibt und die Haare des Fells nicht abfallen. Ich kaufte eins ohne diesen Schritt. Daher war die Haut etwas steifer und die Haare gingen bedauerlicherweise in größerer Stückzahl aus. Nicht so stark, dass ich irgendwann morgens nur noch auf blanker Rentierhaut liegen sollte, aber immerhin so stark, dass sich die Haare überall im Van verteilten und ich ständig so aussah, als hätte ich einen großen weißen Hund an Bord. Damals hatte ich aber noch keinen Hund, sondern nur mit einem Rentier geschlafen. Danke, Rentier, dass ich seit deinem Einzug niemals mehr frieren musste! Nur das Löffeln mit einem lebenden Rentier hätte noch gemütlicher und noch skandinavischer sein können.
Wenn man dem arktischen Winter Norwegens trotzt, liegt es meistens daran, dass einige außergewöhnliche Belohnungen warten. Dazu gehören zum Beispiel das fantastische Nordlicht. Ein anderes lohnendes Winterphänomen sind die Orcas, die den besonders fetten und schmackhaften Heringen an den Küsten und bis in die Fjorde Norwegens folgen, vor allem rund um die Lofoten. Und ich wollte natürlich den Orcas folgen, um meine 17 Follower auf Instagram zu begeistern. Aber auch an intrinsischen Beweggründen mangelte es nicht, es war wirklich ein lebenslanger Traum von mir, einmal wild lebende Orcas in ihrem Element zu erleben.
Für Jahrzehnte galt der Ofotfjord als Garant für spektakuläre Sichtungen. Er liegt zwischen den Lofoten und dem norwegischen Festland und beheimatet die Bucht und den Hafen der Stadt Narvik, die als die letzte große Stadt des Festlands gilt, bevor man auf die Lofoten fährt. Von Narvik starten viele der Touren, um Orcas zu sehen. Da die Heringe in den letzten Jahren aber die Gewässer auf der Nordseite der Lofoten bevorzugten, ebbte der Trend merklich ab. An den nördlichen Zipfeln der Lofoten herrscht generell viel Waltourismus, da von dort auch die Touren für Buckelwale und Konsorten starten, zum Beispiel von Andenes, einem windigen Hafenstädtchen an der Spitze des nördlichsten Zipfels der Lofoten. Von dort stach ich bei meinem Disco-2-Trip 2018 in See, um Buckelwale zu sehen. Das hat ganz okay geklappt. Ein ikonisches Schwanzflossenfoto konnte ich danach abhaken.
Als Vanlifer oder sonstiger Reisender steht man, egal wo man gerade ist, irgendwie immer mit allen anderen Vanlifern und Reisenden im Austausch. Entweder direkt vor Ort oder via Instagram und Co. Mit Menschen, die das Gleiche vorhaben oder auch zufällig in der Nähe sind. Diese von guten Informationen strotzende On-und-offline-Gemeinde half mir damals dabei, einen ganz neuen, heißen Spot für Orca-Touren zu entdecken. Er lag nicht auf den Lofoten, sondern nördlicher. Auch nicht auf Senja, sondern noch nördlicher. Ein Eishockey-Bundesligaspieler und leidenschaftlicher Fotograf, mit dem ich auf Instagram irgendwie über das Thema Norwegen und Orcas zusammenfand, riet mir, Richtung Skjervøy zu fahren. An diesem neuen sweetspot sollten sich angeblich nicht nur die großen Heringsschwärme tummeln, sondern auch deren faszinierende Entourage: die hungrigen Orcas.
