9 Die Rückkehr des Magistrats

Anwesen am Poyang-See
Winter/Frühjahr 1860

Es dauerte mehrere Wochen, bis ich ins Leben zurückfand. Draußen ging der Herbst in einen regnerisch kühlen Winter über, drinnen lag ich mal frierend, mal schwitzend im Bett und wusste die meiste Zeit nicht, wo ich mich befand. Wahrscheinlich war ich dem Tod sehr nah, jedenfalls meinte Potter später, er habe nicht geglaubt, dass ich überleben würde. Manchmal war es, als öffnete sich vor mir der Übergang in eine zwielichtige leere Welt, die ich durchwanderte, ohne irgendwo anzukommen. Ich lief und lief, aber sobald ich mich hinlegen und aufgeben wollte, hörte ich Elisabeths Stimme, die mich anspornte, weiterzugehen. Mein linker Arm endete drei Zoll unterhalb des Ellbogens. Wenn ich den Stumpf abspreizte, fühlte es sich an, als hätte ich eine unsichtbare Hand, die zwar nichts greifen konnte, aber der rasende Schmerz machte sie dennoch wirklich. Er saß tief im durchtrennten Knochen, reichte bis hinab in die Fingerspitzen und ließ nicht zu, dass ich den Verlust für einen Moment vergaß. Fünfzehn Minuten, sagte mein Gefährte, habe es gedauert, wegen der stumpfen Säge.

Als die Welt wieder deutliche Konturen annahm, war es bereits Januar.

An besonders kalten Tagen wurde mir ein Kohlenbecken ins Zimmer gebracht, das nachts einen rötlichen Schimmer auf die Wände warf. Tagsüber hörte ich Vögel und die Stimmen von Kindern, deren Schemen sich hinter den Papierfenstern drängten. Sie legten die Hände um die Augen, als könnten sie hereinschauen. In der Nähe musste ein Tempel sein, ab und zu ertönte ein Gong, und der Geruch von Räucherstäbchen wehte an mein Bett, aber vielleicht war es nur das Opium, das mein Gefährte rauchte. Sobald es mir etwas besser ging, zog er ins andere Zimmer des Pavillons, den wir bewohnten und der zum Anwesen eines Kreismagistrats gehörte. Die beiden Frauen, die mir das Essen brachten, sagten, er heiße Wang und sei ein angesehener Gelehrter, ein Xiucai. Die Bahnen mit Kalligraphie, die ich vom Bett aus sah, hatte er beschrieben, aber kennenlernen sollte ich ihn erst später. Zunächst schaute nur ein Verwalter namens Shi herein, musterte mich kühl und fragte, ob ich endlich gesund genug sei, meine Reise fortzusetzen. Daran war jedoch nicht zu denken. Mit Mühe schaffte ich es bis zu dem Topf, der hinter einer Trennwand aus Holz stand, danach war ich schweißgebadet. Meine Aufzeichnungen machte ich im Bett sitzend und schrieb selten mehr als eine halbe Seite. Potter hatte ich es zu verdanken, dass mir wenigstens die Notizen geblieben waren; nach dem Bad im See wären sie verschimmelt, hätte er die Blätter nicht einzeln zum Trocknen ausgelegt. Alles andere hatte ich verloren, und in den dunkelsten Stunden fühlte ich mich wie damals nach Elisabeths Tod. Warum, dachte ich bitter. Dann wieder staunte ich über mein Schicksal, so als wäre es nicht meines. Wie konnte ich ein Krüppel sein, der irgendwo in der chinesischen Provinz vor sich hin vegetierte?

Die Mahlzeiten waren meine einzige Zerstreuung. Die beiden Frauen nannten sich San-mei und Si-mei ‒ dritte und vierte Schwester ‒, obwohl sie nicht wie Verwandte aussahen. Eine hatte ein rundliches Gesicht und den dunklen Teint der Menschen im Süden, die andere war ausgesprochen schön mit ihren schmalen Wangen, großen Augen und der weißen Haut einer Europäerin. Das Essen, das sie mir brachten, war scharf, und wenn ich aus Versehen auf ein Stück roter Paprika biss, wunderten sie sich über die Tränen, die mir aus den Augen schossen. Meine Fragen beantworteten sie einsilbig und blieben nie länger als nötig. Draußen hörte ich sie noch eine Weile reden, dann entfernten sich ihre Schritte, und es kehrte die Leere zurück, in der ich meine Tage verbrachte. Zu gern hätte ich erfahren, was sich in China in den letzten Monaten getan hatte. Wurde im Norden wieder gekämpft? Hielten die Rebellen in Nanking der Belagerung stand? Dass ich die Stadt eines Tages erreichen würde, war unwahrscheinlicher denn je, aber was sollte ich mir sonst vornehmen? Wenn ich daran dachte, ballte sich meine unsichtbare Hand zur Faust, wie um eine Entschlossenheit anzuzeigen, die mir in Wirklichkeit fehlte. Vielleicht war es das erste Anzeichen dafür, dass mein Lebenswille zurückkehrte.

Wurden die Schmerzen zu stark, nahm ich eine Pille und dachte an Elisabeth. Das Opium machte mich träumerisch, und mir fiel ein, wie wir einmal gemeinsam zur Hütte des alten Luo gelaufen waren, draußen im Happy Valley. Es musste im Frühjahr gewesen sein, jedenfalls erinnerte ich mich an den warmen, weichen Regen ‒ Pflaumenregen nannten ihn die Einheimischen, weil er zur Zeit der Pflaumenblüte fiel. Damals lebte der alte Luo seit ungefähr einem Jahr auf Hongkong, und da ich keine Arbeit für ihn hatte, versah er Hausmeisterdienste für die Londoner Mission. Hong Jin mochte ihn, und bevor er Victoria verließ, bat er mich, nach dem alten Mann zu schauen, mit dessen Gesundheit es bergab ging. Er wurde immer dünner, und im Frühjahr 58 erkrankte er auch noch an der Ruhr. Als ich Elisabeth davon erzählte, überraschte sie mich mit der Bitte, beim nächsten Besuch mitkommen zu dürfen. Mich interessiert, was du tust, sagte sie.

