16 Die Hauptstadt der kalten Winde

General Zeng Guofan in Peking
September/Oktober 1860

Erst in der Hauptstadt verstand er, wie nah das Ende war. Auf den ersten Blick hatte sie sich kaum verändert, aber in den Straßen, die der General von früher kannte, stieß er überall auf geschlossene Läden und patrouillierende Soldaten. Wer das Garnisonsviertel betreten wollte, wo die Mandschus lebten, wurde von bewaffneten Wachen aufgehalten, und vor den Toren zur inneren Kaiserstadt stapelten sich Sandsäcke. Nirgends war eine Sänfte zu bekommen. Die äußeren Stadttore glichen Wunden, die nicht aufhörten, zu bluten: Ein endloser Strom von Kutschen, Pferden und Kamelen, von Söhnen mit alten Müttern auf dem Rücken und Trägern, die unter ihrer Last zitterten, ergoss sich in die Ebene. Der nahende Winter hielt niemanden ab. Blinde und Lahme, schreiende Kinder und jammernde Alte zogen in alle Himmelsrichtungen davon. Keiner wollte in der Stadt sein, wenn die Barbaren anrückten.

War er zu spät gekommen?

Vor zweihundert Jahren hatten die stolzen Ming das Mandat des Himmels verloren. Der General kannte die Stelle auf dem Kohlenberg, wo sich ihr letzter Herrscher erhängt hatte, sie lag ganz in der Nähe des Palasts, aus dem vor wenigen Tagen der jetzige Kaiser geflohen war; mit einem Heer von Beamten und Beratern, Köchen und Konkubinen, nachts durch ein Seitentor, ohne Fanfaren oder öffentliche Proklamation. Trotzdem hatte sich die Nachricht in Windeseile verbreitet, und seitdem flohen die Massen. In den besseren Häusern blieben Wachen zurück, anderswo nutzten Plünderer die Gunst der Stunde. Auf einmal befand sich alles in Auflösung.

Mitte des achten Mondes war er eingetroffen. Erschöpft von dem Parforceritt und unsicher über das weitere Vorgehen. Fürs Erste quartierte er sich und seine Männer in der Nähe des Baoguo-Tempels ein und sandte Kundschafter aus. Alle außer Li Hongzhang hatten ihm von der Reise abgeraten. Es konnte sein, dass man ihn verhaftete, wenn sein Aufenthalt bekannt wurde, also verließ er sein Quartier nur ab und zu, um wie früher durch die Gassen des Liuli-Viertels zu streifen. Manchmal wurde er von Buchhändlern erkannt und auf eine Tasse Tee eingeladen, dann vergaß er für kurze Zeit, dass er sich im Krieg befand. Früher hatte er ganze Nachmittage in den Läden verbracht, wo es nach Tusche und Leim roch und sich ein Dutzend Männer die Köpfe heißredete über Verse aus dem Yijing. Vor dem Fenster hingen Holzkäfige mit bunten Sittichen, auf dem Tisch standen Porzellangeschirr, Schreibpinsel und kandierte Früchte. Schon damals hatten sich die Barbaren im Süden gebärdet, als gehörte das Land ihnen, aber niemand wäre darauf gekommen, dass sie eines Tages vor den Toren der Hauptstadt stehen könnten. Mit mehr als zehntausend Mann!

Nach fünf Tagen zog er ins Haus eines alten Freundes von der Akademie. Musikanten-Hutong hieß die Gasse östlich der Kaiserstadt, wo der Freund ein von Mauern umgebenes Anwesen bewohnte, in dessen Hof prächtige Magnolien wuchsen. Zum ersten Mal seit langem fand der General Zeit, Gedichte zu schreiben, und er bedauerte, dass sein Besuch nicht in den dritten Mond fiel, wenn im Norden die Magnolien blühten. Über zwanzig Jahre war es her, dass es ihn zum ersten Mal in die Hauptstadt gezogen hatte, einen ehrgeizigen jungen Mann aus der Provinz, der von einem Posten an der Akademie träumte. Damals hatte noch der alte Kaiser regiert, und Mushun war Zensor bei den Hauptstadtprüfungen gewesen, eines seiner vielen Ämter, die er dazu nutzte, um junge Talente zu fördern. Er war der Mann, um dessen Gunst die Neuankömmlinge wetteiferten; kein großer Gelehrter, sondern ein gewiefter Strippenzieher am Hof, dessen Augenlider einen müde lauernden Blick verbargen. Das Krokodil nannte man ihn. Berühmte Männer wie Lin Zexu, der kaiserliche Kommissar vor dem ersten Barbaren-Krieg, waren über ihn gestürzt. Wenige Tage nach der entscheidenden Prüfung hatte der General zum ersten Mal den Krokodilsblick auf sich gespürt. Eigentlich hätten seine Noten nicht für den Eintritt in die Akademie gereicht, aber Mushun wollte ihn trotzdem dort haben. Es hieß von ihm, er könne den Lauf der Gestirne umkehren, wenn er es wollte, und tatsächlich hatte sein langer Arm den General schließlich bis ins Kabinett befördert. Würde er jetzt bald zu denen gehören, die über das Krokodil stürzten?

Seine Bitte um eine Audienz blieb vorerst ohne Antwort.