Vom Hafenstädtchen Skjervøy hatte ich zuvor noch nie gehört. Ich bin mir auch relativ sicher, dass ich es bis heute falsch ausspreche. Angeblich sagt man »Scherwoi«. Es gehört zu einer gleichnamigen Inselgruppe, die knapp 250 Autokilometer nördlich von der Perle des Nordens, Tromsø, liegt. Die Inselgruppe, auf der Skjervøy liegt, ist sehr typisch für die zerklüftete Natur der gesamten Westküste Norwegens – und besonders für diesen Teil im Norden. Man verlässt bei der Anreise die Hauptschlagader des Nordens, wie ich die E6 gern nenne, und folgt einer kurvigen Landstraße über zwei lange Brücken bis auf die Insel Skjervøya, wo wenig überraschend auch Skjervøy liegt.
Mein Erscheinen beim hiesigen Orca-Bootstouren-Anbieter hatte ich bereits telefonisch angekündigt. Mit jedem Meter, den ich näher kam, stiegen Aufregung und Neugier. Leider war das Wetter schlechter als erwartet, und die Touren wurden gecancelt beziehungsweise verschoben. Bei rund -20 °C (durch den Meereswind gefühlt deutlich kälter) wollte man in einem kleinen Schlauchboot auf arktischer See kein Risiko eingehen. Außerdem pausierte die Crew, da wenige Tage zuvor ein Mann auf einem Bootstrip gestorben war. Nebst der Orca-Bestaunung vom Boot aus können abenteuerlustige Menschen auch in Neoprenanzügen und per Schnorchel den schwarz-weißen Walen ganz nah sein. Doch trotz dickem Neopren wurde einem vorerkrankten Schnorchler die Extremkälte zum Verhängnis, und er erlitt auf See einen Herzinfarkt. Er starb noch auf dem Boot.
Von der Schnorchel-Option wusste ich vorher nichts. Ich war von dem tragischen Ereignis schockiert und gleichsam angetan von der Möglichkeit, diese Tiere direkt in ihrem Element erleben zu können. Orcas selbst sind nicht gefährlich. In freier Wildbahn liegt ihre »Killer«-Rate von Menschen ziemlich bei null. Trotzdem verursachte mir der bloße Gedanke, neben ihnen zu schnorcheln, positiven Angstschweiß. Ein großer Teil von mir wollte diese Erfahrung wirklich machen, wenn ich schon mal hier war.
Da ich sowieso ständig telefonisch mit dem Anbieter in Kontakt stand, um zu wissen, wann die verschobene Tour stattfinden würde, fragte ich die Schnorchel-Option an. Zum Glück war ich vernünftig genug, offen und ehrlich von meiner zurückliegenden Lungen-OP zu erzählen. Daraufhin beschlossen wir gemeinsam, dass es keine gute Idee wäre.
Da ich einige Tage zu überbrücken hatte, suchte ich mir einen Parkplatz neben dem Fähranleger auf der Nachbarinsel und wartete dort. Ich wollte in der Nähe sein, sobald grünes Licht kam, und hatte eh noch Arbeit zu erledigen. Also drückte ich kurz später meine Reifen in den gefrorenen Schnee der hinterletzten Parkbucht auf dem Parkplatz, um als Wildcamper nicht aufzufallen. Allerdings brachte mich der hinterste Parkplatz von insgesamt fünf Stück nicht wirklich in eine Position, die außerhalb des Blickfelds der Fährcrew, der Gäste oder der Polizei lag. Und mein Orange-Metallic-Lack ging zwischen all dem Schnee und Eis sowieso nicht unbedingt als Camouflage durch. In der Winterzeit in Nord-Norge, wie wir Einheimischen sagen, fiel mir allerdings regelmäßig auf, dass man im Grunde überall parken durfte. Es schien fast so, als hätte man sich das Wildcampen durch die bloße Tatsache, dass arktischer Winter herrschte, irgendwie verdient. Was in der Logik der lokalen Bevölkerung vermutlich so klingen würde: »Lasst die paar Vollidioten, die hier jetzt noch Abenteurer spielen wollen, doch parken, wo sie wollen! Hauptsache, sie nerven nicht und machen keinen Müll.« Dank dieser toleranten Einstellung parkte ich circa fünf Nächte dort und wartete auf meinen großen Einsatz. Es war nur ein schnöder Fähranleger, aber ich fühlte mich gesegnet. Mein »Office« gab aus allen Fenstern den schönsten Blick frei auf dunkelblaues, manchmal fast schwarzes Nordmeer vor perlweißen Bergen unter oftmals blauem Himmel. Ein paar wenige Male setzte ich zu einer Winterwanderung rund um meinen Van an, aber da dort keine Wege waren, kam ich selten weit. Ich versank meist bis zum Oberschenkel im Schnee und verlor dann schnell die Lust. (Merkliste: Schneeschuhe kaufen!)