Wir nahmen den Weg über den Morrison Hill. Um den Zugang zu der dahinterliegenden Pferderennbahn zu erleichtern, war die Spitze des Hügels abgetragen worden, und schon von weitem erkannten wir die verlassenen, teils längst überwucherten Villen, die ahnungslose Ausländer hier gebaut hatten. Das Happy Valley war berüchtigt für seine vielen Moskitos und die ungesunde Ausdünstung des Bodens, daher der Name. Englischer Humor, nehme ich an. An jenem Nachmittag fiel der Regen so fein, dass ich den Schirm nicht aufspannte und kaum merkte, wie mein Gewand immer schwerer wurde. »Und dieser Mann«, fragte Elisabeth, »hat zu deiner Gemeinde auf dem Festland gehört?«

»Bevor ich ankam, war er so etwas wie der Vorsteher.«

»Ein Christ also.«

»Ja, schon.«

»Du sagst das, als meintest du nein.«

Statt zu antworten, half ich ihr über ein paar Gesteinsbrocken auf dem Weg. In den letzten Tagen hatte ich den alten Luo mehrmals besucht und wusste, dass es mit ihm zu Ende ging. Je näher der Tag rückte, desto feindseliger wurde das Verhalten seiner Frau. Es war die Zeit, in der wir Missionare darum kämpften, einheimische Konvertiten auf dem neuen Friedhof von Sai Ying Pun beisetzen zu dürfen statt in den Fiebersümpfen vor der Stadt, aber das stieß bei den weißen Herren auf Widerstand. Elisabeth und ich folgten einem Pfad am südlichen Rand des Tals. Hier und da standen ärmliche Hütten, und es stank nach den Kadavern wilder Hunde, die in den Sümpfen verwesten. »Da vorn«, sagte ich und wies auf eine besonders baufällige Behausung. Das Dach sah aus, als hätte man alle möglichen Materialien übereinandergeworfen. Holzlatten, Äste, Reisstrohmatten und dergleichen mehr. Bei Regen drang Wasser durch die Ritzen, drinnen roch es, als würde mit feuchtem Torf geheizt.

»Darin wohnt jemand?«, fragte Elisabeth ungläubig.

Nachdem ich geklopft hatte, dauerte es einen Moment, bis die Frau des alten Luo erschien und sich gleich wieder abwendete. Auf der Feuerstelle blubberte ein Metallkessel vor sich hin, wahrscheinlich mit einem Trank, den die buddhistischen Mönche verschrieben hatten. Schon in Tongfu hatte Luos Frau nie denselben Eifer gezeigt wie ihr Mann, jetzt würdigte sie uns keines Blickes, als wir den Vorhang zurückzogen, hinter dem er seine rasselnden Atemzüge tat. Elisabeth hielt sich die Hand vor die Nase. Der alte Mann lag auf einer Strohmatte und sah aus wie tot. Das Gesicht war von Pusteln übersät, auf denen Fliegen saßen, und als er mir den Blick zuwendete, schien er mich nicht zu erkennen. Unter der löchrigen Decke zuckte sein ausgemergelter Körper wie unter Schlägen. »Gibt es keinen Arzt, der nach ihm sehen kann?«, fragte Elisabeth.

»Dafür ist es zu spät«, erwiderte ich. Chinesen hielten alle Krankheiten für Götter, die man mit wohlklingenden Namen besänftigen musste, also nannten sie die Pusteln der Ruhr tianhua, Himmelsblumen. Als Mitglied der christlichen Gemeinde hatte sich der alte Luo zwar einer Impfung unterzogen, bei der die getrockneten Hautstücke eines Kranken zerrieben und den Leuten in die Nase geblasen wurden ‒ war der Körper zu schwach, führte das allerdings keinen kontrollierten Ausbruch der Krankheit herbei, sondern das, was wir vor uns sahen. Luos Frau hielt es für eine Strafe der Götter.

»Was kocht sie da eigentlich?«, flüsterte Elisabeth.

»Chinesische Medizin.« Ich nahm die Schale mit kaltem Tee, die neben der Matte stand, und gemeinsam schafften wir es, dem Sterbenden einige Schlucke einzuflößen. Fragend zeigte Elisabeth auf das Amulett, das er um den Hals trug. »Nimm es ihm ab, wenn du willst«, sagte ich. »In Tongfu habe ich ihn mehrmals darum gebeten, aber er meinte, es schützt ihn vor Krankheiten. Vielleicht sieht er es jetzt anders.«

»Er war der Gemeindevorsteher, hast du gesagt.«

»Der Dorfälteste. Zwei Söhne von ihm kämpfen in der Rebellenarmee, deshalb hatten die Leute Respekt vor ihm.«

»Wo sind die Leute jetzt?«

»Da und dort, verstreut über die Insel und das Festland. Viele sind tot.«

»Besitzt er keine Bibel?«

»Besäße er eine, könnte er sie nicht lesen.«

»Du hast natürlich auch keine mitgebracht.«

Ich hörte, wie die Frau des alten Luo draußen mit jemandem sprach. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Elisabeth mitzunehmen, aber ich wollte, dass sie die Schwierigkeiten meiner Arbeit kennenlernte. Die Chinesen glaubten an Gott wie an einen ihrer vielen Haus- und Herdgeister, die man durch Gebete gnädig stimmen musste, und es war schwer zu sagen, ob sie nicht in Wahrheit uns gnädig stimmen wollten. Oft genug, lief das, was wir Bekehrung nannten, auf ein gegenseitiges Täuschungsmanöver hinaus: Sie wussten, was sie tun mussten, damit wir so taten, als wären sie unsere Brüder und Schwestern. »Oder doch?«, fragte Elisabeth, weil ich nicht antwortete.

Ich schüttelte den Kopf, aber sie hatte ihre Bibel dabei und las auf Deutsch die Geschichte von der Heilung des Aussätzigen und das Zöllnermahl. ›Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.‹ Dann hielt sie inne und nahm die Hand des alten Luo. Im Dämmerlicht sah es aus, als zöge ein Lächeln über sein Gesicht, kurz öffneten sich die Augen und blickten erstaunt auf die fremde Frau, die ihre Hände um seine gefaltet hatte. Draußen ging der Tropenregen nieder wie ein Flüstern in der Luft. Als der Sterbende seinen letzten Atemzug tat, war er nicht länger oder tiefer als die vorigen. Er hörte einfach auf.

Elisabeth und ich sahen einander an. »Sprichst du den Segen für ihn?«, flüsterte sie. »In seiner Sprache?«

Ich tat es, dann stand ich auf, um Luos Frau Bescheid zu sagen. Vor dem Haus warteten zwei buddhistische Mönche, und zu meinem Schrecken sah ich, dass sich außerdem ein gutes Dutzend Nachbarn eingefunden hatte. Wenn ein Konvertit starb, kam es oft zum Streit mit der Familie, manchmal wurde regelrecht darum gekämpft, wie der Tote bestattet werden sollte. Als ich Luos Frau mein Beileid aussprach, zischte sie mich an, ich solle verschwinden. Zeternd warf sie sich auf den Boden, teils aus Trauer und teils, um die anderen gegen mich aufzubringen. Ich eilte zurück in die Hütte. »Wir müssen los.«

Elisabeth kniete betend vor dem Leichnam und antwortete nicht gleich. »Wann wird er abgeholt?«, fragte sie schließlich.

