20 Frühling in der Himmlischen Hauptstadt

Nanking, im Frühjahr 1861

Was für ein Unterschied, dachte er oft. Hatte er nicht früher alle Chinesen in zwei Klassen eingeteilt? Hier die katzbuckelnden, geknechteten Untertanen, die immerzu den Kopf senkten und zu Boden blickten, dort die selbstgefälligen Mandarine mit ihren seidenen Roben und bestickten Kappen, die das Reich aussaugten wie Blutegel. Dass es auch freie chinesische Bürger gab, hatte er erst in der Himmlischen Hauptstadt verstanden. Viele waren auffallend jung und trugen den Stolz der neuen Zeit im Gesicht. Nirgendwo sonst in China sah man so schöne Frauen wie hier, die in bunten Kleidern durch die Straßen flanierten; sie banden ihre Füße nicht und winkten ihm zu, wenn sie ihn sahen. Seit der Eroberung von Suzhou war die Mode noch farbenfroher geworden, Petticoats endeten knapp unterhalb der Knie, und die ganz jungen trugen ihre Haare offen wie Männer. Weder mangelte es an feinen Seidenstoffen noch an breiten Boulevards, um sie vorzuführen. Im freien China glotzten die Leute auch nicht, sondern grüßten selbstbewusst, und niemand nannte ihn ausländischer Teufel. ›Sekretär für Auswärtige Angelegenheiten‹ stand auf seinem Siegel. Wenn er den Palast verließ, um einen Spaziergang zu machen, wurden ihm Kinder mit Reiskuchen und Obst hinterhergeschickt. Xiansheng riefen sie ihn, mein Herr, einige kannten sogar seinen chinesischen Namen.

Am liebsten ging er frühmorgens über die Stadtmauer. Wie eine erhöhte Straße streckte sie sich vor ihm aus, breit genug für drei Kutschen und beinahe menschenleer. Die letzten Nachtwachen standen auf ihren Posten, und jedes Mal, wenn hinter den Bergen die Sonne aufging, staunte er, wie sich alles gefügt hatte. Im Osten ragte der Gipfel der Drachenschulter in den eisblauen Himmel, unter ihm lag die Stadt in einem Bett aus bleichem Nebel. Der Frühling wollte beginnen, aber noch waren die Nächte kalt, und als er stehen blieb, bildete sich eine Atemwolke vor seinem Mund. Zum ersten Mal seit Jahren hatte er einen richtigen Winter erlebt, frostig und klar, wie es ihn im Süden nicht gab. Seine Robe war mit Flanell gefüttert, eigens für ihn gefertigt, mit einem verkürzten linken Ärmel ohne Öffnung. Die Haare fielen ihm bis auf die Schultern. Du kommst wie gerufen, hatte Hong Jin bei seiner Ankunft gesagt. Jetzt schielte er auf seine Nase, hauchte in die Luft und musste lachen, ohne zu wissen worüber. Es war kurz vor sieben Uhr. Ein letztes Mal verfolgte er, wie sein weißer Atem in die Morgenluft stieg, dann machte er sich auf den Rückweg, verließ die Mauer beim Tongji-Tor und erreichte eine halbe Stunde später den Palast des Schildkönigs. Die Wachen winkten ihn durch in die riesige Empfangshalle. Auf der Marmortafel neben dem goldenen Thron, auf dem sein Freund bei wichtigen Anlässen saß, standen die Seligpreisungen aus der Bergpredigt. Zwei Palastdiener kamen, um ihn durch ein Gewirr aus Bogengängen und schattigen Höfen zu führen, vorbei an den Schreibstuben der Sekretäre und einigen privaten Quartieren. Irgendwo erklang ein chinesisches Saiteninstrument, ansonsten war es still. Gespannt betrat er den Raum, zu dem außer ihm nur ein Dutzend Männer Zutritt hatte. Im Glutbecken vor dem Fenster knisterten frische Kohlenstücke, Bücher bedeckten den Schreibtisch, in den Regalen standen ausländische Uhren, ein Teleskop und mehrere Gläser mit Mixed Pickles, die der Hausherr eigens aus Shanghai kommen ließ. Zwei alte Säbel, die normalerweise an der Wand hingen, lagen mit gekreuzten Klingen auf dem Boden.

Aus dem Nebenraum drangen lachende Frauenstimmen.

In den ersten Wochen hatten sie oft bis zum Morgengrauen hier gesessen und geredet. In diesem Büro war der Plan für den großen Ostfeldzug entstanden, der im letzten Jahr das Yangtze-Tal befreit hatte, und von hier aus steuerte Hong Jin auch den Westfeldzug, der den Krieg endgültig entscheiden sollte. Fei Lipu legte seine Papiere auf einen Beistelltisch und trat ans Glutbecken. Ein paarmal spreizte er die kalten Finger und ballte sie zur Faust. Je besser er verstand, was die Freiheit aus Menschen machen konnte, desto mehr ärgerte er sich über frühere Missionskollegen und britische Diplomaten. Die Rebellenarmee eilte von Sieg zu Sieg, der Kaiser war aus Peking verjagt worden und der Feind schwach wie nie ‒ warum wollten die Ausländer nicht sehen, wem die Zukunft gehörte? Hatten sie in Wahrheit Angst vor dem, was sie angeblich so dringend herbeiwünschten? Ein fortschrittliches, freies und starkes China. Als er die Tür hörte, drehte er sich um und hob grüßend die Hand.