Am fünften Tag war es dann endlich so weit. Ich wurde für 8 Uhr morgens am Folgetag zum Headquarter des Tourenanbieters bestellt. Im engen Hafenviertel, das fast nur aus aufgeschobenen Schneebergen bestand, fand sich nur schwer ein Parkplatz. Leicht verspätet betrat ich das Gebäude, in dem bereits hektisches Treiben herrschte. Viele Stimmen und Sprachen kreuzten sich, und ein muffiger Hauch von nassem Neopren lag in der Luft. Ich wendete mich an eine Person, die einen Pullover des Anbieters trug, und meldete mich an. Alles top, ich war noch rechtzeitig und mein Platz gesichert. Dann bekamen wir eine kleine Einführung in die essenziellen Themen wie Orcas, die arktische See sowie Sicherheit an Bord.
Obwohl das Thermometer mollige -12 °C zeigte und die Sonne »schien«, hatte ich mehr Kleidungsstücke an als jemals zuvor in meinem Leben. Ich entschied mich für ein alternierendes System aus feinstem Goretex-Outdoor-Hightech und bewährten Naturklassikern wie Merino- und Baumwolle. Am Telefon wurde mir vorab bereits gesagt, dass wir durchaus bis zu sechs Stunden auf dem windigen Schlauchboot sein könnten, auf dem man bewegungslos in der Kälte warten würde. Und der Wind könnte aus den -12 locker gefühlte -25 °C machen.
Da ich während des länger als gedacht währenden Aufenthalts im Innenraum des Headquarters schon die ersten zwei bis drei Schichten meiner arktischen Textilzwiebel durchgeschwitzt hatte, war ich froh, dass wir vom Anbieter noch einen soliden Profi-Onesie bekamen, den man zusätzlich überziehen konnte. Wow, was für ein Upgrade! Der massive und schwere Anzug sah aus, als könnte er Tausende Polarexpeditionen bestehen. Dem Geruch nach hatte er das auch. Dennoch war ich sehr froh über das professionelle Finish.
Kurze Zeit später wankten wir säuberlich aufgereiht mit kleinen Schritten in unseren Sumokostümen zum Schlauchboot und stiegen unelegant ein. Das Boot bot Platz für etwa zehn Gäste und drei Crewmitglieder. Ein Crewmitglied war Kapitän, eine junge Frau stand als Spotterin am Heck, und ein sehr junger Winterferien-Jobber fungierte als Springer zwischen beiden und bespaßte uns. Als Gast auf diesem Schlauchboot konnte man weder richtig stehen noch richtig sitzen. Freies Stehen wäre sicherlich zu gefährlich gewesen, aber warum traditionelles Sitzen als Option ausfiel, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls stand-saßen wir alle jeweils einzeln auf einer Art Plastikhocker. Als ob man auf einem Pferd säße, nur ohne Pferd. Die Beine waren weder angewinkelt noch durchgestreckt, irgendwas dazwischen. Die zehn Hocker waren so vor- und nebeneinander angebracht, dass man seine Beine und Füße im Grunde nicht bewegen konnte. Um die Landschaft zu genießen und nach Orcas Ausschau zu halten, blieb nur das Torsodrehen, bis die eigene Beweglichkeit oder die Zwiebelschichten einem ein Limit setzten.