Abends führten sein Freund und er lange Gespräche. In den amtlichen Mitteilungsblättern wurde über Vorgänge in fernen Provinzen berichtet, aber zur Flucht des Kaisers stand dort nur, er befinde sich auf Jagdurlaub in Rehe. Die Verhandlungen mit den Barbaren leitete sein jüngerer Bruder, Prinz Gong, über den man wenig wusste, obwohl er seit Jahren im Großen Rat saß. Je länger der General auf eine Antwort seines Mentors wartete, desto klarer wurde ihm, wie nebensächlich der Kampf gegen die Langhaarigen in der Hauptstadt war. Hier sprachen alle von den Barbaren, die Sankolinsins Armee geschlagen hatten, aber seitdem nicht weiter vorrückten. Warteten sie auf Verstärkung, bevor sie der Dynastie den Todesstoß versetzen würden? Innerhalb der Stadtmauern war noch kein ausländischer Teufel gesehen worden.

Zehn Tage dauerte es, bis er die erhoffte Einladung doch noch erhielt. Entweder war Mushun bei schlechter Gesundheit oder zurück auf der politischen Bühne. Am Morgen der Audienz fiel grauer, lautloser Regen. Vor dem Tor des Garnisonsviertels wurde der General empfangen und zu einem Gebäude bei den kaiserlichen Brücken geführt. Früher war sein Mentor der engste Vertraute des alten Kaisers gewesen, jetzt lebte er zwar im Ruhestand, aber immer noch im Dunstkreis der Macht. Der General trug seine beste Robe und hatte ein Päckchen mit Tee aus Qimen bei sich. Niemand hielt es für nötig, ihm einen Schirm anzubieten.

Nervös betrat er das spärlich möblierte Empfangszimmer. Geschlossene Fensterläden hüllten den Raum in Dämmerlicht. Als die Schritte der Wachen verklungen waren, drang kein Geräusch mehr an sein Ohr, selbst der Gesang der Vögel schien verstummt zu sein. Als hätte das Herz der Hauptstadt plötzlich aufgehört zu schlagen.

Eine Stunde lang saß er vollkommen still und wartete. Seine erste Audienz beim alten Kaiser fiel ihm ein; wie er den Palastdienern mit weichen Knien durch Höfe und Korridore gefolgt war und sich kaum getraut hatte, zu atmen. In der ›Halle zur Kultivierung der Natur‹ hatten sie ihn Platz nehmen lassen, und in den nächsten zwei Stunden saß er dort wie auf glühenden Kohlen. Hundertmal wiederholte er im Kopf seinen Text, bis schließlich ein Eunuch erschien und sagte, der Himmelssohn sei wegen dringender Geschäfte verhindert. Bei Bedarf werde man ihn am nächsten Tag erneut rufen. Erschöpft von der Anspannung war er ins Haus seines Mentors geeilt, um zu fragen, ob er etwas falsch gemacht hatte.

Welche Schriftrollen hingen an der Wand, fragte Mushun als Erstes.

Viele. Mehr konnte er nicht sagen.

Konzentrier dich, insistierte sein Mentor.

Er versuchte es, aber seine Eindrücke verschwammen. Kopfschüttelnd rief Mushun zwei Sekretäre, schickte sie mit einem Geldsäckchen aus dem Haus und befahl seinem Schüler, zu warten. Es wurde später Abend, ehe die Gehilfen mit mehreren beschriebenen Blättern zurückkehrten. Sie hatten die Palastwachen bestochen, sich in die Halle führen lassen und sämtliche Schriftrollen an den Wänden kopiert. Lern sie auswendig, sagte Mushun, vorher darfst du nicht gehen. Als draußen der Morgen dämmerte, war er nach Hause zurückgekehrt, am Nachmittag rief man ihn erneut in die Verbotene Stadt und führte ihn unverzüglich ins Audienzzimmer des Kaisers. Der Himmelssohn saß auf dem Thron und stellte nur eine Frage: Gestern hat Unser Diener in der Yangxing-Halle gewartet, kann er Uns sagen, was dort auf den Schriftrollen stand? Als jüngster Kandidat von allen war er bei der nächsten Palastprüfung in den zweiten Rang befördert worden. Seitdem verließ er keine Amtsstube, ohne jede Kalligraphie an der Wand auswendig zu kennen.

In Mushuns Haus allerdings waren die Wände nackt. Mandschus mochten es schlicht.

Als Schritte im Flur erklangen, sprang der General von seinem Platz auf. Im kühlen Klima des Nordens juckte sein Rücken weniger als sonst, aber jetzt flossen Schweißtropfen über die wunde Haut, und es brannte. Die Tür öffnete sich. Herein schlurfte ein gebeugter, alter Mann, den er kaum als seinen Mentor erkannte. Niemand sonst betrat den Raum, die Tür wurde von außen geschlossen. »Mein Lehrer, was für eine Freude!« Er machte zwei Schritte nach vorn und verbeugte sich tief. Als er wieder aufsah, war der Alte weitergeschlurft zum riesigen Schreibtisch, der den Raum dominierte wie ein Altar. Mit zitternder, knochiger Hand wies er auf den Stuhl, auf dem der General gewartet hatte. Eine knappe, beinahe rüde Geste. »Schön, dich zu sehen, mein Lieber. Setz dich.« Obwohl der Wechsel noch nicht verkündet worden war, trug Mushun bereits die Wintermütze. Wahrscheinlich beließ ihn der jetzige Kaiser nur aus Respekt vor seinem Vater am Hof, wo das Krokodil kein Amt mehr bekleidete und sein Ruf allmählich verblasste. Oder hatte sich die Lage durch Prinz Gongs Aufstieg verändert? Früher war Mushun dessen Erzieher gewesen.