»Pünktlich wie immer.« Gut gelaunt kam Hong Jin herein. Das noch feuchte Haar trug er offen, auf seinem seidenen Morgenmantel sprang ein Goldfisch durchs Drachentor ‒ wir werden Kaiser, hieß das grob übersetzt. Offenbar war er gerade erst aufgestanden und mit den Gedanken noch nebenan. »Hast du mal eine Mischung aus Limonensaft und Kokosöl benutzt, um dir die Haare zu waschen?«, fragte er. »Ein neues Rezept aus Singapur, die Frauen schwören darauf.«

Fei Lipu schüttelte den Kopf. »Kenne ich nicht.«

»Du warst doch in Singapur, oder?«

»Lange her. Ich weiß immer noch nicht, welche Sprache ich da gelernt habe.«

»Sag mal einen Satz.«

Er wiederholte die Begrüßung, mit der Lehrer Yen jeden Morgen den Unterricht begonnen hatte, und sein Freund nickte. »Hokkien«, sagte er und zog einen Stuhl heran. »Wird an der Südostküste gesprochen, in Fujian. Dein Lehrer Gützlaff hätte es dir sagen können, der sprach das angeblich sehr gut.«

»Vielleicht komme ich eines Tages in die Gegend und kann es gebrauchen.«

»Wir arbeiten daran.« Gewohnt schnell legte Hong Jin den Plauderton ab, setzte sich nah ans Kohlenbecken und hielt die nackten Füße über die Glut. Wenn er so saß, wurde ein leichter Bauchansatz sichtbar. »Die Übersetzung? Wie ich dich kenne, bist du längst fertig.«

»Fast.« Fei Lipu zog einen Zettel mit Stichworten hervor. »Ich schlage vor, wir nennen es ein ›Manifest für Chinas Zukunft‹«, sagte er, schließlich enthielt Hong Jins Text mehr als bloß ein paar Ideen für den Wiederaufbau nach dem Krieg. Es ging ihm nicht nur um Bahnschienen und Dampfschiffe, er wollte auch eine gerechte Verteilung des Bodens und für alle Bürger die Möglichkeit, Eingaben direkt an den Himmlischen Thron zu richten. Im Winter war im Herald ein Interview mit ihm erschienen, in dem er die wichtigsten Ideen vorstellte, aber das Echo hatte alle enttäuscht. Die Rebellen konnten noch so visionär denken, England schien entschlossener denn je, die sieche Dynastie am Leben zu erhalten. »Lass uns die Einleitung straffen«, sagte Fei Lipu, »wichtiger sind die inneren Reformen, ergänzt um einen Absatz über die Bedeutung des freien Handels. Wir müssen es weiter versuchen, auch wenn es mühsam ist.« Nebenan plätscherte Badewasser in ein Bassin. Das süße Aroma von Kokosnuss und Limone waberte herein und lenkte ihn kurz ab; meist wurde ihm erst nach Feierabend bewusst, dass er auch in seinem neuen Leben vieles vermisste. »Schlechte Nachrichten?«, fragte er, weil sein Freund gedankenverloren vor sich hin starrte, statt zu antworten.

»Wie es aussieht, hat der Treue König Qimen doch nicht eingenommen.« Hong Jin stand auf, nahm eine Karte vom Schreibtisch und rollte sie auf dem Boden aus. »Das heißt, dass wir Anqing erst angreifen können, wenn die Armee aus dem Westen zurückkommt. Bis dahin wird sich der Feind vor der Stadt eingegraben haben. Ich hatte gehofft, wir würden ihn vorher vernichten.«

Fei Lipu nickte. Bei den Generälen waren die Pläne für den Westfeldzug von Anfang an auf Skepsis gestoßen. Träume eines Emporkömmlings, hieß es, der seit der glücklichen Befreiung des Yangtze-Tals im letzten Jahr dazu neigte, sich zu überschätzen. Als Verwandter des Himmlischen Königs war Hong Jin zwar unantastbar, aber mangels Erfahrung auf dem Schlachtfeld besaß er nicht dieselbe Autorität wie die sogenannten Alten Brüder aus Guangxi. Im Übrigen verriet es wirklich großen Ehrgeiz, Hankou und Wuchang, die Zwillingsstädte im fernen Hubei, gleichzeitig angreifen zu wollen. Für eine solche Zange brauchte es riesige Armeen, deren Bewegungen genau aufeinander abgestimmt sein mussten. Anqing hatte in der bisherigen Planung nur eine Nebenrolle gespielt, aber die Hunan Armee errichtete dort Barrikaden und legte Gräben an, als werde sich der Krieg nirgendwo anders entscheiden. Wollte Hong Jin seine Pläne deshalb nachbessern?