»Wir sagen in der Londoner Mission Bescheid. Jetzt müssen wir los. Draußen sind Leute.«

»Was für Leute?«

»Bleib nah bei mir, und lass mich reden.« Hastig half ich ihr in den Überrock und führte sie hinaus. Jetzt standen bereits an die zwanzig Personen auf dem matschigen Weg, der vom Tal heraufführte. Fäuste wurden geschüttelt. Es waren allesamt Hakka, jedenfalls sah ich ein paar Frauen, und keine hatte gebundene Füße. »Wir gehen«, sagte ich in ihrem Dialekt. »Am Abend werden Brüder von der Mission kommen und …« Daraufhin brach ein Sturm von Anschuldigungen über uns herein, jemand wollte Elisabeth an den Haaren ziehen, ich wurde bespuckt. Ausländische Teufel war das mildeste Schimpfwort, das wir zu hören bekamen. »Was werden sie tun?«, fragte Elisabeth.

»Nichts, wenn wir besonnen bleiben.«

»Ich meine mit dem Leichnam.«

»Ihn in den nächsten Tempel bringen.«

»Das müssen wir verhindern.« Wir hatten uns schon ein Stück von der Menge entfernt, als sie sich losmachen und umkehren wollte, und beinahe war ich froh, dass im selben Moment zwei Steine flogen, die sie eines Besseren belehrten. Hinter der nächsten Biegung kam die Pferderennbahn in Sicht, aber erst auf der gerodeten Anhöhe des Morrison Hill trauten wir uns, stehen zu bleiben und zu verschnaufen. Graue Wolken hingen über der Bucht. Elisabeth zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Augen. »Als du mich damals gefragt hast, ob ich deine Frau werden will«, begann sie, »und ich sagte, dass ich nur einen gläubigen Christen heiraten kann … da dachte ich, dass wir uns einig sind, was das heißt. Du würdest dich bemühen, dachte ich. Jetzt habe ich den Eindruck, du willst mich auf deine Seite ziehen.«

»Du wolltest mitkommen.«

»Zum Vorsteher deiner Gemeinde in …« Sie wusste nicht weiter und zog die Nase hoch.

»Tongfu.«

»Was soll das für eine Gemeinde gewesen sein?«

»Wenn du das Wort hörst«, sagte ich, »denkst du an Menschen in Sonntagskleidern, die zu einer schmucken kleinen Kirche strömen. Jeder hat ein Gesangsbuch dabei, die Orgel spielt. In Tongfu haben die Leute Sonnenblumenkerne geknabbert und mit einem Ohr zugehört, wie ich in gebrochenem Dialekt Geschichten aus der Bibel erzählte. Manche schliefen, andere standen auf, um nach den Kindern zu sehen. Zu Hause hatten alle ihre Familienaltäre. Wir hätten gerne, dass sie so sind wie wir, aber wir haben keine Ahnung, was wir verlangen.«

»Dass sie das Heil annehmen.«

»Und dafür alles aufgeben, woran sie je geglaubt haben. Dass sie ihre Familien verlassen, das Gesetz brechen und sich in ihren Dörfern verhasst machen. Die Frau des alten Luo … Übrigens kenne ich bis heute ihren Namen nicht, sie ist eben seine Frau. Was wir mit dem Leichnam vorhaben, ist für sie Frevel. Sie stirbt lieber, als es zuzulassen.« Resigniert zeigte ich auf die Stadt, die ausgestreckt auf einer schmalen Landzunge zwischen dem Meer und den Bergen lag. »An der Küste gibt es noch Fuzhou, Amoy, Ningbo und Shanghai. Hier ein Dutzend Christen und da ein paar. Der Rest ist China, vierhundert Millionen Seelen.« Die Dämmerung brach herein, und ich wusste, dass ich meine Entscheidung nicht mehr länger aufschieben konnte. Nanking war der einzige Ort, wo ich das lähmende Gefühl loswerden würde, mit dem ich jeden Morgen aufstand. »Dir gefällt nicht, was du gesehen hast«, sagte ich, »aber so ist es eben. Wir meinen es gut und zerreißen Familien. Wir glauben, dass wir ihnen dafür etwas geben, das jedes Opfer wert ist, aber wir müssen das Opfer nicht bringen. Den alten Luo können wir zwar christlich begraben, aber nicht auf unserem Friedhof.«

»Das wird sich ändern.«

»Vieles wird sich ändern, aber vermutlich nicht durch uns. Jetzt müssen wir weitergehen, ich habe keine Laterne dabei.«

Auf Hongkong wurde es schnell Nacht, und die Queens Road war die einzige beleuchtete Straße. Als wir dort ankamen, brannten die Gaslaternen bereits. Wir verabschiedeten uns vor dem Haus von Thomas und Sara, dann ging ich den Berg hinauf zu meiner Station. Der Regen ließ nach, um mich herum hörte ich Grillen zirpen und Frösche quaken und beschloss, noch am Abend einen Brief nach Basel zu schreiben. Wenn Inspektor Josenhans die Reise nicht genehmigte, würde ich den Dienst quittieren und auf eigene Faust aufbrechen. Es sei denn, Elisabeth überlegte es sich anders …

Meinen letzten Rückfall hatte ich zur Zeit des Frühlingsfestes. Schweißüberströmt lag ich im Bett und war nur frühmorgens klar genug, um zu merken, dass die Frauen mir Tee oder eine Suppe einflößten. Danach versank ich für den Rest des Tages in wirren Fantasien. Überall wurde geschossen ‒ vermutlich hörte ich die Knallfrösche, die auf dem Anwesen das neue Jahr einläuteten ‒, fremde Leute prügelten auf mich ein, und wenn ich mich wehren wollte, hatte ich keine Hände. Meine Hilferufe blieben ungehört, ich war allein in einer feindlichen Welt, die mir nach dem Leben trachtete.

Nach zwei Wochen sank das Fieber, und die beiden Frauen legten sich ins Zeug, um mich wieder aufzupäppeln. Jeden Morgen bekam ich Hühnersuppe mit Ginseng und Ei, mittags Reis und Fleisch, zwischendurch schaute eine von ihnen vorbei, um den Tee nachzuschenken oder mir etwas Obst zu bringen. Ich war dankbar für ihre Fürsorge, und sobald sie gegangen waren, sehnte ich den nächsten Besuch herbei, aber am meisten wünschte ich mir, endlich das Bett zu verlassen. Seit Monaten war die Sonne nichts als ein bleicher Punkt hinter Papier, ich wollte sie endlich auf der Haut spüren und den Himmel sehen, alles Weitere würde sich schon ergeben. Mitten durchs Kriegsgebiet nach Nanking zu reisen, kam nicht infrage, eine Rückkehr nach Hongkong ebenso wenig, und als ich allmählich kräftiger wurde, begannen sich meine Gedanken auf Shanghai zu richten. Dort lebten Ausländer, die Potter und mich aufnehmen konnten, vielleicht gab es sogar eine sichere Route den Yangtze hinauf. Vorher allerdings brauchten wir Geld. Unser Gastgeber befand sich auf Reisen, sagten die Frauen, werde aber bald zurückkehren, und mein Gefährte war zuversichtlich, dass er uns alles geben würde, was wir benötigten. »So viel wir wollen«, sagte er, als ich ihm den Plan eines Tages vorstellte. »Hauptsache, wir hauen ab von hier. Er kann es kaum erwarten.«

