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(Aguo, wäre es nicht toll, wenn wir uns am Telefon anschreien könnten?)

Es ist schon fünf Monate her, seit Ayou nach Houston abgereist ist. Ayou ist gern auf dem Meer. Er mag Schiffe. Ich möchte alle Ecken und Enden der Welt bereisen, sagt Ayou. Als er noch mit Aguo zusammen zur Schule ging, lag auf seinem Tisch immer ein Geografiebuch, ganz gleich, welches Fach gerade anstand. In diesem Buch gab es einige Postkartenansichten. Pyramiden und Kamele. Der Kongo und Löwen. Brasilien und Fußball. Im Buch stand, dass es heiß ist im Kongo. Heiß, aber wie heiß, das wusste Ayou nicht.

– Davon muss ich mich selbst überzeugen

So fasste Ayou seinen Entschluss. Ayou ist am liebsten immer auf Achse, deshalb warf er seine Bücher weg. Während Aguo auf dem Schulsportplatz Fußball spielte, saß Ayou in einer Ecke und nahm elektrische Lampen, Ventilatoren, Kühlschränke und Öfen auseinander und setzte sie wieder zusammen. Während Aguo zu Hause für die Prüfungen büffelte, meldete sich Ayou bei einer Fachschule an und lernte Elektrotechnik. Als Aguo wegen des Lernens für das Abschlussexamen keine Zeit mehr zum Schwimmengehen fand, sagte Ayou der Schule Auf Wiedersehen, heuerte bei einer Reederei an und wurde Schiffselektriker. Ayou liebt Schiffe.

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Im hiesigen Hafen legen jeden Tag Schiffe an. Es gibt Schiffe, die ihre Fracht abladen, Essensvorräte aufstocken, Wasservorräte auffüllen; andere Schiffe werden hier repariert oder bekommen einen neuen Anstrich. Alle Arten von Schiffen mit allen Arten von Flaggen. Jedes Schiff braucht alle sieben Jahre eine Generalüberholung, alle vier Jahre eine Inspektion. Daher kommen die Schiffe in den Hafen zur Inspektion. Ohne ein Gesundheitszeugnis darf kein Schiff aufs Meer hinaus.

Ayou hat gelernt, Schiffe zu inspizieren. Seine Kollegen brachten ihm alles Mögliche bei, was man über die elektronische Ausstattung von Schiffen wissen muss, Kabel legen, Stromzähler einbauen, Motoren warten, Stromspannung prüfen, Generatoren instand setzen, Sicherungen einbauen.

Aguo erhielt nach seinem Schulabschlussexamen ein Zeugnis über die bestandene Mittlere Reife. Ayou erhielt nach seinen zwei Lehrjahren an Bord ein Zertifikat, und das Marineamt stellte ihm ein rotes Matrosenbuch aus. Außerdem nahm ihn eine Reederei für achtzehn Monate unter Vertrag und gab ihm ein Monatsgehalt Vorschuss als Familienbeihilfe. Die Hälfte davon gab er seiner Mutter, die andere Hälfte behielt er für sich und kaufte davon zwei warme Jacken und sechs Garnituren Unterwäsche. Dann packte er seine Sachen, darunter eine alte baumwollgefütterte Steppjacke, Fachbücher zur Elektrotechnik, eine Weltkarte, Kamera und Kassettenrekorder, und bestieg ein Flugzeug namens sieben irgendwas sieben.

– Fang eine Briefmarkensammlung an

sagte Ayou zu Aguo. An Bord des Flugzeugs packte Ayou seine Weltkarte aus und studierte sie sehr sorgfältig. Er hoffte, jeden Winkel der Erde kennenzulernen. Den Hafen, von dem aus er gestartet war, kringelte er ein. Irgendwann wird meine Karte voller Kringel und Linien sein, dachte er. Neben ihm saßen noch vier Mannschaftskameraden an Bord der Maschine, alle waren Matrosen, nur Ayou war Elektriker.

In der Reihe vor Ayou saßen zwei junge Männer. Ayou hatte keine Ahnung, was ihr Ziel war, ob es sich um Arbeiter oder Studenten handelte. Er hörte nur, wie sie sagten: Endlich sind wir aus dieser dreckigen, überbevölkerten, stickigen Stadt raus. Nie wieder gehe ich zurück, ich schwöre.