Es war arschkalt, als wir den Hafenbereich verließen und bei gefühlten Trockeneistemperaturen über die zum Glück nur mäßig hohen Wellen des eisigen Fjords bretterten. Wir hielten zunächst Kurs auf den Bereich zwischen drei Heringskuttern. Die Crew stand in regem Austausch mit zwei anderen Schlauchbooten. Alle warteten gemeinsam auf ein Zeichen. Die arktische Landschaft war so atemberaubend, dass man oft vergaß, dass das eigentliche Highlight noch ausstand. Da die Wintersonne selten über die uns umgebenden Berge wanderte, hatten wir stundenlang golden hour. Das war wirklich grandios. Ringsum weiß-gelbe Berge. Wir beobachteten die Heringskutter, die zu Flugzeugträgern für scharf fliegende Möwen wurden. Und endlich! Aus dem Funkgerät lärmte aufgeregtes Norwegisch, dann rief jemand etwas Englisches und plötzlich machte das Schnellboot seinem Namen alle Ehre. ›Hoffentlich sind meine tränenden Augen wieder aufgetaut und funktionstüchtig, wenn wir bei den Orcas ankommen!‹, dachte ich mir, während mein tiefgefrorener Beckenknochen rodeoähnliche Erfahrungen auf dem harten Plastikpferd machte. Und ja, natürlich waren alle Strapazen und das lange Warten völlig nichtig und klein, als vor uns die gigantische Rückenflosse eines männlichen Orcas auftauchte. Die rund 1,80 Meter hohe Flosse bewies, warum sie auch Schwertwale genannt werden. Ich würde ja Ninja-Delfine bevorzugen, aber das wirkt irgendwie zu unseriös. Oder Schwimm-Pandas. Auf jeden Fall ist alles besser als der Ausdruck Killerwal. Das ist Gaslighting par excellence. Ein Tiger ist ja auch keine Killerkatze und ein Adler kein Killervogel, obwohl statistisch betrachtet vermutlich sogar Adler mehr Menschen töten als Orcas.
Das riesige Männchen schwamm zielstrebig und majestätisch seines Weges direkt an uns vorbei und scannte den Fjord nach Heringen ab. Ich erinnere mich noch gut daran, wie man seine Anwesenheit spüren konnte. Seine Präsenz war energetisch greifbar. Seine Aura verschmolz mit den jubelnden Rufen der Menschen, die ihm huldigten. Ich fummelte hastig mein iPhone aus der Innentasche meiner dicken Winterjacke, die direkt unter dem Polar-Onesie lag, und entriegelte den Touchscreen mit meiner Nasenspitze. Dann gab ich ebenfalls mit meiner Nasenspitze den Code ein und schoss Fotos über die Lautertaste. Ohne Handschuhe schaffte ich es nach vier Stunden auf dem Boot nicht mehr, und meine Finger waren für die Sony-Kamera ohnehin schon viel zu steif. Aber besser Handyfotos als gar keine Bilder. Nach dem Männchen tauchte eine Gruppe jagender Weibchen auf, die in Formation schwammen und die Heringe einkesselten. Zeitgleich brach sich die Sonne goldgelb und orangefarben am Gipfel eines Berges. Geistesgegenwärtig schob ich mit meiner tauben Nase auf Video-Mode und fing diesen malerischen Moment als Bewegtbildkonserve ein. Nach diesen sehr nahen Begegnungen sahen wir weiter weg noch einige Flossen und Rücken auftauchen, hörten und sahen viele impulsive Ausatmer, dann fuhren wir glücklich zum Hafen zurück.
Dank Adrenalin und aller existierenden Glückshormonen grinsten wir alle und vergaßen, wie durchgefroren wir waren. Ich kann nicht für jede und jeden an Bord sprechen, aber ich war, ohne es direkt zu merken, an mein absolutes Kältelimit gestoßen. Das Aussteigen vom Motorboot und das Erklimmen des etwas höher gelegenen Stegs wurden zur Herausforderung. Wie Uma Thurman in Kill Bill musste ich meine Beine für jede Bewegung anschreien.