»Wieso, hast du den Magistrat getroffen?«, fragte ich überrascht und setzte mich im Bett auf. »Ich dachte, er ist nicht da.«

»Zum Frühlingsfest war er hier. Ich konnte ihn so wenig verstehen wie er mich, aber mein Eindruck ist, wir sind hier nicht willkommen.« Potter saß wie immer auf dem Boden und hantierte mit seiner Pfeife. »Die Wachen auf dem Anwesen tragen Lanzen und Schwerter.«

»Wahrscheinlich gefällt ihnen nicht, dass du ein Gewehr hast.«

»Wahrscheinlich wissen sie nicht, dass ich keine Kugeln mehr habe. Man kriegt nirgends welche.«

Mir fiel auf, dass er sich neu eingekleidet hatte. Der Mantel war noch derselbe, aber über der Hose trug er einen ledernen Schutz, der auf der Rückseite geschnürt wurde wie die Unterkleider einer Frau. Als ich fragte, ob er in Jiujiang gewesen sei, schüttelte er den Kopf. »Wir wurden ans östliche Ufer gespült«, sagte er. »Hätten die dreckigen Matrosen uns nicht verraten, wären wir längst am Ziel. Direkt unter unserem Felsen fließt der Yangtze vorbei.« Mit dem Daumen wies er über die Schulter. »Jiujiang liegt westlich von hier. Also die Ruinen, die mal Jiujiang waren, bevor deine langhaarigen Freunde kamen.«

»Wie heißt die Stadt, die ich draußen höre?«

»Du hörst den Hafen am See. Das nächste Kaff heißt Hukou oder so ähnlich.«

»Hast du dir dort die Lederstrümpfe gekauft? Erinnert mich an ein Buch, das ich …«

»Ich hatte viel Zeit, während du nach deiner Frau geschrien hast«, unterbrach er mich und drückte mit der Fingerspitze den Tabak fest. »Elisabeth, huh?«

»Das geht dich nichts an.«

»Hongkong-Fieber?«

»Wie gesagt … Sie war auch nicht meine Frau.« Ich war froh über seine Anwesenheit ‒ die Langeweile fand ich fast schlimmer als die Schmerzen ‒, aber über Elisabeth wollte ich nicht mit ihm sprechen. Stattdessen fragte ich, aus welcher Gegend in Amerika er stammte.

»Aus der falschen«, sagte er gewohnt ausweichend.

»Was hat dich nach China geführt?«

»Ein entlaufener Sklave, den ich die Küste rauf- und runtergejagt habe. Auf einmal war er wie vom Erdboden verschluckt. Hatte wahrscheinlich längst auf einem Walfänger angeheuert oder sich nach Europa abgesetzt.«

»Bist du dir eigentlich für nichts zu schade? Sklavenjäger!«

»Sprach der Pfaffe, der den Leuten die Seele raubt.« Er zündete die Pfeife an und nahm einen tiefen Zug. Während meiner langsamen Genesung entwickelte sich zwischen uns eine gewisse kumpelhafte Vertrautheit. Dass ich die Amputation meiner Hand überlebt hatte, schien Potter Respekt abzunötigen. Auf seine Weise war er ein ehrlicher Mann.

»Also hast du beschlossen, dich auch abzusetzen?«, fragte ich. »Nach China?«

»Die Seeotter waren alle tot, die Sache in Kalifornien hatte ich verpasst. Plötzlich hieß es, Opium ist das neue Gold. Von Salem und New York aus fuhren die Schiffe ab.«

»Nimm's mir nicht übel, aber als wir uns in Kanton trafen, sahst du nicht aus, als hättest du ein Vermögen gemacht.«

»Gemacht und wieder verloren. Lange Geschichte. Mir kam jemand in die Quere.«

»Jemand, der jetzt in Nanking lebt?«

»Hör zu, wir beide haben zusammen drei Augen und drei Hände, für China reicht das. Iss weniger Opium und fang an, dich zu bewegen. Wir müssen hier weg, bevor jemand merkt, dass mein Gewehr nicht geladen ist.« Damit stand er auf und ging hinaus, ohne die lange Geschichte erzählt zu haben. Im Türrahmen sah ich denselben Ausschnitt der Welt wie seit Monaten. Der Winter war vorbei, das Licht im Garten wurde heller, und auf einmal spürte ich ein Zucken in meiner unsichtbaren Hand.

Wenige Tage später verließ ich zum ersten Mal das Zimmer.

Es war ein sonniger Morgen, an dem mir das Frühstück von der dritten Schwester allein gebracht wurde. Sie war die schweigsamere der beiden und sprach kein Wort, während sie wartend neben dem Bett stand. Als ich fragte, ob sie von hier oder aus einer anderen Provinz stamme, schüttelte sie nur den Kopf. Ob sie vielleicht aus Jiangsu komme, hakte ich nach in der Hoffnung, zu erfahren, was in den letzten Monaten in Nanking passiert war. Eine Weile sah sie mich aus traurigen Augen an, ohne dass ihr eine Antwort über die Lippen kam. Meine Erinnerung an die Amputation war verschwommen, aber ich bildete mir ein, dass sie es war, die meinen Kopf gehalten hatte. Etwas an ihr reizte und interessierte mich. Mit ihrer hellen Haut konnte sie nicht auf dem Land groß geworden sein, trotzdem hatte sie normale Füße und bewegte sich mit einer Grazie, die man in China selten sah. Außerdem war sie sehr jung, eher ein Mädchen als eine Frau, und es mochte an der Befangenheit liegen, die ich plötzlich empfand, dass ich nach dem Essen erklärte, aufstehen und hinausgehen zu wollen. Die hereinwehende Luft roch nach Frühling. Ich konnte es kaum erwarten.