Ayou sah zu, wie der Hafen unter ihm sich immer weiter entfernte, bis nur noch der weite, weiße Ozean zu sehen war. Auf Wiedersehen, sagte Ayou. Meine geliebte schöne und hässliche Stadt. Und faltete seine Weltkarte zusammen.

Das Flugzeug überflog einen Berg, den es zweimal umkreiste, sodass Ayou den Schnee auf den Gipfeln sah. Bald dämmerte es, und die Sonne ging unter. Aus dem Flugzeug heraus sahen die Straßen wie Feldmarkierungen aus. Nach der Landung in Tokio warteten Ayou und seine Kameraden auf ihren Anschlussflug. Auch die beiden jungen Männer aus der Reihe vor ihm saßen in der Transitlounge. Bist du Japaner?, fragten sie ihn plötzlich.

Ayou musste mehrmals umsteigen, Honolulu, Hawaii, Massachusetts. Schließlich landete er in Houston.

(Aguo, das ist meine erste Postkarte an Dich. Der schwarze Stein auf der Vorderseite sieht sehr gewöhnlich aus, wie ein Kohleklumpen. Das ist ein Mondgestein.

Das ist aus der Ausstellung des Space Centers. An den Wänden hängen überall Bilder, auf dem Boden liegt ein weißer Teppich. Ich habe eine Diashow gesehen. Wäre das nicht toll, wenn wir zusammen zum Mond fliegen könnten, Aguo?)

Endlich bekommt Ayou das Schiff zu sehen, auf das er gewartet hat. Es ist ein Frachter aus Kanada, und am Heck trägt er seinen Namen: Oriental. Sein Rumpf ist schwarz, die Decks sind rot, die Brücke weiß, der Schornstein gelb und rot. Er sah ihn zum ersten Mal, als er im Houston River vor Anker lag.

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Der Frachter ist schon seit zwei Jahren auf See, an Bord arbeiten eine Menge Leute. Ayou geht an Bord und meldet sich zur Stelle, dabei lernt er den Kapitän und den Bootsmann kennen. Die ganze Mannschaft besteht aus Chinesen; manche von ihnen kommen von der Marineakademie, andere sind einfache Matrosen.

Die Oriental ist mit leerem Frachtraum aus New Orleans gekommen, um Dünger zu laden. Von einem dicht am Hafen gelegenen Lagerhaus führt ein Förderband auf das Schiff und füllt es unter ohrenbetäubendem Lärm mit siebzehntausend Tonnen Düngemittel. Auf dem Schiff beobachtet Ayou, wie die Düngemittelklumpen rund und schwarz wie Kohlen in den Laderaum fallen. Dünger sieht aus wie Mondgestein, denkt Ayou.

Er hat seine eigene Kajüte mit einem Bett, einem Schrank und einem Sofa, fest mit den Wänden verschraubt. Alles bleibt an seinem Platz, selbst bei starkem Seegang. Ayou hat auch einen Schreibtisch, mit einer größeren und vier kleineren Schubladen. Die Tischplatte ist aus Glas. Ayou stellt seinen sechsundsechzig Pfund schweren Koffer ab, faltet seine Weltkarte auseinander und schiebt sie unter die Glasplatte. Die Karte schmücken mittlerweile mehrere Kringel und Zickzacklinien, die sie verbinden. Wie weit weg meine Heimatstadt jetzt ist!, denkt Ayou. Ob meine Mutter schon meinen ersten Brief bekommen hat?

– Gibt es Post

Als die Oriental am Hafen des Houston River anlegt und die neue Mannschaft an Bord kommt, ist das die erste Frage.

– Wie geht es unserer Stadt

– Alles in Ordnung zu Hause

fragen sie dann.

Ayou und die anderen neuen Kameraden verteilen die Briefe an die Mannschaft. Sie haben auch Zeitungen, Zeitschriften, Wochenzeitungen, Sonderausgaben mit den neuesten Nachrichten aus der Stadt dabei. Alle drängen sich zusammen, um zu lesen. So viele Raubüberfälle, seufzen die Lesenden kopfschüttelnd. So viele Flüchtlinge, wohin nur mit ihnen? Einer von ihnen reißt eine Zeitung in zwei Hälften und stellt sich mit der einen Hälfte zum Lesen in eine Ecke.