»Ich bin zwar kein Experte«, sagte Fei Lipu vorsichtig, »aber dass die Stadt wichtig ist, sieht man auf den ersten Blick, oder? Wer sie hält, kontrolliert den Unterlauf des Yangtze. Sollte Anqing fallen …«

»Was nicht geschehen wird. Trotzdem frage ich mich, ob man immer vom Ufer aus die Flüsse kontrollieren muss. Warum nicht umgekehrt? Du hast Konsul Parkes gehört, ihm ist es egal, wer die Ufer hält, notfalls kriegen alle britischen Händler Geleitschutz durch die Royal Navy. Das ist es, was uns fehlt: Dampfschiffe. Wir müssen endlich beginnen, eine Heavenly Navy aufzustellen.« Hong Jin schaute ihn an, als machte es ihm Spaß, seine Gedankenspiele immer noch einen Schritt weiterzutreiben. In manchen Momenten allerdings wirkte er dabei selbst wie ein Getriebener. »Hat Zeng Guofan eine Navy?«, fragte er. »Denkt er daran, eine aufzubauen, oder hofft er, dass die Engländer ihm eine liefern? Anqing allein wird ihm wenig nützen, trotzdem hat er den Befehl des großen Teufels ignoriert, nach Osten zu ziehen. Für einen Mann wie ihn ist das keine Kleinigkeit. Er scheint zu denken, dass er machen kann, was er will. Bloß, was genau will er?« Eine rhetorische Frage, auf die Fei Lipu nicht reagierte. Er ahnte bereits, welche Schlüsse sein Freund aus der Antwort gezogen hatte.

»Der Feldzug der Engländer im Norden kam ihm gelegen«, sagte Hong Jin, »aber jetzt gerät er unter Zeitdruck. Der Hof ist nicht mehr abgelenkt und will Resultate sehen.« Sein Blick streifte die Lehrbücher auf dem Tisch, The Principles of Fortification und ähnliche Titel. »Ich muss früher aufbrechen als geplant, studiert habe ich lange genug. Es wird Zeit für die Praxis.« Der Aufstieg zum Regierungschef hatte den sanftmütigen Katechisten von früher in einen Mann verwandelt, der die Dinge gern anpackte und schnell ungeduldig wurde, wenn er auf Widerstand stieß. Entsprechend war es beim Besuch von Konsul Parkes vor einigen Wochen hoch hergegangen. Der Diplomat hatte eine Liste von Forderungen mitgebracht, die er in schneidendem Tonfall vortrug, ohne mit einem Wort die Interessen des Taiping-Reichs zu erwähnen; ›das Gebiet der Aufständischen‹ nannte er es bloß. Dass der Vertrag zwischen London und Peking auch die Regierung in Nanking band, hielt er für selbstverständlich und kündigte an, weiter flussaufwärts nach Hankou zu reisen. Als neuer Vertragshafen stehe die Stadt unter britischem Schutz und dürfe keinesfalls angegriffen werden. Außerdem verlangte er, in alle weiteren Schritte der Rebellenarmee eingeweiht und für jede Aktion um Erlaubnis gefragt zu werden. Offenbar hielt er das für sein natürliches Recht als Engländer. Nach zwei Tagen waren sich Hong Jin und er nur darin einig gewesen, dass sie einander nicht ausstehen konnten. Die Hankou-Frage blieb ungeklärt, aber daran hing der gesamte Feldzug.

»Wann willst du los?«, fragte Fei Lipu.

»In zehn Tagen.«

»So bald! Und für wie lange?«

»Erst einmal muss ich die Truppen ausheben. Dann bleibt abzuwarten, was der elende Konsul unterdessen anrichtet. Wenn sich der Mutige König aufhalten lässt, haben wir ein Problem. Solange uns Hankou nicht gehört, sind wir am Nordufer ungeschützt. Anqing muss von drei Seiten in die Zange genommen werden, aber das Terrain ist schwierig. Ich hoffe, dass ich in einem Jahr zurück bin.«

»Was soll ich so lange tun?«

»Bist du nicht ausgelastet mit den Übersetzungen?«

Unschlüssig zuckte Fei Lipu mit den Schultern. Zwar lebte er noch nicht lange in Nanking, aber die Spielregeln waren ihm bekannt. Der Himmlische König, niemand sonst, verteilte Ämter und kassierte sie wieder, beförderte die einen, verbannte die anderen und behielt die Gründe für sich. Außer seinen engsten Vertrauten bekam ihn niemand zu Gesicht, und ohne Hong Jin würde es für ihn als Ausländer schwer werden, sich in dem Netz aus Beziehungen zurechtzufinden, das die gesamte Hauptstadt umspannte. Sein Freund wiederum brannte darauf, endlich als Gegenspieler seines Erzfeinds Zeng Guofan ernst genommen zu werden ‒ das ging nur mit Siegen auf dem Schlachtfeld.

Nebenan stiegen die Frauen aus dem Bad. Ein warmer, feuchter Hauch ließ die Fenster zum Garten beschlagen, weil die Tür nur angelehnt war. Über Hong Jins Gesicht zog ein Lächeln, ehe er mit dem Thema auch die Sprache wechselte. »Denkst du noch oft an Hongkong?«, fragte er im Hakka-Dialekt.

