Auszug aus der Chronik des Kreises Xiangxiang: Die letzte Nachricht des Mädchens Huang Shuhua, geschrieben am zwölften Tag des sechsten Mondes im dritten Jahr der Herrschaft Tongzhi

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Sie kamen am späten Vormittag. Seit Tagen hatte es geheißen, dass das letzte Fort vor der Stadt gefallen sei und der Feind beim Taiping-Tor einen langen Tunnel grabe. Dann war eine gewaltige Detonation zu hören, am Glockenturm wurde Alarm geläutet, und wir wussten, es ist so weit. Den ganzen Nachmittag über erklangen Schüsse und Schreie, aber noch waren sie nur im Osten der Stadt, weit weg von unserer Straße. Bei Einbruch der Dunkelheit lief mein älterer Bruder los, um zu schauen, ob es einen Ausweg gab, aber die Armee hatte bereits alles abgesperrt. Sänften wurden durch das Hanzhong-Tor getragen, die hohen Herren flohen und überließen uns unserem Schicksal. Wir waren zu fünft. Meine Mutter, mein Bruder, seine Frau und der kleine Baobao. Bis tief in die Nacht hörte ich die Schwägerin weinen, und als sie zu schreien begann, wusste ich, dass sie es getan hatten. Sofort verriegelte ich die Tür der Kammer, damit sie nicht auch mich retten konnten ‒ jetzt wünschte ich, ich hätte sie unversperrt gelassen. Am Morgen kam der Lärm immer näher. Wir hielten uns an den Händen und beteten, bis es am Tor pochte. Mein Bruder öffnete. Sie waren zu dritt, ein Offizier und zwei Gefreite, alle mit den Zeichen Xiang Yong auf der Brust. Zuerst erstachen sie den Bruder, dann stürmten sie durchs Haus und schlugen mit ihren Schwertern alles kurz und klein. Meine Mutter, die Schwägerin und ich wurden in den Hof gezerrt. Mutter fiel auf die Knie und wollte berichten, was mit Vater passiert war, aber bevor sie den Mund öffnen konnte, sagte der Offizier ›Befehl von oben‹ und schlug ihr den Kopf ab. Meine Schwägerin schleppten die Gefreiten ins Haus, ich flehte den Offizier an, mich auf der Stelle zu töten und mir das andere zu ersparen, aber er lachte nur und schüttelte den Kopf. Dich töte ich nicht, sagte er. Du kommst mit nach Hunan und wirst meine Frau.

Dies sind meine letzten Worte. Ich kann nicht mehr weinen, und ich will nicht mehr beten. Manchmal fällt mir ein, wie Baobao in meine Kammer kam und fragte, ob die Tante mit ihm spielen will, aber es ist so lange her, dass es sich wie ein Traum anfühlt. Mit sieben sui war sein Leben zu Ende, ich bin neunzehn, aber der Himmlische Vater, der ewig lebt, wollte uns nicht retten. Als die Gefreiten zurückkamen, wurde ich aus der Stadt gebracht. Überall brannten Feuer, Leichen lagen in den Gassen, und die Soldaten schleppten zum Fluss, was sich bewegen ließ. Möbel, Kleidung und Wertsachen, vor allem aber junge Frauen. Am Flussufer warteten unzählige Boote. Zusammen mit zwei anderen Mädchen wurde ich auf einen Sampan verfrachtet, eine hieß Zhang und die andere Jin, beide waren jünger als ich und starrten aus leeren Augen vor sich hin. Der kleinen Schwester Zhang gelang es, sich kurz nach dem Ablegen ins Wasser zu stürzen, als die Männer mit dem Segel beschäftigt waren. Daraufhin wurden Schwester Jin und ich am Mast festgebunden. Die Himmlische Hauptstadt, die einmal das kleine Paradies gewesen war, blieb in Rauch gehüllt zurück. Ungefähr dreißig Tage waren wir unterwegs. Die Männer an Bord freuten sich darauf, als Sieger nach Hause zurückzukehren, den ganzen Tag tranken sie Reiswein, und manchmal setzte sich der Offizier zu mir und erzählte, wie schön es in Hunan sei. Jedes Mal flehte ich ihn an, mich ins Wasser zu werfen, aber er tat es nicht. Ich liebe dich doch, sagte er und lachte sein dreckiges Lachen. Im Kreis Xiangxiang gingen wir an Land. Träger kamen, um die Beute des Offiziers in sein Dorf zu bringen. Bevor wir ihnen folgten, führte er mich in eine billige Unterkunft und fiel über mich her. Seine beiden Frauen zu Hause, sagte er, seien ihm zu alt. Hinterher lag er neben mir und schnarchte zufrieden. Das Schwert, mit dem er meiner Mutter den Kopf abgeschlagen hatte, lag direkt vor dem Bett. Du sollst nicht töten, heißt es im Heiligen Buch des Alten Vertrags, aber wie könnte ich mit dieser Schande leben? Soll ich Tag für Tag die Kerzen vor dem Familienaltar meines Peinigers anzünden? So leise es ging, stieg ich aus dem Bett und nahm das Schwert. Mit beiden Händen hob ich es hoch. Als die Klinge seine Brust durchbohrte, riss er die Augen auf und sah mich an. Fahr zur Hölle, flüsterte ich, du Mörder meiner Familie! Er starb, wie er es verdient hatte, mit offenen Augen. Wird meine Strafe darin bestehen, ihm im Jenseits wiederzubegegnen? Oder werde ich mit meiner Familie vereint sein? Früher hat Vater oft gesagt, die Beamten des Kaisers haben vergessen, was es heißt, dem Weg des Himmels zu folgen. Als er dasselbe von den Königen des Taiping-Reichs behauptete, wurde er abgeholt und beim Glockenturm verbrannt, seitdem war auch mein Leben vorbei. Shuhua, hat er mich ermahnt, als sie ihn holten, nicht nur Kaiser und Könige haben einen Auftrag des Himmels, wir auch. Ich glaube, so steht es in einem der verbotenen Bücher. Jetzt gibt es niemanden mehr, an den ich meine letzten Worte richten könnte. Ich habe versucht, ein guter Mensch zu sein, aber ich hatte wenig Zeit. Möge das Leid meiner Familie niemals vergessen werden.

 

 

Die Nachricht wurde neben den beiden Leichen gefunden. Die junge Frau hatte sie mit ihrem eigenen Blut geschrieben, bevor sie sich am Deckenbalken erhängte. Wir können ihre Tat nicht gutheißen, aber den Wunsch, die Erinnerung zu bewahren, möchten wir ehren.