Wer keine der Zeitungen in die Hände bekommen hat, drängt sich um Ayou und die vier anderen Neuankömmlinge. Erzählt uns, was es Neues gibt. Was war los in der Stadt, als ihr abgereist seid, fragen sie. Und Ayou erzählt alles, was er weiß.

Es sind eine Menge Flüchtlinge angekommen. Ein paar Dutzend kamen per Flugzeug, die sind schon wieder weg. Andere kamen mit Booten, zu Tausenden. Die mit dem Flugzeug kamen, blieben in Lagern innerhalb der Stadt, die mit dem Boot kamen, blieben in Lagern auf dem Land.

In den Lagern gibt es Zelte und Baracken, umgeben von Stacheldraht. Vor und hinter dem Stacheldrahtzaun stehen Tag und Nacht Menschen, viele suchen Verwandte und schauen sich jedes Gesicht an. Wer seine Verwandten findet, redet von der anderen Seite des Stacheldrahts auf sie ein.

– Wir tun, was wir können

– Wir stellen den Antrag für dich

sagen sie. Um zehn Uhr abends stehen sie noch immer da. Vor dem Stacheldrahtzaun stehen noch andere, die nicht nach Verwandten suchen und auch keine Journalisten sind. Sie schleichen den Zaun entlang und flüstern den Menschen drinnen zu:

– Willst du was tauschen?

– Uhren?

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Manchmal ziehen sie eine Uhr durch die Löcher im Stacheldrahtzaun. Dreißig Dollar, sagen sie. Ein Juwelier in der Nähe des Lagers hat alle Hände voll zu tun – innerhalb eines einzigen Tags hat er Unmengen von Gold gegen Zehntausende Dollar eingetauscht. Das Gold kam in vielen Unzen.

An einem Tag, als eins der Flüchtlingsboote in der Stadt ankam, brachte eine Frau auf dem Boot ein Kind zur Welt. Als das Boot anlegte, brachten Helfer das Neugeborene ins Krankenhaus. Als das Kind untersucht war und wieder entlassen werden konnte, sagte das Krankenhaus: Die Mutter möge bitte ihr Kind abholen. Aber niemand kam.

Im Lager bekommt jeder ein Bett zugewiesen, manche bekommen ein Feldbett. Sie falten das Zelttuch auf, ziehen es glatt und hängen die Ösen an den vier Enden in das Holzgestell ein. Jeder bekommt eine Blechschüssel und ein paar Essstäbchen, damit stellen sie sich täglich bei der Essensausgabe an. In einem großen Raum können sie sich etwas zum Anziehen aussuchen. Es gibt eine Menge Kleidung, und sie können nehmen, so viel sie wollen.

Eine Familie schwor bei Gott, dass sie für immer Vegetarier werden wollten, so sie jemals lebend diese Stadt verlassen dürften. Und dann schütteten sie jede Menge Sojasoße auf ihren Reis.

Es gab diesen Mann namens Papillon. Er versteckte sich in einem Reisfass. Der Reis für Flüchtlinge wird in tischhohen Fässern gebracht. Um diesen Reis herauszuschaufeln, braucht man eine Eisenschaufel wie auf dem Bau. Nach jeder Mahlzeit sammeln die Helfer die Fässer wieder ein und laden sie auf einen Lastwagen, um sie dorthin zurückzubringen, wo sie hergekommen sind. Eines Tages entdeckten sie in einem der Fässer Papillon. Der Lastwagen rumpelte gerade die Straße entlang, als Papillon den Deckel hob und herauskletterte. Jetzt bekam er ein Einzelzimmer, aber dafür nur noch nackten Reis und Wasser. Tags darauf entdeckte jemand, wie Papillon versuchte, über den Zaun zu klettern. Dieser Schmetterling konnte nicht fliegen.

Auf der Oriental gibt es zwei Elektriker, Großfunke und Kleinfunke. Ayou ist Kleinfunke. Die Elektriker sind für alles auf dem Schiff zuständig, das mit Elektrik zu tun hat. Wenn Großfunke zu Ayou sagt, komm mit, geht Ayou mit ihm mit. Wenn Großfunke zu Ayou sagt, geh und sieh nach, was der Generator macht, geht Ayou los und sieht nach dem Generator.