Von der Hüfte abwärts war ich nur noch TK-Ware. Auf dem Steg tat ich so, als wollte ich noch ein bisschen die Natur bewundern, doch ich konnte einfach nicht mehr laufen. Ich muss ausgesehen haben wie eine dieser Hartplastik-Cowboy-Spielfigürchen mit den markanten O-Beinen, die man auf Spielzeugpferde klemmt. Beim Versuch, geradeaus zu laufen, imitierte ich John Wayne nach seiner vierten Darmspülung. Dennoch erreichte ich nach einer Weile das Headquarter meiner Peiniger und trat ein. Es roch nach Schweiß auf Neopren und heißer Tütensuppe. Der Geräuschpegel war enorm. Ich war leider auf einer ganz anderen Wellenlänge. Ich wollte das Erlebte in Ruhe verarbeiten und mich dabei maßlos vollfressen. Also machte ich postwendend kehrt, watschelte zum Van und fuhr einige Kilometer zum nächsten Supermarkt. Ich hatte Hunger! Mein Körper lechzte nach allem, außer Tütensuppe. Ich kochte mir einen heißen Kaffee und fraß wie ein Orca. Ich schwamm offenen Mundes durch einen Schwarm aus skandinavisch inspirierten Sandwiches.
Das Catogården ist ein wunderschönes historisches Holzgebäude in Reine auf den Lofoten. Ein Gebäude, das so perfekt in diese Szenerie zwischen Bergen und Fjorden passt, dass es beinahe nicht wirkt wie von Menschenhand errichtet. Es steht unweit des berühmten Reinebringen. Die Aussicht aus allen Fenstern ist besser als jedes Fernsehprogramm.
Schon 2019, nicht lange nach der Eröffnung, waren alle Gästezimmer liebevoll und individuell gestaltet. Im Erdgeschoss befinden sich die Rezeption, eine kleine Küche, ein Yogaraum mit Rundumblick und ein gemütliches Kaminzimmer. Der Yogaraum dient auch als Kinosaal. Wir schauten dort eines Abends auf einer großen Leinwand einen meiner Lieblingsfilme, Captain Fantastic, an, und genossen gemeinsam die Emotionen, die Tränen und die Erkenntnis, dass es Filme gibt, die man nicht missen will, auch wenn wir als Menschheit insgesamt viel, viel, viel zu viel Zeit vor Bildschirmen verbringen.
Irgendwie wurde das Hotel & Guesthouse Catogården zu meinem arktischen Hotel California, denn es sollte sich bereits nach der ersten Nacht so anfühlen, als ob I could never leave. Ich fuhr Ende November 2019 hin, weil meine Beelzebus-Freunde dort waren, zwei Vanlifer aus Schweden, die im Garten des Catogården parkten. Björn half bei der Renovierung – er ist eine Art Handwerksgenie – und seine Freundin Katja ging währenddessen im Van ihrer digitalen Arbeit nach. Als Björn mich einlud vorbeizukommen, um die beiden nochmals zu sehen, berichtete er mir bereits von der Magie dieses Orts und von den besonderen, leicht verrückten Menschen, die dort wohnten. Das waren einige Workaway-Helferinnen und -Helfer sowie die außergewöhnliche Runhild Olsen, aka Queen Runhild, die die nordische Oase am Fjord betreibt und managt. Runhild ist Yogalehrerin, Schauspielerin, Sängerin, Business-Frau und vieles mehr. Sie wohnt im obersten Stockwerk, unter dem großen Dach, wo sich auch das Gemeinschaftswohnzimmer samt Küche befindet, inklusive grandiosem Balkon mit unvergleichlichem Ausblick. Dieser Balkon sorgte für den einzigen Moment und war der einzige Ort, an dem ich ganz kurz das Rauchen vermisste. Ich hatte früher auf vielen Balkonen geraucht, aber auf so einem gewiss noch nicht. Zum Glück bin ich viel zu gern Nichtraucher. An Winterabenden blickt man von dort oben auf ein Meer aus Dorflichtern sowie auf wunderschöne, schwarz-weiße Schneeberge. Oftmals flog Nordlicht vorbei. Ich blieb trotzdem Nichtraucher!