»Manchmal. An die Abende, wenn wir zu fünft vor meiner Station saßen. Im Sommer.«

»Sehnsucht?«

»Es war eine schöne Zeit. Ich hatte zwei Hände, Elisabeth war noch da …«

»Natürlich«, unterbrach ihn sein Freund, als habe er die Frage weniger privat gemeint. »Für euch schon, ihr wart frei. Ich frage mich, ob ich früher hätte gehen sollen, statt mich von Reverend Legge herumkommandieren zu lassen.«

»Er hat deine Arbeit mehr geschätzt, als du denkst.«

»Sie hat ihm ja auch genützt. Auf die Idee, sich zu revanchieren, kommt er nicht.«

»Was wir hier tun«, sagte Fei Lipu, »befremdet ihn. Er ist Missionar.«

»Und eine Revolution ist keine Bibelstunde in der Hollywood Road.« Dass sich auch seine alten Freunde nicht stärker für das neue China einsetzten, kränkte Hong Jin so sehr, dass er immer wieder darauf zurückkam. War seine Dünnhäutigkeit eine Folge des hohen Drucks, der auf ihm lastete, oder hatte er sie früher bloß besser verborgen? Ruckartig stand er auf und lief vor dem Fenster hin und her. »Zeng Guofan hat jemanden nach Shanghai geschickt«, sagte er verärgert, »um Lord Elgins Bruder zu bearbeiten und Kontakt zu diesen Söldnern aufzunehmen. Hätten wir die Stadt letztes Jahr erobert, müssten wir uns jetzt keine Sorgen machen, aber das wollten die Engländer ja nicht. Und unsere Kollegen schweigen. Hast du Jenkins' Bericht gelesen? Ein paar Tote auf dem Fluss haben ihn so erschreckt, dass ihm zu den anderen Fragen nichts mehr einfiel. Seit wann sind Ausländer so zimperlich? Als vor zwei Jahren im Süden ein französischer Matrose umkam, wurden als Vergeltung fünfzig Chinesen erschossen ‒ das hat niemanden gestört. Wir kämpfen für die Zukunft eines ganzen Volkes und müssen uns für jeden Kratzer rechtfertigen, den wir dem Feind zufügen.«

Fei Lipu seufzte. »Ich mag Jenkins nicht, aber er hat geschrieben, dass die Revolution die einzige Hoffnung auf ein christliches China bleibt.«

»Allerdings wäre es ihm lieber, unsere Soldaten würden die andere Wange hinhalten, statt zu schießen. In Shanghai haben sie es getan, und? Der Botschafter war sich zu gut, den Brief des Treuen Königs auch nur zu öffnen! Lieber lässt er ein Blutbad anrichten. Ich habe es satt, um ihr Wohlwollen zu werben, es bestätigt sie nur in ihrer Arroganz. Deine Übersetzung wird vorerst nicht veröffentlicht. Mal sehen, was sie tun, wenn uns Hankou gehört.«

»Wie du meinst. Allerdings macht es die Frage von eben noch dringender: Was soll ich in deiner Abwesenheit tun?« Dass er schon einen Termin in der Druckerei am Hanzhong-Tor vereinbart hatte, verschwieg er. Das ließ sich ändern. Nebenan war inzwischen alles still, die Frauen hatten sich zurückgezogen, dafür erwachte der restliche Palast zum Leben. Eilige Schritte und Stimmen füllten die Gänge.

»Kümmere dich um Robards«, sagte Hong Jin.

»Der wird immer verrückter. Ich weiß nicht, wie er uns in seinem Zustand nützen soll.«

»Wir werden was finden.«

»Hast du den Himmlischen König gefragt, ob er bereit wäre, ihn gehen zu lassen?«

»Über dich haben wir gesprochen«, erwiderte sein Freund ausweichend. »Gestern Abend erst.« Reglos stand er am Fenster. Draußen streckte eine Zeder ihre Äste in die allmählich wärmer werdende Luft. »Er war überrascht, zu hören, dass dein zweiter Vorname Johann lautet.«

»Wieso überrascht?«

»Man hört es nicht. Fei Lipu. Außerdem klingt Johann biblisch, das interessiert ihn.«

»Zu Hause wurde ich Philipp genannt, also hat der Lehrer in Singapur es so übersetzt. Ist es wichtig? Bekomme ich eher eine Audienz, wenn ich mich Ruohan nenne?«

Hong Jin schüttelte den Kopf. »Außerdem wollte er wissen, ob du dir deine Hand selbst abgeschlagen hast.«

»Ob ich mir … wieso hätte ich das tun sollen?«

»Wenn dich aber deine Hand ärgert, so haue sie ab; denn besser ist es dir, dass du als ein Krüppel ins Leben eingehest, denn dass du zwei Hände habest und fahrest in die Hölle.« Die Bibel zitierte er wie immer auf Englisch. »Ich glaube, er wartet auf ein Zeichen.«

»Was für ein Zeichen?«

»Eine neue Vision. Eine Weisung von oben.« Hong Jin richtete seinen Morgenmantel und nahm wieder Platz. »Sollen wir hierbleiben oder nach Norden ziehen? Vor einigen Jahren haben wir es versucht und wurden von Sankolinsins Truppen zurückgeschlagen. Ist der Zeitpunkt jetzt besser? Mein Vetter glaubt, dass solche Fragen nicht von Menschen entschieden werden. Es braucht einen höheren Ratschluss.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Ich habe ihm gesagt, dass du deine Hand … ich glaube ›geopfert hast‹, waren meine Worte. Um hierher zu kommen. Er denkt viel über die Geschichte von Joseph in Ägypten nach. Die Träume des Pharao, der fremde Traumdeuter, du weißt schon. Dein Name steht auf der Liste, also halte dich bereit. Robards bleibt vorerst, wo er ist. Versuch, ihn bei Laune zu halten, ich sorge dafür, dass du in meiner Abwesenheit keine Probleme kriegst. Verlass dich auf mich.« Ein aufmunternder Blick signalisierte das Ende der Besprechung, und Fei Lipu packte seine Sachen zusammen. Dass sein Freund keine emotionalen Abschiede mochte, gehörte zu den Dingen, die sich nicht geändert hatten. »Pass auf dich auf, wenn du in den Krieg ziehst.« Kurz nickten sie einander zu, dann beugte sich der Schildkönig wieder über die Karte, und Fei Lipu ging hinaus.