Sein Arbeitstag beginnt um sechs Uhr morgens. Nach dem Aufstehen dreht Ayou eine Runde durch die Gänge, die Gemeinschaftsräume und alle Verbindungskorridore und überprüft die Lampen. An Bord des Schiffes brennen die Lampen Tag und Nacht. Wenn er damit fertig ist, geht er zurück in seine Kajüte, etwa um sieben Uhr. Um sieben erscheint der Schiffssteward, klopft an die Tür und fragt: Was möchtest du zum Frühstück?

Nach dem Frühstück geht Ayou wieder an die Arbeit. Im Kielraum überprüft er die zentrale elektrische Schaltanlage. Am Rand der Schalttafel befindet sich ein kleines Fach, und Ayou schaut nach, ob dort Mitteilungen liegen, die Arbeitsanweisungen von Großfunke. Dort steht, was repariert werden muss, was überprüft werden muss. Wenn es Mitteilungen gibt, erledigt Ayou alles so, wie es dort angegeben ist, prüft und repariert, macht einen Vermerk auf die Mitteilung und legt sie in ein anderes Fach.

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Dann ist auch Zeit für die Überprüfung des Generators. Für gewöhnlich kontrolliert Ayou die Temperatur des Generators mit der Hand.

Außerdem muss er das Lüftungssystem kontrollieren, die Brandschutzleuchten und das Alarmsystem. Ist alles in Ordnung und muss kein anderes Gerät gewartet werden, ist Ayous Vormittagsdienst beendet.

Die gesamte Mannschaft der Oriental besteht aus Chinesen. Die Hälfte von ihnen spricht Pekingchinesisch, die andere Hälfte spricht Kantonesisch. An Bord dieses Schiffes arbeiten mehr junge als alte Menschen. Viele von ihnen sind wie Ayou und kommen aus derselben Stadt. In ihrer Freizeit fragen sie deshalb, stimmt es, dass es in unserer Stadt immer mehr Häuser gibt? Stimmt es, dass es immer mehr Menschen gibt? Die so fragen, sind seit zwei Jahren nicht mehr in der Stadt gewesen. Innerhalb von zwei Jahren kann sich vieles ändern. Ayou beantwortet jede ihrer Fragen.

Es gibt mehr Flüchtlinge, erzählt Ayou, manche von ihnen sind über viele Berge gestiegen. Zu Zehntausenden über Berg und Tal, alle mit demselben Ziel. Manche von ihnen trugen Stoffschuhe, andere Flip-Flops, wieder andere gingen barfuß. Alle bekamen Blasen, ganz gleich, wie ihre Füße beschaffen waren.

Als unzählige Menschen wie ein wandelnder Wald auf die Stadt zukamen, rannten ihnen Gruppen von Menschen aus der Stadt entgegen, mit Wasser und Essen. Dann hörte man in den Bergen ihre Rufe: Mutter, bist du es? Bis du das, Bruder? Dann verstummten die Rufe.

Nur wenige der Menschen, die die Berge hinaufgingen, waren auf der Suche nach Verwandten. Viele andere, die Wasser und Essen brachten, sprachen die Entgegenkommenden freundlich an. Du bist bestimmt hungrig. Dein Fuß ist verletzt. Dann verbanden sie blutende Wunden und fütterten ausgehungerte Körper. Anziehsachen und Schuhe hüllten sich um fremde Menschen.

Wieder andere kamen über das Meer. Sie kamen in kleinen Gruppen, zu dritt, zu viert, allein. Da sie auf dem Meer trieben, konnte man ihnen schlecht entgegengehen und fragen: Hast du Hunger? Sie verbrachten mehrere Tage und Nächte auf dem Meer. Manche von ihnen wurden auf dem Weg von Haien gefressen, manche verfaulten im Wasser. Wenn sie an die Küste gespült wurden, waren ihre Gesichter schon unkenntlich, ihre Körper nicht mehr ganz.

