Der Tag, an dem ich fast meinen Van in die Luft gejagt hätte

Die Geschichte ereignete sich im April 2020 in Portugal, als ich bereits seit knapp acht Monaten Vollzeit im Van lebte. Doch ich erzähle sie bewusst zu Beginn des Buchs, denn wäre sie nur ein wenig anders verlaufen, wäre ich gar kein Vanlifer mehr. Ich wäre zwar vermutlich noch alive, aber ohne Van. Und somit auch ohne Van-Freundin, Van-Hund und genug Van-Erlebnisse für ein Buch, das von fünf Jahren im rollenden Nomaden-Kfz erzählen soll. Neben der generellen Entscheidung, in den Van zu ziehen, war es der zweitwichtigste Moment, in dem mir das Universum seinen Segen gab.

Bevor ich jetzt fast ohne weiteren Kontext in diese Puls erhöhende Geschichte einsteige – der Kontext folgt dann später noch –, möchte ich wenigstens kurz die Location vorstellen, an der sich alles zutrug: Praia do Malhão ist ein wunderschöner Strand- und Klippenabschnitt an der Südwestküste Portugals. Ich stand hier im April und Mai 2020 für einige Wochen auf einem großen Schotterparkplatz. Nicht ganz legal, doch überwiegend geduldet. Eigentlich ist wildes Campen da verboten, aber wenn man sich ordentlich benimmt, geht das schon klar. Außerdem war off-season. Es parkten dort viele Camper aus diversen Ländern. Manchmal zehn, manchmal 20, manchmal 30. Eine bunte Mischung von jungen bis alten Exemplaren – bei den Fahrzeugen ebenso. Manche sahen so aus, als wäre der TÜV längst überfällig – bei den Fahrzeugen ebenso.

Etwa drei Kilometer abseits des großen Schotterparkplatzes schlugen ein paar wilde Menschen zwischen 27 und 63 Jahren eine Art »Hippie-Camp« auf, das ich nachfolgend auch so nennen werde. Es lag mitten im Dickicht und war ohne Geländewagen nicht zu erreichen. Seine Bewohner waren moderne Hippies mit ansehnlichen Land Rovern, aber ohne Schuhe oder Ambitionen für Frisuren oder ein geordnetes Leben. Eines Abends kamen sie zum Sonnenuntergang auf den Schotterparkplatz bei den Klippen. Meine Vannachbarn Lisa und Pascal kannten die Gang schon. Ich saß in der offenen Schiebetür, nuckelte an einem eiskalten Sagres und beobachtete das Treiben. Sie deuteten in die Ferne, gestikulierten und erzählten Geschichten von UFO-Sichtungen der lokalen Anwohner im rot- bis lilafarbenen Abendhimmel, der mit seinen gewaltigen Wolken und dem Farbenspiel ohnehin schon wie ein Tor zu einer anderen Welt aussah. Sie diskutierten hörbar über die UFO-Storys. Nicht etwa, ob sie wahr waren, sondern darüber, wie und woher die Besucher gekommen sein mögen. Genau so etwas liebe ich. Genau so etwas brauchte ich in dem Moment. Unter anderem deshalb hatte ich mein normales Leben, dem es zunehmend an fantastischen Geschichten und Dimensionen fehlte, hinter mir gelassen. Ich sehnte mich nach barrierefreien Unterhaltungen, nach mehr Fantasie, nach Lagerfeuergeschichten und offenen Gesprächen ohne »Neins« und »Abers«. Während ich der schuhlosen Nomadenkommune beim Philosophieren zuhörte, murmelte ich eine ikonische Zeile vom zeitgenössischen Autor und Filmemacher Tom Gerhardt vor mich hin: »Endlich normale Leute!«

Wir freundeten uns an jenem Abend an und verbrachten fortan viel Zeit zusammen. Zumeist saßen wir im entlegenen »Hippie-Camp«, doch Tahar besuchte mich ganz gern auch mal vorne, in der Zivilisation. Zum Quatschen, Kaffeetrinken, Kochen oder Schlauchbootfahren. Tahar ist Marokkaner, lebte lange in Deutschland und ist immer für eine Überraschung gut. Im Camp lebten außerdem noch Luca und seine spanische Freundin mit Sonnenallergie sowie ein älterer Mann, den alle nur »Onkelchen« nannten. Neben seiner Aura verrieten auch die Länge und Konsistenz von Bart und Haaren, dass er bereits ein Hippie war, als die Hippies erfunden wurden. Er besaß nur eine dünne Isomatte und ein Päckchen Tabak – abgesehen von Tausenden interessanten Geschichten.