Zwei Wochen später war der Winter endgültig vorbei. Bei seinen morgendlichen Spaziergängen lief Fei Lipu durch ein Meer aus Kirschblüten, das entlang der Stadtmauer im Wind wogte. Kam eine Böe auf, wirbelten die weißen Blätter wie verspätete Schneeflocken umher. Die Wärme tat gut, trotzdem erschien ihm die Stimmung in der Hauptstadt seltsam gedämpft; dass die Wandzeitungen keine Siegesmeldungen aus dem Westen brachten, machte die Bewohner stutzig. Im alten Garnisonsviertel, auf das er von der Mauer aus herabblickte, hing Wäsche zum Trocknen aus, notdürftig geflickte Schornsteine pafften Rauch in die Luft, aber Menschen waren keine zu sehen. Die Einheimischen mieden das Viertel wegen der vielen Trümmer, die seit der Befreiung dort herumlagen, stattdessen schien sich neuerdings allerlei zwielichtiges Volk einzunisten, Schmuggler, Deserteure, Fengshui-Meister, angeblich gab es sogar Schwarzmärkte für Tabak und Alkohol. Früher wäre das undenkbar gewesen, aber in diesem Frühjahr machte sich in Nanking eine schwer zu fassende Ungewissheit breit, die lähmende Vorahnung drohenden Unheils. Der Herrscher blieb unsichtbar und wartete auf ein Zeichen seines Vaters, fällige Reformen wurden aufgeschoben, und für Fei Lipu gab es nichts tun, außer gelegentlich Eliazar Robards zu besuchen. Vor einem Jahr war der verrückte Amerikaner plötzlich aufgetaucht und hatte überall herumerzählt, der Himmlische König persönlich habe ihn eingeladen. Vielleicht stimmte das nicht, aber dass jemand eine schützende Hand über Robards hielt, war der einzig denkbare Grund, weshalb er noch lebte. Öffentlich hatte er das Taiping-Reich der Frevelei bezichtigt, deshalb stand er jetzt unter Hausarrest hinter den hohen gelben Palastmauern, die Fei Lipu jedes Mal einschüchterten, wenn er am Tor ankam. Über den Zinnen erhoben sich die getarnten Schießscharten der Wachtürme. Die äußeren Gebäude beherbergten Amtsstuben, der innere Bereich wurde noch einmal durch Mauern abgetrennt, die nur Mitglieder des Hong-Clans sowie das Heer von Köchinnen, Dienerinnen, Waschfrauen und Schneiderinnen passieren durfte, die den Herrscher von Zehntausend Jahren umsorgten. Sogar die Wachen am inneren Tor waren Frauen.

Er meldete sich an und ließ die mitgeführten Schriftstücke prüfen. Kurz darauf erhielt er sie zurück und durchquerte die parkähnliche Anlage. Akazien spannten ihre Äste aus, über den Grünflächen hing die angenehme Stille des späten Nachmittags. Das vergoldete, mit Drachen geschmückte Boot, auf dem der Herrscher damals in die Hauptstadt eingefahren war, stand wie gestrandet vor dem ›Tor der Göttlichen Liebe‹. Robards' Unterkunft lag idyllisch in einem von Lotusblüten bedeckten und von alten Bäumen umstandenen Teich. Ein Steg führte hinüber zum Eingang, vor dem zwei Soldatinnen saßen, die den streitbaren Gefangenen bewachten. Die Fenster waren wie immer von innen verhängt. »Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Fei Lipu, während die beiden einen Blick in seine Tasche warfen.

»Er braucht mehr Papier für seine Baupläne. Der Kaffee heute Morgen war zu dünn, und er möchte dringend den amerikanischen Botschafter sprechen. Was insofern neu ist, als er kürzlich noch selbst Botschafter war.« Die Frauen warfen einander belustigte Blicke zu. Noch immer erstaunte es ihn, wenn Chinesinnen so selbstbewusst und unbefangen mit ihm redeten. An manchen Tagen nutzte er die Gelegenheit zu einer Plauderei, jetzt nickte er nur, ließ sich aufschließen und betrat den Pavillon. Stickig säuerliche Luft schlug ihm entgegen. Ein Wandschirm verdeckte den Durchgang zum hinteren Zimmer, wo der Gefangene schlief. Sämtliche Möbel waren an die Wand gerückt, Blätter mit gezeichneten Kathedralen lagen herum, und an einer Stelle schimmerte der Boden feucht. Es kostete ihn Überwindung, die Stimme zu heben und nach Robards zu rufen. Einmal hatte der Himmlische König seinen früheren Lehrer empfangen, aber darauf bestanden, dass er sich vor ihm hinkniete, und seitdem zürnte der Mann dem gesamten Reich. Als Fei Lipu Schritte hörte, blickte er gespannt zum Wandschirm. »Wer da?«, bellte Robards, obwohl es nur einen Menschen gab, der auf Englisch nach ihm rief.