Als Ayou aus dem Raucherzimmer kommt, hat er seine Morgenschicht beendet und könnte sich in seiner Kajüte ausruhen gehen, schlafen, lesen, Briefe schreiben. Aber er tut nichts dergleichen. Er steht an Deck und nimmt das Schiff, auf dem er sich befindet, in Augenschein.

Es ist ein riesiger Frachter. Der Frachtraum ist jetzt vollständig mit Dünger gefüllt. Sie sind auf dem Weg nach Argentinien, aber Ayou hat keine Ahnung, wie ihr nächster Anlaufhafen heißt. Er war immer davon ausgegangen, dass er als erstes fremdes Land Mexiko kennenlernen würde. Ayou mag Mexiko. Immerzu sagte er zu den andern in seiner Klasse: Amigo, amigo. Amigo bedeutet Freund. Aber Argentinien ist ihm auch recht. Ayou mag auch Argentinien; er mag alle Städte Lateinamerikas. Amigo. Amigo.

Vom Deck aus blickt Ayou aufs Meer; ringsum nichts als Meer. Das nah beim Schiff wogende Meer ist Meer, das Meer in der Ferne ist mal Meer, mal Himmel. Ayou beobachtet Fische, die aus dem Wasser springen und wieder hineintauchen. Manchmal treibt eine grün und rot leuchtende Blume auf dem Meer. Als er sich gerade fragt, warum mitten im Meer eine so seltsame Blume wächst, die die Seevögel anzieht, versinkt die Blume im Wasser. Es ist nur ein seltsamer Fisch, der auf dem Rücken schwimmt.

(Aguo, ich wünschte, ich wüsste, was Du gerade machst. Macht Deine Arbeit Spaß? Schade, dass es so schwierig ist, Briefe von Dir zu erhalten, selbst wenn Du mir schreibst. Mein Schiff ist jeden Tag woanders.)

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Ich sitze im Klassenzimmer und lese Ayous Postkarte. Tagsüber verlege ich in den Straßen Telefonleitungen, einmal pro Woche habe ich abends in diesem Klassenzimmer Unterricht. Die Berufsfachschule bietet diesen Unterricht eigens für die Angestellten der Telefongesellschaft an. Wer mehr über Telefone wissen möchte, kann teilnehmen. Ich möchte gerne mehr wissen, deshalb bin ich hier.

Der Lehrer ist ein Ausländer. Während des Unterrichts lächelt er immer, so, als ob wir gar nicht zum Lernen hier wären, sondern zum Plaudern. Er kommt in Sandalen, Kniestrümpfen, Shorts und T-Shirt. Gleich zu Beginn des Unterrichts sagte er zu uns: Don’t worry. Es macht nichts, wenn ihr etwas zu spät kommt. Hauptsache, ihr kommt regelmäßig.

Die Schüler arbeiten alle bei unterschiedlichen Abteilungen der Telefongesellschaft. Am Ende eines langen Arbeitstags sind sie natürlich müde. Deshalb gähnt hin und wieder einer. Andere legen den Kopf auf den Tisch und dösen, bis der Lehrer kommt. Ich lese Ayous Postkarte und betrachte die Muster und Farben der Briefmarke. Ayou schreibt mir auch Briefe – seitenlange Briefe, wie ein Tagebuch.

In den Pausen wird es voll auf der Gartenterrasse am Heck des Schiffs. Hier gibt es grüne Blätter und Blumen. Jemand erklärt Ayou, dass die Pflanze mit den großen Blättern und den kleinen Blüten Begonie heißt. Ayou denkt an die Geografiestunden; Geografie war sein Lieblingsfach. Begonien. Unser Land hat die Form eines Begonienblatts, erinnert sich Ayou. Ganz egal, ob du Pekingchinesisch sprichst oder Kantonesisch, unser Land hat im Atlas die Form eines Begonienblatts.

Auf der Gartenterrasse gibt es auch Liegestühle. Vom Liegestuhl aus das Meer zu betrachten ist wie nach dem Schwimmengehen am Strand liegen, findet Ayou.

Außer, dass er von hier aus auch springende Fische beobachten kann, die wie Regen aussehen; sie glitzern silbrigweiß, hell wie die kristallklaren Wellen.