»Es ist sehr großzügig von meinem Lehrer, mich zu empfangen. Und es freut mich, ihn bei guter Gesundheit anzutreffen.«

»Ganz meinerseits, lieber Disheng.« Sein Zweitname, gereinigte Wiedergeburt, den der General damals nach der Palastprüfung angenommen hatte. Es klang wie der Auftakt zu einer längeren Begrüßung, aber der alte Mann räusperte sich nur und ließ den Blick auf seinem Schüler ruhen. Der Spitzname passte immer noch.

»Natürlich wünschte ich, unser Wiedersehen fände unter glücklicheren Umständen statt. Nie habe ich die Hauptstadt in solchem Aufruhr erlebt. Ich wage mir kaum vorzustellen, wie sehr der Kaiser unter den Ereignissen leidet.«

Mushun kratzte sich am Kopf. Floskeln und bloße Höflichkeiten machten ihn seit jeher ungeduldig. »Wir verlangen nach deiner Armee«, sagte er, »und hier bist du ‒ allein. Nicht die Niedertracht seiner Feinde ist es, worunter der Kaiser leidet. Wer würde von Barbaren etwas anderes erwarten? Schmerzhaft sind die Zweifel an der Loyalität seiner Untertanen.«

»Ich bin persönlich gekommen, um die Gründe für mein Handeln darzulegen.«

»Wem, mir?«

»Als ich aufgebrochen bin, wusste ich nicht, dass sich der Kaiser nach Rehe zurückziehen würde. Ich hatte gehofft …«

»Vor das heilige Antlitz zu treten, ohne gerufen worden zu sein?« Mushun sprach kühl und knapp, aber die Mundwinkel umspielte ein Lächeln, so als wollte er seinem Schüler nur auf den Zahn fühlen. »Du bist weit gereist, mein Lieber. Kommst aus Qimen, hört man.«

Nickend stellte der General das Teepäckchen auf den Tisch. »Ein kleines Mitbringsel.«

Mushun sah es nicht einmal an. »Dem Ruf nach Shanghai wolltest du auch nicht folgen?«

»Einer meiner engsten Vertrauten wird mich dort vertreten, sobald meine Geschäfte in der Hauptstadt erledigt sind. Aus Qimen kann ich vorläufig nicht weg.«

»Außer, um hierherzukommen. Den Stellvertreter kenne ich, ein Grünschnabel aus Anhui. Schöne Handschrift, loses Mundwerk. Warum er?«

»Die wichtigste Lektion, die ich von meinem Lehrer gelernt habe, betrifft die Kultivierung von Talent. Inzwischen habe ich dabei selbst einige Erfolge erzielt. Li Hongzhang ist kein einfacher Mann, aber er hat mein Vertrauen.«

Die Antwort schien seinem Lehrer zu gefallen. »Die Kultivierung von Talent, hm? Bevor der Kaiser dich damals in den Kampf geschickt hat, wurden überall Meinungen eingeholt. Tang Jian, Wo Ren, deine Lehrer von früher. Die Antworten unterschieden sich kaum: Mäßig begabt, hieß es, aber er versteht es, Leute zu benutzen.«

»Das war es nicht, was ich meinte.«

»Humor hattest du noch nie.« Amüsiert schüttelte Mushun den Kopf. Trotz seiner vielen Titel und Ämter pflegte er die Ungeschliffenheit eines alten mandschurischen Bannermanns. »Offen gestanden, hat niemand geglaubt, dass aus dir ein Feldherr werden würde. Außer mir. Jeden deiner Schritte habe ich beobachtet, von Anfang an. Du hast Fehler gemacht, dein Hochmut stand dir im Weg. Immerzu denkst du, man kann den Tiger am Hintern berühren, deshalb hast du mehr Feinde, als du weißt, und weniger Freunde, als du brauchst.« Darauf wollte der General etwas erwidern, aber sein Mentor hob gebieterisch die Hand. »Trotzdem hast du eine Armee aufgebaut, beinahe aus dem Nichts. Am Hof hat man es kaum bemerkt. Es war clever von dir, in deinen Berichten das Wort Armee zu vermeiden und von einer Miliz zu sprechen. Mein Schüler, habe ich gedacht. Lässt sich erst in die Karten schauen, wenn sein Blatt gut genug ist. Offenbar glaubst du, dass es jetzt so weit ist. Hoffen wir, dass du dich nicht täuschst.«

»Ich wünschte, mein Lehrer hätte recht«, sagte er, die Drohung übergehend. »Leider bin ich als Bittsteller gekommen. Wir brauchen mehr Geld, mehr Männer und bessere Waffen. Die Langhaarigen sind uns zahlenmäßig weit überlegen, es fehlt an allem.«

»Sie setzen euch ganz schön zu, nicht wahr? Dabei sagst du selbst immer, dass es nicht auf die Zahl, sondern auf die Qualität der Soldaten ankommt. Ihr kämpft gegen den Abschaum des Reichs, Erdfresser aus dem Süden. In der Hauptstadt interessiert man sich eher für die Größe deiner Armee. Ein Generalstab von zweihundert Männern, man mag sich kaum vorstellen, was die alle machen. Du hast mehr Mitarbeiter als ein Gouverneur.«

»Ich bin der Generalgouverneur von drei Provinzen.«

»Und Chinese.« Mushuns Lippen schmatzten, als kostete er ein Gericht und fragte sich, was darin fehlte. »Ich weiß, dass du glaubst, über alle Zweifel erhaben zu sein, aber darf ich dich an deine ersten Petitionen an den jungen Kaiser erinnern: Unfähige Generäle im Feld, Mangel an politischer Führung ‒ und was warst du zu dem Zeitpunkt? Ohne mein Eingreifen hätte man dich nie aus dem Trauerurlaub zurückgerufen.«