»Sie kennen mich, Sir. Es sind wieder zwei Wochen vergangen.«

Dem Geräusch nach zu urteilen, spuckte der Gefangene auf den Boden.

»Ich wollte mich nach Ihrem Befinden erkundigen. Außerdem wäre zu besprechen, ob Sie sich gewisse Vergünstigungen verdienen wollen. Zweimal in der Woche Ausgang im Garten, unbegrenzte Vorräte an Papier. Sollte es darüber hinaus Dinge geben, die Sie …« Robards' Erscheinen ließ ihn innehalten. Ein untersetzter Mann von gut sechzig Jahren. Dass sein kahler Kopf dicht auf den Schultern saß, ließ ihn kampfbereit aussehen, und tatsächlich stieß er häufig Drohungen aus und warf mit Gegenständen. Gekleidet war er in eine zerschlissene, schwarze Robe und trug etwas auf dem Kopf, das wie eine selbstgebastelte Krone aussah. »Man will mich umbringen«, knurrte er.

»Wer könnte das wollen«, entgegnete Fei Lipu sanft und deutete mit dem Finger auf eine Wunde auf Robards Stirn. »Haben Sie sich gestoßen?«

»Der Himmlische König!«, schrie der Gefangene. »Er will mich aus dem Weg räumen.«

»Beruhigen Sie sich, Mr Robards.« Bei fast jedem Besuch fantasierte der Missionar von Anschlägen auf sein Leben, und am liebsten hätte ihm Fei Lipu auf den Kopf zugesagt, dass er verrückt war. Gleichzeitig empfand er Respekt für diesen Mann, der einst in Kanton gegen skrupellose, schwerbewaffnete Menschenhändler gekämpft hatte, und außerdem tat Robards ihm leid. Am besten wäre es, ihn einfach ins nächste Boot nach Shanghai zu setzen, aber das ging nur mit der Erlaubnis von ganz oben. »Niemand will Ihnen etwas antun«, sagte er, »glauben Sie mir. Dass Sie vorübergehend hier untergebracht sind, hat einen simplen Grund …«

»Er kam zu mir«, fiel Robards ihm ins Wort, »in mein Haus. Nie zuvor hatte er die Bibel gelesen, aber in den Wäldern bereits Hunderte Anhänger versammelt. Die Gottesanbeter vom Distelberg.«

»Ich weiß, Sie haben davon erzählt. Faszinierende Geschichte.«

»Am Leib trug er nichts als Fetzen. Ich habe ihn aufgenommen und ihn die Worte des Apostels gelehrt: Zieht an die Waffenrüstung Gottes, damit ihr bestehen könnt gegen die listigen Anschläge des Teufels. Damals behauptete er, zu jedem Opfer bereit zu sein, jetzt lebt er im Palast und vergnügt sich mit seinen Huren.«

Fei Lipu erlaubte sich ein kurzes Schnauben und schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht gekommen, um über die Vergangenheit zu reden, sondern um Ihnen ein Angebot zu machen. Wenn Sie sich stärker für unsere Sache engagieren …«

»Warum kommt er nicht selbst her?« Wie festgewurzelt stand der Missionar neben dem mannshohen Wandschirm und wirkte so aufgebracht, als hätte die Unterredung mit dem Himmlischen König gerade eben stattgefunden. Sein konfuses Zeitgefühl mochte eine Folge des langen Hausarrests sein. »Hat er Angst, seinem früheren Lehrer gegenüberzutreten? Hat er meine Lektionen schon vergessen? Ihr aber, liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr durch die Freiheit nicht dem Fleisch Raum gebt. Verstehst du, was ich meine? Unsere Sache ist es, ihn auf den rechten Weg zurückzuführen.«

»Mr Robards, was der Himmlische König tut, muss er keinem von uns erklären.«

»Ich habe mich bemüht, ihm seinen Stolz auszutreiben. Was macht er? Verfasst eine neue Bibel! Andere hören auf die Heilige Schrift, er schreibt sie lieber um.« Seine Lippen zuckten, in den Mundwinkeln sammelte sich Speichel, und statt sich zu beruhigen, redete er immer lauter. »Vers für Vers sind wir sie durchgegangen. Ich stand mit dem Bambusrohr hinter ihm, aber er glaubte, alles besser zu wissen. Jetzt will er auch nicht mehr kämpfen. Es gefällt ihm zu gut in seinem kleinen Paradies. Von wegen Waffenrüstung, die Not seiner Landsleute ist ihm längst egal.«