Ayou sieht Seemöwen und Seeschwalben. Die Seeschwalben sind schwarz und haben Schwimmhäute, wie Enten. Einige der Matrosen treffen sich hier zum Plaudern, andere sitzen in der Küche und spielen Karten. Manche lesen immer noch die alten Zeitungen, als wären die Nachrichten darin wie frische Milch.

Aber die Nachrichten sind von gestern. Wie die von dem Schiff, das dreitausend Flüchtlinge auf See gerettet hat. Als das Schiff in den Hafen einer großen Stadt einlief, sagte die Stadt: Wir haben nicht genug zu essen; wir leiden unter Wassermangel; bei uns herrscht Wohnungsnot; die Hälfte der Bevölkerung ist arbeitslos. Ohne ein Wort zu sagen, verließ das Schiff mit den dreitausend Flüchtlingen an Bord den Hafen dieser Stadt.

Das Schiff lief viele andere Städte an, die es alle mit langen Gesichtern empfingen. Manche verschlossen dem Schiff ihre Tore. Nirgends fand das Schiff einen Ort, an dem es vor Anker gehen konnte, und die Menschen auf dem Schiff fanden keine Bleibe. Lauft eine andere Stadt an, sagte Stadt A. Weg mit euch, sagte Stadt B. Das Schiff fuhr davon. Niemand weiß, wohin das Schiff am Ende gefahren ist. Kein anderes Schiff entdeckte es, keine der Städte sah es jemals wieder. Es verschwand spurlos, machte keine Schlagzeilen mehr. Ein Schiff, beladen mit Flüchtlingen, fuhr hinaus aufs Meer und verschwand. Das ist eine Nachricht von gestern.

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Ayou muss sich hier an Bord um nichts kümmern, keinen Cent zahlt er für Nahrung und Kleidung. Ich kann mein ganzes Geld sparen, sagt er sich. Dann kann ich in Zukunft vielleicht einmal ein kleines Café aufmachen. Und wenn ich noch mehr verdiene, kann ich neben dem Café eine Buchhandlung eröffnen. Und wenn ich damit noch mehr verdiene, mache ich gegenüber dem Café ein Kino auf. Wenn Aguo zum Kaffeetrinken kommt, geht sein Kaffee aufs Haus. Wenn er einen Film sehen will, geht das aufs Haus. Er kann alle Bücher lesen, die er lesen möchte; es geht aufs Haus. Mein Café wird von morgens bis nachts geöffnet sein, und seine Wände werden mit Kunstwerken geschmückt sein. Es soll aussehen wie ein Schiff, denkt Ayou.

Er ist glücklich, wenn er daran denkt, dass er in Zukunft ein Café betreiben wird. Hatte er nicht gesagt, dass er die Welt bereisen und auf allen vier Weltmeeren segeln will? Jetzt sitzt er an Bord eines Frachters auf dem Weg nach Südamerika, dann nach Afrika, dann nach Europa. In Zukunft aber wird er ein Café betreiben. Warum nicht?

Gegenüber von Ayous Kajüte wohnt der Schiffszimmerer. Gleich als Ayou aus seinem Zimmer kam, um in der Kombüse frühstücken zu gehen, traf er den Zimmerer, der ihm zum Gruß zunickte, eine feiste Hand am Türrahmen.

– Du bist der Kleinfunke, stimmt’s

– Ich bin Zimmerer

sagte er. Er sprach Pekingchinesisch; Ayou versteht kein Pekingchinesisch. Der Zimmermann machte ein paar typische Handbewegungen – Holz abschleifen, Nägel einschlagen – und wies auf die Tische und Stühle. Ayou verstand.

Mehrmals am Tag geht Ayou an der Kajüte des Zimmerers vorbei und sieht, wie Zimmerer drinnen Radio hört; manchmal macht er Scherenschnitte. Jedes Mal, wenn Ayou vorbeikommt, ruft der Zimmerer: Komm rein. Also geht Ayou zu ihm hinein. Zimmerer hat genau so eine Kajüte wie er selbst, außer, dass in Zimmerers überall Scherenschnitte hängen. Wenn Ayou zu ihm hereinkommt, lädt Zimmerer ihn immer auf eine Limo ein.