»So ungern ich meinem Lehrer widerspreche, muss ich darauf bestehen …«

»Dass du es gut gemeint hast? Hör mir zu. Du warst jung und unerfahren, aber du hast aus deinen Fehlern gelernt. Einige Entscheidungen im Feld waren unglücklich, aber für einen Bücherwurm hast du deine Sache gut gemacht. Neuerdings scheinst du allerdings zu glauben, dass kaiserliche Befehle für dich nicht gelten. Dass du besser weißt, was die Lage erfordert.« Vorwürfe, die aus Mushuns Mund wie ein Todesurteil klangen, aber je länger sie sprachen, desto ruhiger wurde der General. Seine Feinde umschmeichelte das Krokodil, nur zu Freunden und Schülern war er so streng wie jetzt.

»Warum«, fragte er, statt sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen, »warum hat man mich damals mit der Aushebung einer Armee betraut? Weil ich nach dem Tod meiner Mutter sowieso in Hunan war?«

»Auch. Es sah nach einer schnellen Lösung aus.«

»Ich hatte keine militärische Erfahrung und in Hunan kaum Verbündete. Die Beamten in Changsha waren allesamt gegen mich.«

»Wen hätten wir schicken sollen? Im Übrigen solltest du keine Armee ausheben, mein Lieber, sondern eine Miliz. Die Armee war deine Idee, dafür hattest du kein Mandat.«

»Der Hof dachte, es wäre ein Aufstand wie damals der Weiße Lotus.«

»Ein Aufstand eben. Nicht der erste, nicht der letzte.«

»Als ich in Changsha ankam, herrschte noch größeres Chaos als heute in der Hauptstadt. Mir war klar, dass es nicht reichen würde, nur ein paar Dutzend Männer zu bewaffnen.«

»Also hast du die Macht an dich gerissen. Und du dachtest, die Beamten schauen zu und lassen dich gewähren? Das ist es, was ich mit Hochmut meine. Du hast dich aufgeführt, als wärest du damals schon Generalgouverneur gewesen. In Wirklichkeit hattest du kein Amt.«

»Trotzdem habe ich es geschafft, für Ordnung zu sorgen.«

»Die Langhaarigen waren bereits weitergezogen nach Nanking. Wo sie meines Wissens immer noch sind, während du in Anhui was tust?«

»Es nützt ihnen, dass sie unterschätzt werden. Der Abschaum des Reichs, Erdfresser aus dem Süden. In Wirklichkeit haben sie eine gut organisierte Armee. Um sie zu besiegen, braucht man zuerst einen Plan.«

»Der darin besteht, sich in den Bergen von Anhui zu verstecken? Du hattest den Befehl, nach Osten zu ziehen!«

Für einen Moment schloss der General die Augen. Mushun war ein erfahrener Beamter, aber von militärischer Planung verstand er nichts. Er tat bloß gern so. »Weiß der Kaiser, wie es im Yangtze-Tal aussieht?«, fragte er. »Menschen kratzen die Rinde von den Bäumen, um sie zu essen. Auf den Feldern wächst kein Halm mehr. Weiß der Hof das? Was geschieht mit den Berichten, die ich schreibe?«

»Ich lese sie.« Sein Mentor lächelte. »Es wird immer schwieriger, an sie heranzukommen, aber noch schaffe ich es. Deinen schönen Stil hast du dir bewahrt. Im Übrigen wusste ich nicht, dass du mit so viel Zeit kommen würdest. Als dein Brief eintraf, dachte ich, es sei ein Höflichkeitsbesuch bei deinem alten Lehrer. Soll ich Tee bringen lassen?«

Bevor er ablehnen konnte, klatschte Mushun in die Hände, und sofort öffnete sich die Tür. Mandschus mochten ihren Tee bitter und mit Kuhmilch versetzt. Irgendwo hatte der General gehört, dass die Barbaren ebenfalls Milch in den Tee gaben. Widerlich.

»Es ist also kein Höflichkeitsbesuch. Ich gestehe, das rührt mich. Seit ich im Ruhestand bin, behandeln mich alle wie einen entfernten Onkel, der um seine Eltern trauert. Früher saß ich Männern gegenüber, auf deren Stirn der Schweiß stand, heute kommen sie mit Tee und Ginseng. Niemand lässt sich mehr dazu herab, mich zu fürchten.«

»Es gibt in der Hauptstadt wenige Männer, die mehr Respekt genießen als mein Lehrer.«

»Ist ja niemand mehr hier. Auf meinem Morgenspaziergang begegne ich ein paar Wachen, das ist alles. Es wäre der ideale Zeitpunkt für einen Staatsstreich, aber wem sage ich das.«

Statt sich provozieren zu lassen, ging der General auf den Plauderton ein. »Mein Lehrer steht immer noch jeden Morgen vor der Sonne auf?«

»Wann sonst? Wir haben vergessen, wie anstrengend es ist, nicht zu verweichlichen. Statt unsere Sitten zu pflegen, haben wir uns euren angepasst. Gedichte, teurer Tee, Kalligraphie. Wir Mandschus sind ein Kriegervolk, aber die jungen Männer von heute können nicht mehr mit Pfeil und Bogen umgehen. Bald werden sie Pferde mit Kamelen verwechseln. Manchmal denke ich, der Himmel hat uns die westlichen Barbaren als Prüfung geschickt. Ist dir aufgefallen, dass wir nichts über sie wissen? Du bist der Generalgouverneur der Provinz, wo die meisten von ihnen leben, aber hast du je einen gesehen? Wir wollen uns nicht mit ihnen beschäftigen, obwohl ihre Armee zwanzig Li vor unserer Hauptstadt steht.«