So viel zum Setting, jetzt folgt die Story: Es erblühte, wie jeden Morgen, ein schöner neuer Tag am Praia do Malhão. Die Sonne lachte und der Wind wehte sanft. Das anbrandende Meer unterhalb der nahen Klippen rundete das kostenlose Mental-Spa auditiv wie olfaktorisch ab. In den benachbarten Vans zeigte sich langsam ebenfalls die erste Lebensfreude am noch frischen Tag. Auch heute wollte ich meinem etablierten Startritual nachkommen und einen großen Becher Kaffee auf dem schönen Holzgeländer sitzend an den Klippen trinken, von wo aus man Strand, Meer und Horizont bestens bestaunen konnte.

Ich hatte gerade die Flamme am Gasherd unter meinem Edelstahl-Mokkakännchen entzündet, als vor meiner offenen Schiebetür ein großer silberner Berg hielt. Die abrupte Bremsung verursachte einige Staubschwaden, die wie künstlicher Bühnennebel über die Szenerie waberten. Es war Tahar mit seinem silbermetallicfarbenen Land Rover Discovery 3. Ich hatte keine Ahnung, wo er so früh morgens schon herkam. Jedenfalls nicht aus Richtung des Camps, denn das lag hinter meinem Van. Er sprang heraus und legte wieder mal mehr Energie an den Tag als jeder andere Mensch um diese Uhrzeit. Sein breites Grinsen passte gerade so durch meine Schiebetür: »Oliiiiii, Maaaann, was geht, Junge? Auch schon auf oder was?« Ich nickte und erzählte ihm von meiner Vorfreude auf den werdenden Kaffee. Doch Tahar hatte bereits andere Pläne: »Ach was, komm mit ins Camp. Ich nehm dich mit! Wir frühstücken dort alle zusammen.« Nach einem kurzen Austausch von Kontra-Argumenten, wie zum Beispiel meiner anstehenden Arbeit, sah ich ein, dass Tahar eh nicht lockerlassen würde und dass ein Frühstück unter sympathisch Verrückten auch ein guter Start in den Tag sein könnte. Also sprang ich aus meiner Tür, schob sie zu und verriegelte den Van beim Einsteigen in Tahars Auto per Fernbedienung. Ich freute mich aufs Camp, auch wenn ich mich auf der Fahrt irgendwie so fühlte wie Kevin McCallisters Mutter in den ersten Minuten im Flieger. Für Ablenkung von meinen unguten Gedanken sorgte eine mir fremde junge Frau auf dem Rücksitz, die von ihrer Entscheidung, mit ins Hippie-Camp zu kommen, offensichtlich nicht so angetan war wie ich. Ich glaube, sie war Holländerin und parkte am anderen Ende des großen Parkplatzes. Ich hatte sie jedenfalls noch nie gesehen. Tahar konnte eben gut überzeugen.

Tahars Disco-3 wühlte sich durch die hellbraune, tiefsandige Piste, die mittig ihren braungrünen Irokesen-Grasstreifen zur Schau trug. Hier hinten waren alle Anarchos und Alternative, sogar die Feldwege. Am Camp angekommen, nahmen wir rund um die Freiluftkochstelle Platz und entspannten uns unter dem Einfluss der wohligen Benzindämpfe des uralten Benzinkochers, dessen gelber Originallack wie Inseln in einem Meer aus Flugrost schwamm. Das Camp stand neben Benzindämpfen noch unter anderen Einflüssen, aber bei mir waren es lediglich diese. Die Stimmung war wie gewohnt locker, skurril und irgendwie völlig losgelöst vom Rest der Welt. Das Wort »Camp« ist vielleicht ein wenig hochgegriffen. Im Grunde waren es nur drei geparkte Autos, um die sich im Radius von etwa fünf Metern diverse Campinggegenstände ohne erkennbare Ordnung verteilten. Aus der Vogelperspektive hätte es vermutlich wie ein früher Jackson Pollock ausgesehen. Nur die Kochstelle im Zentrum ließ sich als solche erkennen. Ich saß, ich schaute, ich genoss, ich lachte, während der duftende Kaffee im Zentrum der Runde blubbernd in seiner Entstehung begriffen war. Damit wir nicht nur schnöde herumsaßen, überprüften wir zwischendurch mit einem Stock den Gesundheitszustand einer durchaus großen, aber regungslosen Schlange im Gebüsch neben der »Küche«. Wir alle, einschließlich des Stocks, kamen zu dem Schluss, dass sie tot war. Komisch, sie sah so intakt aus. Vielleicht hatte sie irgendwo im Lager LSD-Kontakt, sah danach zu viele pinke Mäuse und hatte auf der wilden bunten Jagd ihr kleines Schlangenherz verausgabt.