»Sie sind nicht auf dem neuesten Stand, Mr Robards. Es ist ein Feldzug im Gang, der das mittlere Yangtze-Tal in unsere Hand bringen wird. Wenn Ihnen Chinas notleidende Massen am Herzen liegen, nehmen Sie mein Angebot an.« Er stellte sich ans Fenster, zog den Vorhang beiseite und sah hinaus. Die Sonne ging unter, ihre Strahlen warfen einen warmen Schimmer auf die Palastmauern. Auch nach einem halben Jahr gab es noch Augenblicke, in denen es ihm unwirklich vorkam, dass er nun in Nanking lebte und für die Rebellen arbeitete. Außerdem fragte er sich, ob eines Tages sein alter Reisegefährte hier auftauchen würde. Da mit dem Gefangenen kein normales Gespräch möglich war, hatte er nicht herausfinden können, ob sich Potter und Robards von früher kannten, aber er vermutete es. »In Shanghai«, setzte er noch einmal an, »wurde jüngst eine ausländische Söldnertruppe aufgestellt. Reiche Chinesen zahlen den Männern viel Geld, damit sie gegen uns kämpfen. Sie nennen sich die Ever Victorious Army, noch füllen hauptsächlich Deserteure die Ränge, aber wir befürchten, dass sich das ändern wird. Für die Engländer wäre es eine Möglichkeit, den Krieg zu beeinflussen und nach außen trotzdem neutral zu bleiben. Wenn das geschieht, stehen die Söldner eines Tages vor unseren Toren. Ich verstehe, dass Sie mit Ihrer Situation unzufrieden sind, aber das werden Sie nicht wollen. Im Moment liegt unsere wichtigste Aufgabe darin, zu verhindern, dass die Miliz weiter wächst. Gibt es Mitstreiter von früher, die Sie anschreiben könnten?«

»Gott hat mich nicht geschickt, das Wort eines geilen Bauern aus Guangxi zu verbreiten. Kaum war ich hier, wurden mir meine Sachen abgenommen. Will er mich etwa erpressen? Mich?« Stolz und irre sah der Gefangene ihn an und hatte bereits den nächsten Bibelvers parat. »Stehet nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen. Sag dem himmlischen Hurenkönig, ich bleibe auch als sein Gefangener ein freier Mann. So wie er ein Knecht der Sünde bleibt.«

»Ihre Gefangenschaft wird enden, Mr Robards, sobald Sie aufhören, feindliche Propaganda zu betreiben. Unsere Ziele reichen weiter als Ihre damals. Wir wollen nicht nur ein paar Kulis die Arbeit in mexikanischen Silberminen ersparen, sondern das ganze Land befreien.« Er zeigte auf die herumliegenden Zeichnungen. »Glauben Sie, diese Kirchen, die Sie so gekonnt entwerfen, werden gebaut, wenn wir den Krieg verlieren? So naiv können Sie nicht sein.«

»Warum bin ich eingesperrt? Wieso wurde mir auch meine Bibel abgenommen?«

»Mit Ihren Predigten haben Sie nicht nur sich selbst geschadet, aber Sie können es wiedergutmachen. Schreiben Sie Ihren Landsleuten in Shanghai. In Amerika steht England auf der Seite der Sklavenhalter ‒ wollen ausgerechnet Sie dem Land hier gegen die Rebellion helfen? Was tragen Sie da für ein komisches Ding auf dem Kopf?«

»Meine Dornenkrone«, sagte Robards.

Fei Lipu unterdrückte einen Seufzer. »Ich lasse Ihnen Papier bringen.«

»Zuerst will ich meine Bibel zurück. Als Missionar habe ich ein Recht darauf.«

»Schreiben Sie die Briefe. Rechte hat nur, wer seine Pflichten erfüllt. Auf Wiedersehen, Mr Robards.«

Er ging nach draußen und atmete tief durch. Um ihn herum leuchtete der Palastgarten in satten Farben, überall hingen rote Laternen und Banner mit den Zeichen tai ping, ewiger Frieden. Der Anblick beruhigte ihn, aber der schale Geschmack in seinem Mund blieb. Die Besuche bei Robards waren eine deprimierende Angelegenheit, und dass der Gefangene seit Hong Jins Abreise sein einziger regelmäßiger Kontakt war, machte es nicht besser. Manchmal schämte er sich dafür, ihn so grob zu behandeln und mit sinnlosen Aufträgen hinzuhalten. Andererseits wurde ein neues Zeitalter nicht durch Nettigkeiten herbeigeführt, und er konnte schlecht behaupten, das nicht gewusst zu haben. Von der Fahrt nach Suzhou träumte er immer noch oft. Alle hatten mit anfassen müssen, um das Boot den verstopften Fluss hinaufzunavigieren. Mit der Zeit hatten die Leichen immer widerlicher gestunken, und als sie ihr Ziel erreichten, war Reverend Jenkins so mitgenommen, dass er auf der ersten Audienz beim Treuen König kein Wort herausbrachte ‒ so jedenfalls wurde es Fei Lipu berichtet. Da er nicht zur Delegation gehörte, musste er in einer Vorhalle des Palasts warten, an dessen Wänden die jüngsten Kämpfe ihre Spuren hinterlassen hatten. Die Soldaten, die ihm Gesellschaft leisteten, waren junge Hakka aus dem Süden, mit derben Gesichtern und schlechten Zähnen, gekleidet in die teuersten Seidenstoffe, die die Stadt zu bieten hatte. Breitbeinig fläzten sie auf den Bänken und fanden es zum Totlachen, dass ausgerechnet ein Ausländer ihren Dialekt verstand. Ihre gute Laune war ansteckend. Es dauerte nicht lange, bis er den von Jenkins geliehenen Anzug gegen ein rotes Seidengewand tauschte und unter Applaus das steife Gebaren eines Mandarins nachmachte. Alle boten ihm Schnaps aus ihren Kürbisflaschen an und sprachen von einem großen Feldzug nach Westen, der demnächst beginnen sollte. Sein Wunsch, die Truppe bis Nanking zu begleiten, wurde dem Treuen König vorgebracht und umstandslos genehmigt. Wenige Tage später brachen sie auf. Zum Abschied gab ihm Jenkins die Hand und bat ihn, das gemeinsame Anliegen nicht zu vergessen. Was Dreieinigkeit bedeutete, wollte den Rebellen nicht in den Kopf, hier war missionarische Beharrlichkeit gefragt. Steter Tropfen höhlt den Stein.