Runhild wohnte nicht allein unterm Dach, sondern mit ihrem Sohn, Sverre. Sverre ist die Vermenschlichung von Energie. Er war damals 15 Jahre alt und konstant auf der Suche nach seiner nächsten Aufgabe, seinem nächsten Streich, seiner nächsten Leidenschaft und dem nächsten Kostüm. Sein zeitloses Cowboy-Ritter-Ensemble oder sein ebenso funktionales wie schickes Wikinger-Feuerwehrmann-Outfit werde ich nie vergessen. Manchmal trug er auch einfach nur eine große norwegische Flagge und einen Säbel. Sverre litt an einer Kondition, die wir gemeinhin als »behindert« einstufen würden. Aber manchmal, wenn ich diesen Kerl beobachtete, der fast nur aus Herz und Energie bestand, fragte ich mich, ob nicht eher wir alle behindert waren und er in bester Verfassung. Er konnte keine klaren Worte artikulieren, aber man sprach ihn auf jeder nur erdenklichen Sprache an, und er wusste immer, was man wollte. Nur Runhild, seine Mutter, verstand jeden seiner Laute und sie redeten oft. Jedoch meist auch sehr körperbetont durch viel Kuscheln und Zuneigung. Was für ein Duo!
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich zum ersten Mal die steile Auffahrt zum Catogården hinauffuhr und meine norwegischen Winterreifen mit Spikes stellenweise im Eis-Schneematsch-Gemisch durchdrehten. Ich freute mich, den Beelzebus wiederzusehen und konnte mich schnell mit den anderen Prisoners of their down device anfreunden, da sie alle entspannt, lieb und sehr interessant waren. Schon am ersten Tag wurde ich in den besonderen Bann gezogen, den Runhild und ihr Catogården ausstrahlten. Und alle, die dort wohnten, gaben diese Energie ebenfalls weiter. Ich befand mich mitten in einer Art spirituellem Pyramidensystem. Ich schlief während meines mehrwöchigen Aufenthalts im Van, durfte drinnen Strom anzapfen und teilte meine Tage fortan so ein, dass ich sowohl meiner nervigen Arbeit nachgehen als auch beim Renovieren und Abreißen helfen konnte. Wir kochten gemeinsam, tranken gemeinsam, saßen am Kaminfeuer und redeten oft stundenlang. Unsere Gespräche waren tiefer als so mancher nordische Neuschnee und oft so herzlich, dass jener sofort schmelzen würde. Ich liebte das Phänomen, das ich bei vielen Gesprächen mit anderen Menschen unterwegs erleben durfte, die ebenfalls im Van oder sonst wie außerhalb der Norm lebten: Es gab kein Nein. Kein Falsch. Kein »Schwachsinn!«. Es gab kein kategorisches Abschmettern von Ideen, Weltanschauungen, Aussagen oder Träumen. Es gab nur Austausch auf Augenhöhe und gegenseitiges Ernstnehmen. Und wenn man anderer Meinung war, stellte man das nicht in den Vordergrund, sondern fragte nach, woher die Idee, Haltung oder Meinung der anderen Person komme. Im Grunde war es nichts anderes als das kleine Einmaleins der respektvollen Kommunikation, aber in der heutigen Zeit findet man solche zwischenmenschlichen Diamanten leider immer seltener. Oftmals ist vielen Menschen die eigene Meinung das höchste Gut, das es mit Fackeln und Mistgabeln zu verteidigen gilt.