Bei einer vollmundigen Tasse Benzinkocher-Kaffee erzählte mir Onkelchen von seinen ersten, leicht überdosierten LSD-Trips mit Anfang 20 und was ihm seitdem die alten Veden in Sanskrit bedeuteten. Ich höre gern zu und genoss seine Erzählungen; eine perfekte Achtsamkeitsübung, um die Zeit zu vergessen. Doch gerade, als wir uns darauf verständigen wollten, dass die Sonne so etwas wie ein Gott für uns Menschen sein könnte, fuhr mir urplötzlich eine andere Erkenntnis in derart hoher Dosierung durch den Körper, dass mich sogar Timothy Leary zur Mäßigung gemahnt hätte. Ich sprang auf, als ob die Schlange von den Toten zurückgekehrt wäre, und rannte zu Tahar: »Fahr mich zurück! Sofort! Ich muss zum Van! Fuck!«

Tahar saß im Gras, blickte fragend von seinem Longpape auf und forderte mit dem eindringlichen Glanz seiner großen dunklen Augen wortlos einen guten Grund von mir ein, warum ich ihn so plötzlich aus seiner Idylle reißen wollte. »Ich hab noch Kaffee auf dem Gaskocher! Meine Flamme im Van ist an! Der explodiert gleich!«, rief ich. »Bist du sicher?«, fragte er. »Ja, klar, Mann!«, schrie ich, während ich zu seinem Auto rannte: »KOMM JETZT!«

Wie gedopte Sandwürmer mit steinernen Mienen hinter unseren verspiegelten Sonnenbrillen flogen wir über die knapp drei Kilometer lange Staubpiste. Als wir uns dem großen Parkplatz näherten, war ich erleichtert, noch keine schwarze Rauchsäule aufsteigen zu sehen. Dafür erblickte ich endlich meinen metallic-orangenen Lebensinhalt auf vier Rädern völlig unversehrt und an einem Stück. Doch noch war ich nicht da. Wir mussten einen kleinen Holzzaun umfahren, der kein Ende nahm.

Am Van angekommen sah ich durch meine getönte Seitenscheibe die blaue Gasflamme des Herds leuchten. Die schmiedefähige Mokkakanne glühte rot. Ganz langsam öffnete ich die Schiebetür, um kein gefährliches Sauerstoff-Irgendwas-Gemisch zu provozieren, dessen gewaltiger Wums Portugals Küstenlinie verändert hätte. Ja, ich habe früher zu viele schlechte Filme geschaut, und ja, ich hatte in der Mittelstufe mal eine 6 in Physik. Aber hey, lieber doof als Küstenterrorist!

Die heiße Luft im glühenden Inneren des staubtrockenen Kännchens entwich mit einem leisen Pfeifgeräusch, während ich behutsam, wie ein Bombenentschärfer, den Drehknopf am Gasherd schloss. Auch der war schon ungesund heiß geworden. Mit zittrigen Händen hob ich das Kännchen mit einem dicken Handtuch um die Hand gewickelt aus der stirnschweißheißen Gefahrenzone der kleinen Spontan-Esse und stellte es vorsichtig draußen auf den Schotter. In mein erleichtertes Durchschnaufen fragte Tahar: »Nix passiert, Mann. Wollen wir wieder los?« Ich schaute ihn entgeistert an, aber stieg dabei schon wieder bei ihm ein. Denn ansonsten hatte der Morgen im Camp ja echt gemütlich angefangen. Und außerdem gab es dort Rotwein, von dem ich nun wirklich ein Schlückchen gebrauchen konnte.

Später an jenem Tag kam noch meine neue Portugalbekanntschaft und spätere Freundin Steffi vorbei. Sie blieb das ganze Wochenende bei mir im Van am Strand von Malhão und zog danach nie wieder aus. Wäre es an jenem Tag zu einer Explosion gekommen, hätte ich eventuell zwei Schätze verloren – beziehungsweise einen davon gar nicht erst bekommen. Da ich dank dieser Geschichte gerade in Portugalerinnerungen schwelge, fallen mir spontan noch zwei weitere Situationen ein, in denen ich in dem schönen Land fast gestorben wäre. Über sie hätte ich zum Auftakt ebenfalls schreiben können. Warum liebe ich dieses Land eigentlich so sehr? Es will mich scheinbar irgendwie loswerden?

Immerhin hat mich die Fast-Explosionserfahrung Folgendes gelehrt: Kaffee macht einen dann besonders wach, wenn man ihn nicht trinkt, aber glaubt, dass er einem den Van in die Luft jagt.

Und jetzt viel Spaß mit dem Rest des Buchs.