Wortlos zog sie den Holzstuhl nach draußen. Seit dem Verlust meiner Hand hatte ich keine Träne vergossen, aber als ich auf die dritte Schwester gestützt mit unsicheren Schritten zur Tür schlich, konnte ich mich nicht länger beherrschen. Unter der rechten Hand spürte ich die zarte Schulter des Mädchens, und durch die offene Tür fiel Sonnenlicht herein, als wollte es mir entgegenkommen. Dann hatte ich die Schwelle erreicht und glaubte, zu schweben. Das Anwesen lag auf halber Höhe zwischen See und Himmel. Vor mir ragte eine Pagode in die Morgenluft, dahinter fiel das Land zum Wasser hin ab, und im ersten Moment wusste ich kaum, wohin ich schauen sollte. Das ungewohnte Licht tat mir in den Augen weh. Überall plätscherte, summte und zwitscherte es, Aprikosen- und Pflaumenbäume spendeten Schatten, eine laue Brise wehte rosafarbene Blüten durch die Luft. Sachte dirigierte meine Begleiterin mich zu dem Stuhl. ›Pflaumenblüten-Pavillon‹ stand über der Tür, die so lange die Grenze meiner Welt gebildet hatte. Um das Gebäude herum lief eine schmale Terrasse. Mit einem Tuch wischte mir die dritte Schwester über Augen und Wangen, so aufmerksam war sie selten, aber als ich den Kopf wendete, sah ich, dass auch sie weinte. Jiangnan hieß die Region am Unterlauf des großen Flusses, in deren Richtung wir schauten; vor dem Krieg hatte sie zu den reichsten des Landes gehört, jetzt war es die am heftigsten umkämpfte. Ich fragte, ob sie von dort stammte, und erneut schüttelte sie nur den Kopf. Als ich nach ihrer Hand griff, um sie zu trösten, fuhr sie erschrocken zusammen. Sofort ließ ich los und hörte im nächsten Moment ein unterdrücktes Kichern, das aus dem Strauch vor der Terrasse kam. Grinsend kletterten drei kleine Jungen aus ihrem Versteck. Trotz des schönen Wetters trugen sie Jacken aus wattierter Seide, zeigten mit dem Finger auf mich und riefen etwas, das wie ›ausländischer Teufel‹ klang. Sie benahmen sich wie die verwöhnten Söhne eines mächtigen Mannes, und ihre nächste Beleidigung schien sich an die dritte Schwester zu richten. Plattfüßiges Biest, wenn ich es richtig verstand. Wütend nahm sie einen Stein in die Hand und schleuderte ihn nach den Kindern, die lachend davonrannten. Als ich mich das nächste Mal umblickte, war auch meine Begleiterin verschwunden.

In der Ferne sahen die Boote auf dem See aus, als würden sie stillstehen.

Fortan verließ ich mein Zimmer täglich. Zuerst saß ich nur auf der Terrasse, dann wurde ich unternehmungslustiger und machte kleine Spaziergänge über das Anwesen. Es gab ein imposantes doppelstöckiges Haupthaus mit geschwungenen Dächern und so vielen Fenstern, dass ich beim Zählen durcheinandergeriet. Der Hausherr ließ sich immer noch nicht blicken, die Schwestern sagten, er besuche den Gouverneur in Nanchang, aber zwei Tage später brach hektische Betriebsamkeit aus. Bedienstete eilten zwischen den Gebäuden hin und her, und am Abend geisterte das Licht von Fackeln durch den Garten. Ja, der Magistrat sei zurück, bestätigte mir die dritte Schwester am nächsten Morgen. Ich fragte, ob ich ihn sprechen könne, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Seit dem Vorfall mit den Kindern wirkte sie ängstlich und sprach fast gar nicht mehr. Entweder hatte ich sie verschreckt, oder sie war ermahnt worden, nicht so freundlich zu dem ausländischen Teufel zu sein.

Auf das Gespräch mit dem Hausherrn allerdings musste ich nicht mehr lange warten. Ein Diener erschien und kündigte an, Magistrat Wang werde mich am Nachmittag im Pavillon aufsuchen. Ich bat darum, einen zusätzlichen Stuhl auf die Terrasse zu stellen. Dort saß ich und sah gespannt meiner ersten Zusammenkunft mit einem chinesischen Mandarin entgegen. Ein anderer Diener brachte duftenden Tee, ihm folgte Herr Shi, der mit den Fingerspitzen die Tassen zurechtrückte, den freien Stuhl zurückzog und ein Blatt vom Boden aufhob, bevor er sich grußlos entfernte. Der Magistrat hingegen, der schließlich den Weg vom Haupthaus herabkam, erwies sich als das Gegenteil seines mürrischen Verwalters. Er winkte schon von weitem und strahlte Energie und eine verschmitzte Freundlichkeit aus, die mich gegen meinen Willen für ihn einnahm. Seine blaue Robe war auf der Brust bestickt, am Gürtelband hingen die üblichen Utensilien, ein Fächer, die Essstäbchen und das kleine Seidensäckchen mit dem Siegel. Erst als ich aufstand, um seinen chinesischen Gruß zu erwidern, fiel mir ein, dass ich dafür eine Hand zu wenig besaß. »Jaja, ich habe es gehört«, sagte der Magistrat und zeigte auf meine Verletzung, meinte aber etwas anderes. »Ich habe gehört, dass Sie Chinesisch sprechen. Stimmt das?«

»Ich bemühe mich«, sagte ich.

Kopfschüttelnd drehte er sich zu seiner Gefolgschaft um, die vor den Stufen der Terrasse Halt gemacht hatte. Vier bewaffnete junge Männer mit frisch rasierter Stirn und starrer Miene. »Ein ausländischer Teufel, der unsere Sprache spricht. Was es alles gibt.« Ihm antworteten pflichtschuldige Bekundungen des Erstaunens, und ich erlaubte mir den Hinweis, dass yang guizi ein abwertender Ausdruck war, den ich nicht gerne hörte. »Unhöflich, nicht wahr?«, rief der Magistrat lebhaft aus. »Sie müssen verzeihen, ich habe noch nie einen … einen …«

»Ausländer?«

»Ja. Noch nie einen getroffen. Einen leibhaftigen Ausländer. Wo ist die andere Hand?«

»Ich hatte eine Verletzung.«

»So ein Pech auch. Immerhin sind Sie wieder wach. Während des Frühlingsfestes waren Sie nicht ansprechbar, wurde mir gesagt. Trinken wir Tee!« Kaum hatte er Platz genommen, sprang einer der Männer herbei, um uns einzuschenken. Während der Magistrat trank, ließ er mich keine Sekunde aus den Augen. »In Kanton und in Shanghai, überall gibt es neuerdings solche … Ausländer. Niemand weiß, woher sie kommen und wann sie wieder gehen.«

»Ich bin sehr dankbar für Ihre Gastfreundschaft. Es ist …«

»Waren Sie nicht zu zweit hier?«, unterbrach er mich. »Einer mit einem Auge und Sie mit einer Hand. Sind alle Ausländer so?«

»Wir wurden unterwegs überfallen«, sagte ich. »Mein Begleiter und ich.«

»So ein Pech aber auch!« Seine Hand wies über das Gewässer. »Alles voller Piraten, der ganze See. Man hat sie aus dem Süden vertrieben, nun sind sie hier.«

»Könnten es nicht auch kaiserliche Soldaten gewesen sein?«

Diese Vermutung schien den Mann zu amüsieren, aber je länger er mich musterte, desto unbehaglicher wurde mir zumute. »Sie kennen sich in China nicht aus«, entschied er brüsk. »Es waren Piraten oder langhaarige Banditen. Soldaten tun so etwas nicht. Trinken Sie Ihren Tee, trinken Sie!« Er winkte einen Mann herbei, der mir nachschenkte, obwohl ich noch keinen Schluck probiert hatte. »Auf dem Weg nach Shanghai, nehme ich an?«

Ich nickte.