Viele gute Roadtrips starten am Catogården, auch etliche spirituelle Reisen. Ich genoss jede Sekunde an diesem besonderen Ort mit diesen besonderen Menschen. Selbst als Björn und Katja abreisten, blieb ich noch. Bis dato verharre ich noch sehr oft in Erinnerungen, Emotionen und spirituellen Ebenen, die ich dort erfahren durfte. Ich denke, I checked out any time I liked, but I could never leave.
Ich war sogar plötzlich in einer Band! Wir schenkten Alex einen Song zum Abschied. Allerdings spielte ich nur den schüchternen Rhythmus-Frosch, schrieb aber maßgeblich an den Lyrics mit. Zusammen mit unserem spanischen Guitarrero und Lead Singer, Joan. Das Video entstand last minute auf dem Handy.
In einer Band sein? Check! Typisch Vanlife.
Triggerwarnung an so ziemlich alle Menschen, die nicht aus Norwegen, Finnland, Japan oder von den Färöer-Inseln kommen.
Skandinavien umgarnte mich auf allen meinen dortigen Reisen mit der besonderen Aura der nordischen Kultur. Ich wollte, wie die Skandinavier, wild sein, jagen, sammeln und die Natur zur Quelle meiner Energie machen. Sowohl mental als auch physisch. Dass ich dabei scheiterte, habe ich bereits beim Angelthema erzählt. Und auch jetzt möchte ich ehrlich kommunizieren, wozu mich diese nordische Lebensart noch verleitete.
Eines Tages betrat ich mit ein paar Freunden auf den Lofoten ein schickes Fischrestaurant, das den Ruf genoss, die besten Lachsburger nördlich des Polarkreises zu servieren. Die Burger-Gang bestand aus Queen Runhild und ihrem Sohn Sverre sowie Alex, Zaneta, Katja und Björn. Das Restaurant war recht neu gebaut. Es bestach mit einem betörenden Duft aus der Küche, mit massiven Holzbalken sowie mit riesigen Fenstern, durch die viel Licht fiel und die einen guten Blick auf den angrenzenden Fjord und die Berge boten. An den Wänden hingen Hunderte Fischschädel mit aufgerissenen Mäulern, und unter der hohen Holzdecke schwebte ein gigantischer Kronleuchter, der ebenfalls mit Fischköpfen bestückt war.
Wir nahmen direkt unter dem leuchtenden Fischfriedhof Platz und orderten Lachsburger. Entgegen der himmlischen Preisung fielen sie eher in die Kategorie »okay« als in den Bereich »die Besten«. Doch ich war mit der Gesamterfahrung des kleinen kulinarischen Trips in die geschmackliche Welt der Lofoten trotzdem zufrieden. Satt und glücklich, aber innerlich weiter suchend, stöberte ich noch ein wenig im restauranteigenen Fischladen, der allerhand kuriose Kostbarkeiten bereithielt. Typisch für die Region, waren alle essbaren Fischexponate auf irgendeine traditionelle Art und Weise haltbar gemacht worden, also gebeizt, geräuchert oder luftgetrocknet. Und plötzlich erblickte ich etwas in der Auslage, das mich auf vielen Ebenen berührte. Eine seltene Mischung aus Entsetzen, Neugier und Hunger überkam mich, als ich die faustgroßen, geräucherten Stücke Walfleisch entdeckte. Ich verurteilte es nicht, ich empfand Verständnis. Nachdem ich selbst einige Wochen im arktischen Winter zugebracht hatte, erschien es mir nur logisch, dass man hier früher zu dieser Jahreszeit nicht überleben konnte, ohne auch den Wal in seinen Speiseplan zu integrieren. Sowohl wegen seines nährstoffreichen Fleischs als auch wegen der wertvollen Fette, die nicht nur für die Ernährung, sondern auch für viele andere Zwecke essenziell waren. Heutzutage kann man im Winter einfach in den Supermarkt gehen und alles kaufen, was man braucht, aber eigentlich ist doch gerade der lokale Bezug von Nahrungsmitteln voll angesagt, oder? Bei uns sind es Rinder, Schweine, Hühner und ein paar Sorten Wild, in Norwegen sind es eben Wale. Und im kalten Winter hat das Fangen eines Wals für ein Dorf bestimmt einst über Leben und Tod entschieden. Meine Neugier war jedenfalls geweckt – auch wenn ich dabei wehmütig an meine schönen Walsichtungen denken musste. Dennoch kaufte ich zwei Stücke, um zwei Dinge herauszufinden: 1. Wie schmeckt Walfleisch? 2. Was macht es mit mir, wenn ich es esse?