»Wie ich weiß, hatte mein Lehrer früher in Kanton mit ihnen zu tun.«

»Gelegentlich, sie durften die Stadt ja nicht betreten. Ein paarmal war ich in den Kontoren am Fluss. Winzige Häuser. Hühnerställe haben wir sie genannt.«

»Damals waren es ein paar Händler, jetzt bringen sie ihre Frauen und Kinder mit.«

»Wir haben sie als unwillkommene Gäste betrachtet. Wann verschwinden sie wieder, war unsere einzige Frage. Um ihren Abgang zu beschleunigen, haben wir sie schlecht behandelt, aber als sie es leid waren, sind sie nicht verschwunden, sondern haben einen Krieg begonnen. Sie selbst betrachten sich nämlich nicht als Gäste, sondern als Herren. Indien gehört ihnen, aber reicht ihnen das? Nein, sie wollen immer mehr. Wie oft habe ich mich gefragt, warum sie den Vertrag unbedingt in der Hauptstadt unterschreiben wollen und nirgendwo anders.«

»Um uns zu demütigen.«

»Ja und nein. Sie erlauben nicht, dass wir sie behandeln, als kämen sie aus Siam oder Korea. Sonderrechte wollen sie. Herrenrechte. Einer von ihnen soll dauerhaft bei uns leben, hier in der Hauptstadt, sie nennen es Botschafter. Einmal habe ich einen englischen Barbaren gefragt, was das ist. Ein Botschafter, hat er gesagt, ist ein Mann, den man in die Fremde schickt, damit er für sein Heimatland lügt.« Mushun zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ob es ein Witz war. Immerzu behaupten sie, nur Handel treiben zu wollen, aber den Krieg führen sie, um einen Botschafter in unserer Hauptstadt zu stationieren? In Wirklichkeit geht es ihnen um Herrschaft ‒ über uns.«

»Es muss schwierig gewesen sein, mit ihnen umzugehen.«

»Als ich zum ersten Mal einen gesehen habe, war ich erstaunt, dass er so lief wie wir. Man hatte mir gesagt, sie laufen wie Enten, weil sie Schwimmhäute haben. An Land können sie uns nicht gefährlich werden. Hast du dich mal gefragt, wie sie auf uns blicken? Niemanden scheint zu interessieren, was die angeblichen Herren in uns sehen.«

»Weil es Barbaren sind. Woher sollte jemand wissen, was in ihnen vorgeht?«

»Sie sind der Feind, und den kennst du erst, wenn du weißt, was er über dich denkt.«

Die Tür ging auf, der Tee wurde gebracht. Kurz blickte der General auf die milchige Brühe, die man vor ihm abstellte. Was sein Lehrer sagte, lief darauf hinaus, dass die Barbaren nicht vorhatten, jemals wieder zu verschwinden. Sie waren gekommen, um zu bleiben und zu herrschen. Um die Söhne des Gelben Kaisers in ihrem eigenen Land zu unterjochen! »Ein einziges Buch gibt es«, fuhr Mushun fort, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. »Über die ausländischen Teufel, meine ich. Stell dir vor, es wurde von einem Mann geschrieben, den wir beide kennen. Deinem Lehrer Wei Yuan.«

»Meinem Lehrer …« Der General stutzte. »Wie geht es ihm?«

»Er ist vor drei Jahren gestorben. Vor einigen Monden hat mir ein Besucher von einem japanischen Gesandten erzählt, der sich über unsere Erfahrung mit den Barbaren informieren wollte. In Edo weiß man, dass ihnen dasselbe bevorsteht, also haben sie einen Mann geschickt, und der fragte gezielt nach einem Atlas der Länder hinter dem Ozean. So habe ich von einem Buch erfahren, das in meiner Nachbarschaft entstanden ist. Die Japaner wussten es vor mir.« Abrupt stand der alte Mann auf und schlurfte zu einem bemalten Wandschirm. Der General befürchtete, er werde sich dort erleichtern, aber kurz darauf kam er mit einem Buch in der Hand zurück. »Nimm du es, ich bin zu alt, um noch zum Experten zu werden.«

Es war ein großformatiger Band, abgestoßen an den Ecken, mit einer gezeichneten Karte auf dem Einband. Der General stand auf und fragte sich, wie ihm ein Buch über die Barbaren im Kampf gegen langhaarige Banditen helfen sollte. Vielleicht war es unnötig gewesen, in die Hauptstadt zu kommen, der Norden führte einen anderen Krieg, und die Hunan Armee musste selbst sehen, wie sie ihre Ziele erreichte. Einen Moment lang blieb er stehen und suchte nach den richtigen Worten für den Abschied, dann sagte Mushun: »Wenn du schon mal hier bist … Es gibt etwas, das ich dir seit einiger Zeit mitteilen will, aber keinem Boten anvertrauen kann. Du bist gekommen, weil du auf eine Audienz mit Prinz Gong hoffst, nicht wahr?« Seine Hand wies den Gast zurück auf den Stuhl.