»Sie müssen in den Tempel gehen und beten, ehe Sie aufbrechen. Vielleicht wird Guanyin Sie beschützen. In China können Sie schlecht zu Ihren eigenen Göttern beten, nicht wahr? Die kennen sich hier auch nicht aus, und es ist ein gefährliches Land.«

»Können Sie mir etwas über die Situation im Norden sagen?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. »Stimmt es, dass im letzten Jahr an der Peiho-Mündung gekämpft wurde?«

»Allerdings«, antwortete er stolz. »Wir haben die englischen Teu… Sie wissen schon, wir haben ihnen eine gründliche Abreibung verpasst.«

»Was, glauben Sie, wird als Nächstes passieren?«

»Sie werden zurückkommen, und wir werden sie wieder schlagen«, sagte er, aber bevor ich fragen konnte, was ihn so zuversichtlich machte, sprang er auf und bedeutete mir, ihm zu folgen. »Kommen Sie, machen wir einen Spaziergang. Ich will Ihnen etwas zeigen.«

Mit Mühe folgte ich ihm in den unteren Teil des Gartens. Wegen der schmalen Wege und Treppen hatte ich diesen Bereich auf meinen Spaziergängen bisher ausgespart, jetzt passierten wir ein paar Felsen und betraten eine natürliche Empore, von der aus der Blick weit über das Wasser reichte. Unzählige Boote fuhren darauf und schienen einer unsichtbaren Linie von West nach Ost zu folgen. Der Yangtze, dachte ich, hatte aber keine Zeit, mich in den Anblick zu vertiefen. Magistrat Wang steuerte einen offenen Pavillon an und winkte mich zu sich. Sobald ich ihm gegenübersaß, wurde das Tablett mit Tee zwischen uns abgestellt. »Dies hier ist der Lieblingsplatz eines berühmten Mannes«, verkündete er stolz. »Ich hatte einige Male die Ehre, ihn zu empfangen. Von ihm können Sie etwas darüber lernen, wie man mit Rückschlägen umgeht. Der Yangtze kurz vor Hukou ist der Ort seiner größten Schmach. Vor einigen Jahren geriet er dort in einen Hinterhalt und verlor fast seine komplette Flotte. Der Gesichtsverlust war so schlimm, dass er versuchte, sich das Leben zu nehmen. Seine Leute mussten ihn aus dem Wasser ziehen. Anschließend hat er dem Kaiser geschrieben und um seine Bestrafung gebeten. Sehen Sie die Schriftzeichen dort an der Wand? Ich nehme an, Sie können das nicht lesen.«

Ich wendete den Blick und brauchte einen Moment, um zwischen den Verzierungen eine Kalligraphie zu erkennen. Eine Reihe kurzer Sentenzen, die man in die Wand geschnitzt und mit roter Farbe nachgezeichnet hatte. »Handle mit äußerster Vorsicht«, las ich. »Wenn du dein Ziel verfehlst, such den Grund in dir selbst.«

Magistrat Wang deutete eine Verbeugung an. »Sie können lesen, das ist bemerkenswert. Es sind die Worte eines großen Gelehrten, der um seine Unzulänglichkeit weiß. Im vorletzten Jahr war er zuletzt hier, zusammen mit einem seiner Brüder. Der ist wenig später in der Schlacht von Sanhe gefallen, es waren ihre letzten gemeinsamen Tage.«

Erweitere dein Wissen und strebe voran, las ich an einer anderen Stelle, bis zur letzten Stunde deines Lebens. »Wie heißt der Mann?«, fragte ich und erfuhr, dass es sich um General Zeng Guofan handelte, den Anführer der Hunan Armee. Hong Jins Erzfeind.

»Sie haben von ihm gehört?«, fragte der Magistrat erstaunt. »Sind Sie sicher, dass Sie kein Chinese sind? In den westlichen Provinzen gibt es welche, die sehen genauso komisch aus wie Sie.«

»Erzählen Sie mir von ihm. Wie wird aus einem Gelehrten ein Kriegsherr?«

»Die Umstände verlangten danach.« Betrübt schüttelte der Magistrat den Kopf. »General Zeng hat zu Hause um seine verstorbene Mutter getrauert, als ihn zum ersten Mal der Befehl ereilte, eine Armee gegen die Langhaarigen aufzustellen. Hat er gezweifelt? Jeden Tag. Fand er die Aufgabe zu groß für sich? Unbedingt. Hat er versucht, sich ihr zu entziehen? Niemals! Vier Jahre hat er den Kampf geführt, dann starb sein Vater. Wieder ging er nach Hause, um zu trauern, wieder kam ein Befehl. Es ging nicht ohne ihn. Also band er sich das schwarze Band um und zog erneut in den Krieg. Ich weiß nur eins, hat er zu mir gesagt, er saß genau dort, wo Sie jetzt sitzen, wir müssen sie besiegen, weil es der Wille des Himmels ist.«

»Trotzdem hätte er beinahe sein Leben aufgegeben, sagten Sie.«

Mit einer eleganten Bewegung schlug der Magistrat den Ärmel seiner Robe zurück und griff nach dem Teebecher. »Die Langhaarigen haben die eigenen Boote in Brand gesetzt und sie in seine Flotte treiben lassen. Der ganze See stand in Flammen. Dass er sich das Leben nehmen wollte, war eine Frage der Ehre.« Prüfend sah er mich an. »Spielen Sie Go?«

Ich wusste nicht, was er meinte, und schüttelte den Kopf.

»Der General spielt, wann immer es geht. Es gibt ihm Kraft. Sehen Sie, ein Go-Spieler muss so besonnen handeln wie ein Denker, aber so furchtlos denken wie ein Mann der Tat. Das ist es, was ihn auszeichnet.« Der Blick aus seinen kleinen harten Augen wurde bohrend. Es war merkwürdig, einem Mann gegenüberzusitzen, der nicht zögern würde, meinem besten Freund den Kopf abzuschlagen. Oder mir, wenn er um unsere Verbindung wüsste. »Ich weiß, dass die Langhaarigen im Süden viel Unterstützung erfahren«, sagte er, »aber hier nicht. Hier haben die Menschen sie erlebt.«

»Sie auch?«, fragte ich etwas zu schnell.