Ich behielt das Walfleisch für einige Tage im Van und rührte es nicht an. Erst als ich einige Zeit später meinen Rucksack packte, um mit Alex und Joan zum berühmten Segla auf Senja zu wandern und zu klettern, packte ich es ein. Irgendwie schien mir dieser Kontext gerecht und passend. Wo, wenn nicht an einem der ikonischsten Orte Norwegens, sollte ich das Fleisch verkosten? Wir kamen nach dem Aufstieg auf dem zugeschneiten Plateau an, von dem aus sich der berühmte Segla wie ein Denkmal zum Himmel reckt. Es war kalt, aber wir zogen unsere Jacken aus, um nach dem anstrengenden Aufstieg in die kalte Winterluft zu dampfen. Ich setzte mich auf einen kleinen Felsen und hatte den Segla genau vor mir. Außerdem hatte ich Hunger. Der Moment, der kurz darauf folgte, ist bis heute mein norwegischster Moment. Dazu muss ich erwähnen, dass ich mir 2018, bei meinem Disco-2-Trip, eine Messermanufaktur an der Westküste ausgeguckt hatte, wo ich mir den Traum von einem handgefertigten norwegischen Taschenmesser erfüllte. Dazu besuchte ich den kleinen Betrieb, der sprichwörtlich direkt am Fjord liegt, und wühlte stundenlang in den Regalen des Fabrikverkaufs. Ich fand ein tolles Klappmesser, dessen Schaft aus norwegischer Birke gefertigt ist. Bis heute begleitet es mich auf allen Wanderungen und bei anderen Pseudo-Überlebenseinsätzen in freier Wildbahn. Auch bei diesem Trip war es dabei. Und bei aller verständlichen Kritik, die man als Außenstehender äußern kann, lag in dem Moment etwas sehr Schönes und Harmonisches: als ich mit meinem norwegischen Messer, am Segla sitzend, eine Scheibe geräuchertes Walfleisch abschnitt, wo es natürlich nichts anderes machen konnte, als zu schmecken. Segla, Messer, Walfleisch, Winter – in diesen vier Komponenten vereinten sich alle meine großartigen nordischen Erfahrungen der letzten Monate und Jahre.
Wir aßen zusammen und staunten andächtig. Dann zogen wir spontan Regenhosen über, weil der gesamte Schnee auf dem Berg überfroren war, und rutschten mehrere Hundert Höhenmeter auf unseren Hintern gen Tal. Joan hatte zwar keine Regenhose, aber seine graue Jogginghose, die sehr elegant mit seinen profillosen Leder-City-Boots harmonierte, wies erstaunlich gute Rutscheigenschaften auf. Dieser verrückte Mann aus Valencia bewies mehrfach, dass es nicht unbedingt auf die Kleidung ankam, sondern auf den reinen Willen und die pure Freude am Tun.
Auf diesem Trip verlieh Joan meinem Tisch auch das besondere Axt-Finish, das manchmal Getränke zu Fall bringt. Wir mussten Feuerholz für einen Senja-Grillabend machen und seine große Motivation ließ ihn aus Versehen schon im Van damit anfangen, als er die Axt aus der Halterung nahm.
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