»Bestellen Sie Mary Ann schöne Grüße«, erwiderte Fei Lipu kühl.

Auf dem Boot war er der Ehrengast des Treuen Königs. Ein zupackender Mann um die vierzig, der nicht so tat, als würde er sich für Theologie interessieren. Ein Gott, zwei Söhne, zehn Gebote, das reichte ihm. Die Frage nach dem Verlauf der Gespräche beantwortete er mit einem Schulterzucken. Die Missionare hatten gelehrte Vorträge gehalten, er musste im Kriegschaos versuchen, eine funktionierende Verwaltung aufzubauen. Alle Vorstädte von Suzhou, durch die sie kamen, lagen in Trümmern, aber die Männer an Bord genossen die Fahrt. Gut gelaunt plauderten sie mit den Besatzungen anderer Boote, egal ob die ihren Dialekt verstanden oder nicht.

Wegen des dichten Verkehrs auf dem Fluss schafften sie am ersten Tag nur zwanzig chinesische Meilen. Am zweiten überquerten sie den Taihu-See, am dritten erreichten sie ein kleines Dorf, wo sie an Land gingen und die Reise zu Fuß fortsetzten. Kulis schleppten das Gepäck, für den Treuen König und seinen Gast standen Tragestühle aus Bambus bereit; Fei Lipus Versuche, die Ehre abzulehnen, führten zu nichts. Vierzig Meilen legten sie auf diese Weise zurück, und am Abend schmerzte sein Steiß so sehr, dass er nach dem Essen sofort ins Bett fiel.

Am Nachmittag des vierten Tages kamen sie durch Danyang, wo Soldaten dabei waren, einen alten Tempel abzureißen. Die Seitenwände waren bereits zerstört, nur die Stützbalken trugen noch das mit Kacheln bedeckte Dach. Bei der Ankunft des Treuen Königs brach die Gruppe in Jubel aus. Im Nu waren sie umringt und wurden eingeladen, beim letzten Schritt des Abrisses dabei zu sein. Vier Männer kletterten auf den First, um starke Taue zu befestigen, an deren Enden sich dichtes Gedränge bildete. Alle wollten mit anfassen. Unter lauten Kommandos begannen die Männer zu ziehen, und binnen Sekunden krachte das Dach in einer riesigen Staubwolke zu Boden. Der Blick des Treuen Königs schien zu sagen: Siehst du, wir meinen es ernst. Als sich der Staub gelegt hatte, trugen die Soldaten eine Statue herbei, die zuvor beiseite geschafft worden war. Eine sitzende, in eine bunte Rüstung gehüllte Figur, um deren Schultern ein roter Umhang hing. Fei Lipu erfuhr, dass es sich um den Kriegsgott Guandi handelte. Zweimal im Monat waren die Belagerer von Nanking hier zusammengekommen, um seinen Beistand zu erbitten. »Hat es ihnen was genützt?«, rief der Treue König triumphierend und musterte die Statue, die ihm kaum bis zur Hüfte reichte. »Der Gott unseres Feindes ist ein Zwerg«, befand er und erntete lautes Lachen. Jemand aus seiner Entourage reichte ihm ein gewaltiges Schwert, das er mit der Spitze in den Boden stieß. »Was soll ich mit ihm anstellen?«, fragte er, und alle skandierten »Kopf ab! Kopf ab!«. Eine Weile ließ er die Männer gewähren, dann hob er gebieterisch die Hand. »Es ist heute ein besonderer Gast bei uns. Von Hongkong aus hat er sich auf die Reise gemacht, um beim Aufbau des neuen China zu helfen. Wie ihr seht, hat er eine Hand verloren und trotzdem nicht aufgegeben. Wollen wir es ihm überlassen, diesem lächerlichen Gnom den Kopf abzuhacken? Was meint ihr, ja oder nein? Hao bu hao?«

Der ausbrechende Jubel ließ Fei Lipu keine Wahl. Zuerst wusste er nicht, ob er das Schwert mit einer Hand würde heben können, und um ihm die Aufgabe zu erleichtern, wurde die Figur auf den Boden gelegt. Der Kopf ruhte auf einem flachen Stein. Stille senkte sich über die Menge, die im Kreis um ihn herum stand. Es war später Nachmittag, die Sonne näherte sich dem Horizont, und als er den Blick hob, glaubte er in der Ferne die Mauern von Nanking zu erkennen. In seiner unsichtbaren Hand zuckte es. Er ging ins Hohlkreuz und wuchtete das Schwert in die Höhe. Vor vielen Jahren hatte er auf einer Barrikade gestanden, eine schwarz-rot-goldene Fahne geschwenkt und etwas empfunden, wofür ihm bis heute kein Name einfiel ‒ das Gefühl, seinen Platz und seine Aufgabe gefunden zu haben. Mit einem Schlag der zu werden, der er immer sein wollte. Einen Moment lang genoss er die Spannung, dann ließ er den Arm niederfahren und hackte dem Kriegsgott Guandi den Kopf ab.

Ab sofort gehörte er dazu.