»Ist er der Mann, an den ich mich wenden soll?«

»Du hast nicht den besten Zeitpunkt gewählt. Der Prinz ist beschäftigt.«

»Er verhandelt mit den Barbaren?«

»Im Moment werden Briefe gewechselt. Der Prinz muss sich einen Überblick über die Situation verschaffen.« Mushun gab einen Seufzer von sich, der beinahe zufrieden klang. Offenbar war er zurück im Spiel. »Zu lange hatte niemand die Zügel in der Hand. Der Kaiser wollte keine Barbaren in der Hauptstadt, alles andere war ihm egal. Statt ihm die Wahrheit zu sagen, hat man ihm falsche Hoffnungen gemacht. Geiseln wurden genommen, stell dir vor! Sankolinsins Idee. Die Barbaren führen Krieg, und wir versuchen, einen Kuhhandel daraus zu machen. Jetzt stehen sie vor unseren Toren.«

»Wir haben Geiseln genommen? Ausländische Teufel?«

»Die meisten sind schwarze Teufel aus Indien, für die sich niemand interessiert. Aber fünf oder sechs sind Engländer. Der schreckliche Barbar fordert natürlich, sie unverzüglich frei zu lassen, andernfalls will er die Hauptstadt angreifen. Leider sieht es so aus, dass nicht mehr alle am Leben sind. Ausländische Teufel saufen das Blut ihrer Feinde, aber wenn sie drei Tage nicht baden, krepieren sie. Zwei wurden exekutiert, als Rache für die Niederlage bei den Brücken.« Angeekelt spuckte Mushun in den Napf zu seinen Füßen. Nichts war ihm so verhasst wie unüberlegtes, kopfloses Vorgehen. »Jetzt ist der Kaiser in den Norden geflohen, und wir müssen zusehen, wie wir den Zorn dieser Bestien besänftigen. Wenn es uns nicht gelingt, verlieren wir alles.«

»Sie warten nur auf ein Zeichen der Schwäche.«

»Redest du auch schon so? Wenn sie die Zeichen unserer Schwäche bisher übersehen haben sollten, ist alles gut. Dann sind sie nämlich blind und werden sich früher oder später gegenseitig erschießen.« Mushun schnaubte verächtlich und beugte sich nach vorn. »Denkst du, ich verstehe nichts von Ehre? Jahrelang wurde ich beschimpft, weil ich damals gesagt habe, vergesst nicht, wie schwach wir sind.« Das bezog sich auf den Krieg vor zwanzig Jahren, als der alte Mann zu denen gehört hatte, die einen Waffengang vermeiden wollten. »Dasselbe sage ich jetzt wieder. Eingebildete Stärke ist die größte Schwäche von allen.«

»Letztes Jahr am Peiho haben wir standgehalten und sie geschlagen.«

»Seitdem sind alle wie besoffen von unserer angeblichen Überlegenheit. Wir werfen sie ins Meer, haben die Prinzen getönt. Lass es dir von mir gesagt sein, jeder Sieg birgt den Keim der Niederlage. Diese Dummköpfe dachten, wir nehmen ein paar Geiseln, und der schreckliche Barbar schickt seine Männer zurück auf die Schiffe. Pah!« Noch einmal spuckte Mushun aus. Schweiß lief unter dem Rand seiner Mütze hervor. »Vor drei Jahren haben die schwarzen Teufel in Indien einen Aufstand gestartet. Sie wollten die Engländer aus dem Land jagen und haben Frauen und Kinder als Geiseln genommen. Einige wurden umgebracht. Was taten die Engländer? Haben sie gesagt: Oh, wie gefährlich hier, schnell nach Hause? Nein, sie haben die Armee geschickt, was sonst. Jeden schwarzen Teufel, der ihnen in die Hände fiel, haben sie massakriert. Sie haben sie vor die Mündung ihrer Kanonen gebunden und in Stücke geschossen. Dörfer wurden niedergebrannt, mit Frauen und Kindern darin. Weil die schwarzen Teufel Kühe anbeten, haben sie sogar die Kühe umgebracht. Das sind die Männer, die vor unserer Hauptstadt stehen. Zehn- oder zwanzigtausend. Glaub mir, sie warten nicht auf ein Zeichen der Schwäche, sondern hoffen, dass wir so dumm sind und ihre Geiseln töten, also rede nicht daher wie ein Prinz! Unsere Reiter wurden zu Klump geschossen, bevor sie wussten, wo der Feind stand! Wenn die Barbaren ihre Kanonen auf unsere Hauptstadt richten, wird nichts bleiben außer Schutt und Asche.« Mushun nahm den Fächer von seinem Gürtel, stützte einen Ellbogen auf die Stuhllehne und fächerte sich Luft zu. In den umliegenden Zimmern erklangen Stimmen, so als würde das Haus auf einmal zum Leben erwachen.

»Was hat der Kaiser jetzt vor?«, fragte der General und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Weiß er um den Ernst der Lage.«

»Er ist in Rehe und wird abgeschirmt. Die Prinzen lassen niemanden zu ihm.«

»Ist sein Zustand so schlecht, wie man sagt?«

»Schlechter.«

»Was heißt das?«

»Du weißt, was es heißt.« Schadenfroh sah sein Mentor ihn an. »Jetzt wünschst du, du wärest in Qimen geblieben, wie? Bei deinen langhaarigen Banditen mit ihren primitiven Waffen. Ich weiß noch, wie du zum ersten Mal in mein Büro gekommen bist, zitternd vor Aufregung und bebend vor Stolz. Dass du dich im Norden nicht wohlfühlst, habe ich auf den ersten Blick gesehen. Spielst du noch Go?«