»So wie jeder. Vor drei Jahren war ich auf Reisen in der Provinz Anhui. Ich hatte an der Küste zu tun gehabt und wollte die Gelegenheit nutzen, mir ein Bild der Lage auf dem Land zu machen. In einem Ort namens Qimen lebte ein alter Freund, ein Teehändler. Ich hatte ihn schon oft besucht und kannte den Weg, also habe ich den Großteil meiner Männer nach Hause geschickt und mich zu ihm aufgemacht.« Der Magistrat hielt inne, um zu trinken. Auf einmal wirkte er nicht mehr so aufgekratzt wie zuvor. »Einige Wochen vorher hatten die Banditen einen großen Sieg errungen und eine ganze Armee vernichtet. Wie besoffen davon zogen sie nach Westen. Alle jungen Männer, die ihnen in die Hände fielen, wurden zwangsrekrutiert. Was mit den Frauen geschah … nun, jeder wusste es, aber als die Nachricht ihres Vormarschs Qimen erreichte, war es bereits zu spät, um zu fliehen. Der Ort verfügt über solide Mauern, trotzdem brach auf der Stelle Panik aus. Es stürzten sich so viele Frauen in den Brunnen, dass er verstopfte. Sie erhängten sich an Türbalken, sprangen in den Fluss oder erstachen sich mit Küchenmessern. Eltern erdrosselten ihre Kinder im Schlaf, bevor sie Hand an sich legten. Mein Freund war Witwer, und die Kinder lebten anderswo, also blieb ihm das erspart. Gemeinsam versteckten wir den Familienaltar und was die Banditen in ihrem Fanatismus sonst noch anstößig finden könnten. Ich warf meine Amtsrobe fort und vergrub das Siegel vor der Stadt. Sogar die Sänfte, mit der ich gekommen war, befahl ich den Trägern zu verbrennen. Dann begann das Warten. Drei Tage saßen wir im Haus und tranken den Tee, für den Qimen so berühmt ist. Sogar die englischen Teufel, wurde mir erzählt, mögen ihn. Bei Ihnen zu Hause gibt es keinen, nicht wahr?« Kopfschüttelnd blickte er zu seinen Männern, die neben dem Pavillon strammstanden. »Länder ohne Tee. Kein Wunder, dass sie alle zu uns kommen.«

»Was geschah nach drei Tagen?«, fragte ich.

»Meine Geschichte interessiert Sie? Nun, das freut mich, aber zunächst geschah nicht viel. Nur eine Vorhut der Banditen kam in den Ort. Ein Dutzend Männer mit verdreckten Haaren, am Dialekt als Kämpfer aus dem Süden zu erkennen. Alle trugen Gewänder aus gelber und roter Seide, mit Tüchern im Haar und Schmuck an den Händen. Wie herausgeputzte Affen sahen sie aus. Sie kündigten an, dass ihr Anführer in den nächsten Tagen in den Ort kommen werde. Den Bewohnern wurde befohlen, einen gelben Wimpel an der Haustür zu befestigen und das Zeichen für ›Gehorsam‹ daraufzuschreiben. Außerdem verlasen sie eine Liste von Dingen, die ab sofort verboten waren: Opium und Alkohol natürlich, Tabak ebenso. Der Besuch des Dorftempels war nicht länger erlaubt, Frauen durften ihre Füße nicht mehr binden. Sie taten, als gehörte alles ihnen, und als sie abzogen, ließen sie auf dem Stadttor ihre Fahne zurück. Ich hätte sie am liebsten mit ihren eigenen Ohren gefüttert, aber was sollte ich tun? Im Nu hing an jeder Tür ein Wimpel und versprach Gehorsam. Die einen rauchten ihre letzte Opiumpfeife und tranken den Wein aus, die anderen schütteten lieber alles weg. Und die Frauen? Als Ausländer finden Sie die Sitte des Füßebindens abstoßend, nehme ich an. Sie mögen Frauen mit großen Füßen. Solche wie das Mädchen, das Ihnen das Essen bringt, hab ich recht? Man sagt mir, sie gefällt Ihnen.« Spöttisch sah er mich an, aber als ich nichts erwiderte, fuhr er mit der Erzählung fort. »Wie auch immer, sind die Füße einmal gebunden, kann man die Binden nicht einfach abnehmen. Es schmerzt, wissen Sie. Manche Frauen versuchten es, keine hielt es aus. So vergingen wieder einige Tage. Mein Freund und ich nutzten die Zeit, um in einem Zimmer ein kleines Versteck einzurichten. Hinter dem Schrank, es war allenfalls gut genug für den Fall einer oberflächlichen Suche. Uns ging es darum, die Zeit nicht tatenlos zu verbringen.«

»Sie trauten den Ankündigungen nicht?«

»Würden Sie einem Hund trauen, der Ihnen verspricht, das Bellen zu lassen? Es sind Tiere, und so muss man sie behandeln. Natürlich dauerte es nicht lang, bis sie ihr wahres Gesicht zeigten. Beim nächsten Besuch erschien die ganze Armee. Wir hörten den Lärm und spürten das Vibrieren des Bodens, lange bevor die ersten Truppen auftauchten. Der Ort war zu klein, um alle aufzunehmen, es war eher ein Durchmarsch als ein Einzug. Voran marschierten die Affen aus Guangxi, gefolgt von drei Sänften, in denen angeblich Generäle saßen, die wir aber nicht zu Gesicht bekamen. Die Bewohner knieten im Staub, um ihren Gehorsam zu bezeugen. Ich stand am Wegrand und sah mir das Spektakel an. Die Aufmachung der Banditen wurde immer grotesker. Ihre Haare waren nicht mehr so lang, dafür steckte Schmuck aus Tierzähnen darin. Sie trugen Amulette und hatten Brandzeichen auf der Haut. Rinder und Schweine wurden durchs Dorf getrieben, plattfüßige Frauen schleppten Kochtöpfe, sogar Kinder waren dabei. Ich sah Männer mit Beilen aus Stein, manche waren betrunken, einer hatte sich das Fell eines Bären über den Kopf gezogen und tanzte.« Kopfschüttelnd hielt er einen Moment inne. »So sah sie aus, die Himmlische Dynastie des großen Banditentums. Natürlich gab es auch Männer in Uniform, die einen Anschein von Ordnung aufrechtzuerhalten suchten. Eine Weile, das gebe ich zu, hoffte ich, der Spuk werde vorübergehen und nichts außer Staub zurückbleiben. Übrigens sehen Sie ein wenig mitgenommen aus, wenn ich das sagen darf. Warum hat der Einäugige Ihnen denn die Hand abgeschnitten? Wenn Sie wollen, kümmern wir uns um ihn, der See ist groß.« Gleichgültig sah er mich an.