Ayou hat noch nie gesehen, wie ein Zimmermann Holz hobelt, auch nicht, wie er Treppen instand setzt oder neue Fenster einbaut. Wenn Zimmerer arbeiten geht, ist er immer im Nu zurück und nie hat er Hammer und Nägel dabei. Deshalb fragt Ayou:

– Bist du wirklich ein Zimmermann

Zimmerer zeigt auf sich und sagt auf Chinesisch: Zimmermann. Ayou sieht sich die Türen an, die Fenster, Betten, Stühle. All das wurde zusammen mit dem Schiff gezimmert. Türen und Fenster sind etwas anderes als Elektroinstallationen. Ob Zimmerer, ebenso wie Ayou, jeden Tag nach den Treppen sehen geht und das auf Papieren vermerkt? Deshalb fragt Ayou:

– Was machst du denn so

– Auf diesem Schiff

Zimmerer hält in einer Hand eine Schere. Mit der anderen nimmt er ein Stück buntes Papier und schneidet im Handumdrehen einen Fisch heraus, mit Schuppen und Augen und allem. Mit dem ausgetreckten Arm hält er den Fisch prüfend gegen das Licht, das durch die kleinen Löcher in seinem Scherenschnitt fällt. Etwas stört ihn an seinem Fisch, also macht er sich daran, ihn weiter mit der Schere zu bearbeiten. Als Ayou fragt, was machst du denn so auf diesem Schiff, hält er ihm den Fisch hin und sagt: Scherenschnitte. Eine ganze Weile ruht sein Blick auf Ayous Augen und Nase.

– Ich kümmere mich um die Schiffskatze

sagt er. Ayou zieht die Brauen hoch. Was machen Katzen auf einem Schiff? In seiner Schulzeit mochte Ayou Cartoons. In den Cartoons kamen häufig Schiffe vor, und Menschen am Kai, die Menschen auf den Schiffen zum Abschied zuwinkten. Die auf den Schiffen warfen Luftschlangen und bunte Bänder herab, und die Menschen auf dem Kai hielten die Enden der Bänder fest. Gleich würden die Schiffe abfahren. In Ayous Cartoon gab es eine Gruppe von Ratten, die auf eine ähnliche Weise voneinander Abschied nahmen, einige davon liefen über ein Seekabel an Bord des Schiffs.

Wo sind die Katzen?, fragt Ayou. Der Zimmerer nimmt Ayou mit an Deck und führt ihn zum Schiffsbug. Dort zeigt er auf ein pechschwarzes Etwas, das mit einer schweren Kette befestigt unter dem Mast liegt. Ayou erkennt, dass es ein Anker ist.

– Ich kümmere mich um die Katze

– Ich sorge dafür, dass sie keinen Rost ansetzt

sagt Zimmerer. Ayou starrt den Anker an, dann den Zimmermann. Zimmerer hat tiefdunkle Augen und tiefschwarzes Haar, genau wie Ayou. Aber Zimmerer spricht nicht dieselbe Sprache wie Ayou und umgekehrt. Sie müssen sich mit Gesten verständigen, als wären sie taub. Ich würde gerne Pekingchinesisch lernen, sagt Ayou zu Zimmerer. Gut, sagt Zimmerer. Fortan nimmt Ayou bei Zimmerer Unterricht in Pekingchinesisch.

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Zimmerer bringt Ayou Schulchinesisch bei; er bringt ihm aber auch viel über das Schiff bei. So lernt Ayou viel über Zimmerers Arbeit – sich um die Anker kümmern und den Trinkwasservorrat des Schiffs kontrollieren. Viermal am Tag – morgens, mittags, nachmittags und abends – kontrolliert Zimmerer den Trinkwasservorrat. Wie viel wurde verbraucht, wie viel ist noch da. Er lässt eine Schnur hinab, bis sie in die Oberfläche des Wassers im Tank eintaucht, und holt sie wieder hoch. Das Schiff hat zwei Trinkwassertanks, einen auf jeder Seite. Unter den Wassertanks liegen die Öltanks.

(Aguo, wie toll wäre es, wenn Du meinen Freund, den Zimmermann, kennenlernen könntest. Heute hat er mir beigebracht, wie man Scherenschnitte macht. Ich kann jetzt schon Äpfel. Hier ist einer für Dich. Wie findest Du ihn?)