»Wenn ich Zeit finde.«

»Wozu? Man kann zwar viele Züge machen, hat aber nur einen Gegner, und er sitzt einem gegenüber. Diesen Luxus gibt es im richtigen Leben nicht. Du musst flexibler werden, hörst du. Ich habe deine Berichte gelesen, du bist ein großer Systematiker, aber du lässt dich überraschen. Im Krieg muss man jederzeit damit rechnen, dass ein neuer Gegner auftaucht. Einen, den man nie auf der Rechnung hatte.«

»Zum Beispiel?«

»Frag nicht, wenn du bloß höflich sein willst. Ich hätte mehr Zeit gebraucht, dir in Ruhe alles beizubringen. Jetzt bist du Generalgouverneur und der mächtigste Mann außerhalb der Hauptstadt. Nein, warte ‒ im Moment bist du der mächtigste Mann innerhalb der Hauptstadt.« Die Miene seines Mentors ließ nicht erkennen, ob er ihn auf den Arm nehmen wollte. Kalt und reglos fixierte er sein Gegenüber wie ein Beutetier. »Du bekommst keine Audienz bei Prinz Gong. Überleg dir, wie es aussieht: Der Kaiser flieht, und plötzlich tauchst du bei dem Mann auf, von dem viele glauben, er verkaufe das Reich an die Barbaren. Dein Leichtsinn grenzt an Dummheit. Denkst du, es waren die vielen Hinrichtungen in Hunan, die dich verdächtig gemacht haben? Glaubst du, es kümmert hier jemanden, dass man dich General Kopf-ab nennt? Der Hof misstraut dir wegen deiner Armee. Jetzt bist du Generalgouverneur und bittest darum, eine neue Steuer eintreiben zu dürfen. Was als Nächstes, die eigene Hauptstadt? In Changsha hast du die Macht an dich gerissen, nachdem alle geflohen waren. Jetzt fliehen alle von hier, und wer klopft an meine Tür?«

»Ich, Zeng Guofan. Allein.«

»Auf der Suche nach Verbündeten?«

»Im Moment wäre ich schon froh, mir würde jemand zuhören. Meine Armee hat einen Plan für das gesamte Yangtze-Tal, aber niemanden interessiert es. Wenn ich eigenmächtig handele, mache ich mich verdächtig. Und das, nachdem ich sieben Jahre lang gegen die Feinde des Kaisers gekämpft habe.« Er wünschte, Mushun würde endlich sagen, was er mit ihm besprechen wollte, statt in einem fort vage Verdächtigungen vorzubringen. Ihre Zusammenkunft dauerte schon außergewöhnlich lange, aber warum? »Ist Prinz Gong in der Lage«, fragte der General, um das Thema zu wechseln, »die Verhandlungen mit den Barbaren zu führen? Er hat wenig Erfahrung.«

»Keine Sorge, ich habe ihn gründlich vorbereitet. Er war schon als Sechsjähriger äußerst fleißig. Vom älteren Bruder hieß es damals, dass er lieber ins Hanjiatan-Viertel geht, statt zu studieren. Alle Erzieher waren besorgt deswegen. Ich nicht, im Gegenteil. Je zweifelhafter der Ruf des Älteren wurde, desto sicherer konnte ich sein, den künftigen Kaiser zu erziehen. An seiner Eignung hatte ich keine Zweifel.« Mushun hielt einen Moment inne und blickte dem General in die Augen. »Hör zu, wenn du aus meinen Fehlern lernen willst.«

»Es kam anders.«

»Mit der Gesundheit des alten Kaisers ging es bergab. Der Krieg gegen die Barbaren hatte ihm zugesetzt, er wurde immer verschlossener. Die Entscheidung über die Thronfolge hat er getroffen, ohne meinen Rat einzuholen. Eines Tages rief er die beiden ältesten Söhne zu sich und fragte: Wenn ihr den Himmelsthron besteigt, was werdet ihr tun? Prinz Gong war vorbereitet. Ich hatte mit ihm die Reformen der Jiaqing-Zeit studiert, und er verstand genau, worum es ging. Sein Vortrag wäre eines Großen Sekretärs würdig gewesen.« Einen Moment lang waren nur Mushuns keuchender Atem und der Regen zu hören, der draußen niederging. Kühle Luft wehte ins Zimmer, und der General ahnte, dass der wichtige Teil der Unterredung begonnen hatte. Der Kaiser würde sterben und ein Kampf um die Macht ausbrechen, von dessen Ausgang auch für ihn alles abhing. »Was hat der ältere Bruder geantwortet?«, fragte er.

»Nichts. Er hat sich schluchzend auf den Boden geworfen, das war alles. Es sollte heißen: Damit ich Kaiser werde, muss mein Vater gestorben sein. Vielleicht hat er nicht mal bezweckt, Thronfolger zu werden, aber die Entscheidung war gefallen. Der alte Kaiser hat sie an Ort und Stelle getroffen, überwältigt von so viel Sohnesliebe. Ich wusste von nichts.«

»Wie hat Prinz Gong reagiert?«

»So wie ich es ihm beigebracht hatte.«

»Aber jetzt, wenn der Kaiser bei schlechter Gesundheit ist?«

»Tja, hier beginnt es, spannend zu werden. Der Kaiser hat einen einzigen Sohn. Sechzehn Konkubinen und nur einen Sohn. Man fragt sich, was ihn damals in die Amüsierviertel getrieben hat. Offenbar nicht sein männliches Qi!«