»Die Wunde war entzündet«, erwiderte ich. »Er hat mir das Leben gerettet, und sobald ich genesen bin, werden wir gemeinsam aufbrechen.«

»Wie Sie meinen.«

»Was geschah dann?«

»In Qimen? Nun, ein Bandit bekam Durst und wollte Tee haben. In ihrem Eifer hatten die Bewohner draußen Tische aufgestellt, mit Obst, gefüllten Teigtaschen und dergleichen mehr. Alles, was sie besaßen, boten sie diesen Verbrechern an, aber am frühen Nachmittag war es aufgebraucht. Als der Bandit zu einem der Tische ging und von der alten Frau dahinter Tee verlangte, sagte sie, sie müsse erst frisches Wasser holen. Sofort, erwiderte er. Sie wollte loseilen, um seinen Befehl auszuführen, aber … Sehen Sie, wir Chinesen glauben, dass die menschliche Natur gut ist. Sie ist gut, und man muss sie pflegen, damit sie so bleibt. Aber in den Herzen der Banditen gibt es nichts Gutes, das ist das Problem. Wenn Sie mir nicht glauben, hören Sie zu. Die alte Frau hatte unterwürfig mit ihm gesprochen. Ohne Wasser konnte sie ihm keinen Tee zubereiten, also tippelte sie auf ihren gebundenen Füßen zum Haus, und vielleicht waren es die Füße. Ich weiß es nicht. Der Bandit machte zwei Schritte und packte sie an der Schulter. ›Haben wir euch nicht verboten, die Füße zu binden‹, brüllte er. Auf einmal waren alle Augen auf ihn gerichtet, wie er sein Schwert zückte und die alte Frau anschrie. Jemand aus ihrer Familie stürzte nach vorne und flehte um Gnade, aber was nützt es, ein wildes Tier anzuflehen. ›Haben wir es euch nicht verboten?‹, brüllte er. Mit einer Hand zwang er die Frau auf den Tisch. Den Verwandten, der dazwischengehen wollte, streckte er mit einem Tritt nieder. Sofort waren weitere Banditen in der Nähe und zückten die Schwerter. Auf einmal ging alles sehr schnell.«

»Er hat die alte Frau umgebracht«, entfuhr es mir. Meine Kehle fühlte sich trocken an, aber ich war unfähig, die Hand nach der Tasse auszustrecken.

»Aber woher denn.« Der Magistrat schüttelte den Kopf. »Er schlug ihr die Füße ab.«

»Er schlug ihr …«

»Jaja. Der erste Hieb war so gewaltig, dass er nicht nur einen Fuß abtrennte, sondern den Tisch zertrümmerte. Schreiend fiel die Frau zu Boden, aber er hieb weiter auf sie ein und … Ich weiß nicht mehr, ob ich es in jenem Moment sah oder später erfuhr. Chaos brach aus. Bewohner flüchteten in ihre Häuser, mein Freund zog mich mit sich. Wir versteckten uns und konnten nicht sehen, was draußen geschah, aber der Lärm verriet es. Menschen rannten um ihr Leben, Türen wurden eingetreten, auch unsere, aber wir hatten Glück. In ihrem Blutrausch gingen die Banditen hastig vor. Sie suchten nicht nach Opfern, sondern metzelten einfach nieder, was ihnen über den Weg lief. Die Dörfer in den Bergen sind eng gebaut, müssen Sie wissen, die meisten Häuser klein und einfach ‒ sie brauchten nicht zu suchen.« Damit verstummte er und starrte einen Moment auf den Tisch. Von meiner Stirn lief Schweiß. Früher in Victoria hatte ich viele Gerüchte gehört, und unterwegs war ich den buddhistischen Mönchen begegnet, aber mit einem Augenzeugen sprach ich zum ersten Mal. »Wie lange …« Ich musste mich räuspern und neu ansetzen. »Wie lange dauerte es?«

»Nicht allzu lange. Es war eine Armee auf dem Durchmarsch, sie wollten sich nicht aufhalten. Später hörte ich, dass es in anderen Dörfern zu ähnlichen Szenen gekommen war, aber nicht in allen. Es geschah, oder es geschah nicht, so wie wilde Hunde manchmal angreifen und manchmal nur bellen. Jedenfalls war es noch hell, als sich Stille über das Dorf legte. Was wir beim Verlassen des Verstecks sahen, erspare ich Ihnen«, sagte er, als habe er den Beschluss soeben gefasst. »Ich fürchte, die Geschichte trägt nicht zu Ihrer Genesung bei. Sie sind auch einer von denen, die Sympathien für die Banditen hegen, das habe ich mir gleich gedacht. Wahrscheinlich würden Sie mich gerne der Lüge bezichtigen.«

»Ich glaube Ihnen«, versicherte ich.

»Schön. Ihre seltsame Religion kenne ich nicht und will davon auch nichts wissen. Sie werden behaupten, die Banditen hätten sie falsch verstanden oder mutwillig verändert, und vielleicht ist es so. Trotzdem waren es Ihre Hände, aus denen diese Mörderbande sie empfangen hat. Ich meine natürlich nicht Ihre persönlich, Sie haben ja nur noch eine. Wann haben Sie vor, aufzubrechen?«, fragte er und verbarg nicht länger, dass er mich so schnell wie möglich loswerden wollte. Eher deutete sein Blick an, dass er hinsichtlich der Mittel nicht wählerisch sein würde.

»Wie gesagt, ich bin dankbar für Ihre Gastfreundschaft«, sagte ich überrumpelt. »Leider habe ich …«

»Der Einäugige muss gehen. Er verängstigt meine Frauen und Kinder, und die Zeit drängt. Sehen Sie, in den letzten Jahren waren die Banditen auf dem Rückzug. Sie halten nur noch wenige Städte entlang des Flusses, aber wie es heißt, haben sie einen neuen Befehlshaber.«

»Einen neuen Befehlshaber?«

»Er soll ein Verwandter des Ober-Banditen sein, der sich Himmlischer König nennt. Seit er aufgetaucht ist, sind sie wieder auf dem Vormarsch. Gut möglich, dass sie in diesem Frühjahr den Ausbruch aus der Belagerung wagen werden. Sehen Sie«, sein Arm wies nach Osten, wohin die meisten Schiffe unterwegs waren, »von dort werden sie kommen, den Fluss herauf. Sie und Ihr Begleiter können nicht bleiben, es ist zu gefährlich. Wenn Sie wollen, dürfen Sie die Kleine mit den hässlichen Füßen mitnehmen. Ich habe etwas über ihre Familie erfahren, das mir nicht gefällt. Interesse? Ein Wort, und sie gehört Ihnen.«

Irritiert schüttelte ich den Kopf. »Wie kommen wir von hier nach Shanghai?«

»Wenn Sie nicht durch die Berge reisen wollen, müssen Sie einen Bogen schlagen. Südlich des Flusses, bis Hangzhou, von dort fahren Boote nach Shanghai.«

»Leider haben wir bei dem Überfall alle unsere Sachen verloren.«

»Es wird mir eine Freude sein, Ihnen eine Eskorte zu stellen. Ich muss sowieso einige Dinge in Sicherheit bringen, bevor die Banditen zurückkehren.« Damit erhob er sich, aber als ich es ihm nachtun wollte, winkte er ab. »Bleiben Sie sitzen, genießen Sie die Aussicht. General Zeng Guofan hat immer gesagt, sie verleihe ihm Ruhe und Zuversicht. Es wird Ihnen jemand Bescheid geben, sobald die Eskorte bereit ist. Falls Sie die Kleine doch noch haben wollen, sagen Sie es dem Verwalter, ansonsten merken Sie sich eins: Am Ende wird der General den Krieg gewinnen. Der Kraft seiner moralischen Natur sind die Langhaarigen nicht gewachsen, verstehen Sie das? Wenn nicht, glauben Sie es einfach.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verbeugte er sich und ging. Seine Männer folgten ihm die Treppe hinauf.