»Der Sohn ist noch ein Kind. Jemand muss Prinzregent werden.«

»Interesse?« Kurz lachte Mushun über seinen Scherz und wurde wieder ernst. »Wie ich die Lage einschätze, wird ein kleiner Kreis die Aufgabe übernehmen. Wer ihm angehören darf, machen sie unter sich aus, oben in Rehe. Ich habe dir die Geschichte erzählt, damit du verstehst, dass es darauf ankommt, im entscheidenden Moment am richtigen Ort zu sein. Ich war es nicht und bereue es bis heute. Im Moment bist du es, der sich am falschen Ort aufhält.« Es klopfte an der Tür und sein Mentor nickte ihm zu. »Jetzt musst du mich entschuldigen. Auch ein alter Mann wird ab und zu noch gebraucht.«

»Ich nehme an, mein Lehrer hat seine Schlüsse aus der Geschichte gezogen.«

Mushun erhob sich. »Ich verstehe nicht, was dich hierhergetrieben hat«, sagte er. »Ist dir nicht klar, dass dir zwar alle misstrauen, aber niemand dein Feind sein will? Geh zurück und führe deinen Krieg! Gewinne ihn! Danach solltest du dich daran erinnern, dass in jedem Sieg der Keim der Niederlage liegt.«

»Es gibt keine Möglichkeit für eine Audienz bei Prinz Gong?«

»Was für ein starrköpfiger Kerl du bist! Hörst du nicht zu?«

»Kann ich ihm eine Nachricht zukommen lassen?«

»Ich denke darüber nach«, sagte Mushun und begleitete ihn zum Ausgang. Der Regen hatte nachgelassen, vor ihnen erstreckten sich hohe Mauern, geschwungene Dächer und die gelb gekachelten Wände des Kaiserpalasts. Die Mitte eines Reiches, das jeden Moment in sich zusammenfallen konnte. Seit er in der Hauptstadt war, spürte er, dass die Welt, die er kannte, kurz vor dem Untergang stand, aber glauben konnte er es trotzdem nicht. »Ich werde noch einige Tage in der Stadt sein«, sagte er. »Falls sich doch noch eine …«

»Bleib im Haus und lies das Buch, das ich dir gegeben habe. Wir müssen uns entscheiden, ob wir von den Barbaren beherrscht werden oder von ihnen lernen wollen. Das sind die Optionen. Die Frage ist, ob wir den Mut haben, die richtige zu wählen.«

Damit ließ sein Mentor ihn stehen, und der General kehrte zum Anwesen seines Freundes zurück und zog sich um. Viele Briefe waren zu schreiben, aber das verschob er auf später. Als er wieder auf die Straße trat, kam vorsichtig die Sonne hervor, und er wendete sich nach Osten. Das strenge Verbot, die Stadtmauern zu betreten, wurde schon lange nicht mehr durchgesetzt. Im Näherkommen sah er überall Grüppchen, die gestikulierend vor den Zinnen standen oder reglos in die Ferne starrten, auf das in der Ebene lagernde Heer der Barbaren. Rampen aus aufgeschütteten Steinen führten hinauf.

Im letzten Moment zögerte er. Es stimmte, dass er sich im Norden nie wohlgefühlt hatte. Peking war die Hauptstadt der kalten Winde, die über flaches, lehmgraues Land wehten. Man trug schon im achten Mond gefütterte Roben, und im Herbst verschwand alles hinter dem gelblichen Schleier der Sandstürme. Zu Hause dagegen strömten die Flüsse breit und träge durch grüne Ebenen, haushoch wuchs der Bambus auf den Hügeln. Dorthin hatte sich Wang Fuzhi zurückgezogen, als im Norden die Mandschus eingefallen waren, die er Barbaren nannte, weil sie kein mitfühlendes Herz hatten. Über zweihundert Jahre war es her. Die Tugend des Herrschers ist wie der Wind, hieß es in den Gesprächen, die des gemeinen Mannes wie das Gras: Wenn der Wind weht, beugt sich das Gras. Aber galt das auch für einen kranken, vergnügungssüchtigen Herrscher, der sich lieber von Konkubinen umsorgen ließ, als die Kraft seiner Tugendhaftigkeit zu pflegen? Besaß die Dynastie das Mandat des Himmels noch, oder braute sich ein Sturm zusammen, der sie hinwegfegen und einer neuen den Weg ebnen würde?

Nachdenklich blickte der General auf die Mauer. Manchmal kam es ihm vor, als könnte er seinen eigenen Gedanken nicht folgen. Hatten die Mandschus das Reich nicht größer und mächtiger gemacht als je zuvor in seiner Geschichte? Endlose Wüsten und die weißen Berge von Tibet, alles gehörte den großen Qing, oder sollten schon diese Siege der Beginn der heutigen Niederlage gewesen sein? Sechzig Jahre lang hatte der Kangxi-Kaiser einst auf dem Drachenthron gesessen und vierunddreißig Söhne gezeugt. Jetzt war sein Nachfahre geflohen, um fern der Hauptstadt zu sterben, und vor den Toren standen Barbaren, deren Kraft mit Tugendhaftigkeit nichts zu tun hatte. Auf die Waffen kam es an. Wenn es gegen ihre Kanonen kein Mittel gab, war nicht allein die Dynastie dem Untergang geweiht, sondern alles unter dem Himmel. Dann würde das Undenkbare geschehen, und der General fragte sich, warum er es kommen sah und dennoch nicht glaubte. Es war, als fehlte ihm entweder die Fantasie oder der Mut, um sich vorzustellen, dass die Wirklichkeit wirklich war.