Brief von Reverend Thomas Reilly an Reverend James Legge, D. ‌D. Leiter der London Missionary Society in Victoria, Hollywood Road

Nanking, 5. November 1864

Verehrter Reverend Legge,

nach zwei Monaten kann ich Ihnen endlich eine Nachricht aus Nanking senden, verbunden mit Grüßen an alle Brüder in Victoria, deren Gebete mich auf meiner Reise begleiten. Nach der Ankunft war ich einige Zeit lang fiebrig und konnte keine Briefe zum Hafen bringen, aber sobald es mir besser ging, habe ich meine Nachforschungen aufgenommen. Bevor ich davon berichte, muss ich gestehen, dass ich nicht glaube, je Gewissheit über das Schicksal unseres deutschen Bruders zu erlangen. Nanking mag einmal zu den prächtigsten Städten des Orients gehört haben, aber wer heute hier ankommt, stößt nur noch auf die Zeugnisse ihres Untergangs. Was genau geschah, als vor vier Monaten die Stadtmauern brachen, wird vielleicht nie bekannt werden, aber ich sehe Hinweise auf Mord und Totschlag in ungeheurem Ausmaß. Noch immer hängt der Faulgeruch der Verwesung über den Trümmern. Aus der Himmlischen Hauptstadt ist die Hölle auf Erden geworden.

Der verantwortliche Heerführer wurde inzwischen abberufen und nach Hause geschickt. Das Kommando hat sein Bruder übernommen, der berüchtigte General Zeng Guofan, den viele für den mächtigsten Mann Chinas halten. Vor zwei Tagen wurde ich von Soldaten in den Palast gebracht, in dem er residiert. Früher war es der Palast des Himmlischen Königs, von dem es heißt, er sei bereits im Frühjahr gestorben. Manche sprechen von Selbstmord, andere sagen, er sei entweder verhungert oder vergiftet worden. Über Hong Jins Schicksal dagegen herrscht Klarheit. Vor einem Monat wurde er in der Provinz Jiangxi verhaftet, zusammen mit dem halbwüchsigen Sohn seines Vetters. Sie waren noch hundertfünfzig Meilen vom Meiling-Pass entfernt, und ich nehme an, dass sie versuchen wollten, nach Hongkong zu fliehen. Stattdessen starben sie den grausamsten Tod, der sich denken lässt. Gott sei ihrer armen Seele gnädig!

Natürlich fiel es mir nicht leicht, dem Mann gegenüberzutreten, der einen meiner Freunde hat in Stücke schneiden lassen. Angeblich soll Zeng Guofan sofort nach dem Fall der Stadt um seine Entlassung ersucht haben, aber der Wunsch wurde abgelehnt. In Hunan leben zu viele Veteranen seiner Armee, deshalb glaubt man hier, dass der Hof ihn niemals nach Hause zurückkehren lassen wird. Als ich ihm vorgeführt wurde, sah er aus, als hätte er seit hundert Jahren nicht geschlafen. Anfang fünfzig soll er sein, wirkt aber viel älter, obwohl sich in seinem langen Bart kein weißes Haar zeigt. Es muss an den Augen liegen, dem gleichzeitig harten und doch seltsam leeren Blick. Er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstand, und starrte unentwegt auf das kleine Kruzifix auf meiner Brust. »Bei der Befreiung waren keine Ausländer in der Stadt«, erklärte er, nachdem ich mein Anliegen vorgebracht hatte. Um zu zeigen, dass ich ihm nicht glaubte, fragte ich, ob ich jemanden sprechen könne, der die Eroberung Nankings persönlich miterlebt hatte. »Nein«, lautete die Antwort. Wie ein Angeklagter stand ich vor dem riesigen Schreibtisch, und obgleich der General mich unentwegt musterte, hatte ich das Gefühl, dass er mit den Gedanken woanders war. Auf der Halbinsel Shandong ist bereits die nächste Rebellion im Gang, und Zeng Guofan soll befohlen worden sein, seine inzwischen verkleinerte Armee dorthin zu führen. Für ihn wird der Krieg nie enden. Als sein Sekretär, der bis dahin stumm hinter ihm gestanden hatte, nach vorne trat, hörte er gleichgültig zu. »Gouverneur Li Hongzhang in Suzhou«, murmelte er schließlich. »Er hat gute Kontakte zu allen ausländischen …« Das Wort ›Teufel‹ verkniff er sich mit Mühe.

Mehr hatte er mir nicht zu sagen.

Sie, Reverend, können sich meine Enttäuschung vorstellen. Seit den Ereignissen damals in Suzhou weiß jeder, dass Li Hongzhang ein Unmensch ist, dem man nicht trauen kann. Leider habe ich im Moment keine andere Spur. Da ich außerdem nicht weiß, wann ich Ihnen das nächste Mal schreiben kann, möchte ich diesen Brief nutzen, um noch etwas anzusprechen, das mir auf der Seele liegt. Ich muss befürchten, dass es Ihnen nicht gefallen wird, aber ich hoffe auf Ihr Verständnis.

Seit fünfzehn Jahren bemühe ich mich, Gottes Wort unter den Chinesen zu verbreiten. Seit vier Jahren tue ich es ohne den Rückhalt meiner Frau und den festen Anker eines Zuhauses, dessen Wert Sie so gut kennen wie ich. Meine Kinder wachsen in Schottland auf. Sollte ich von dieser Reise lebend zurückkehren, werde ich den Dienst bei der Londoner Mission beenden. Ich habe meinen Teil geleistet und mir damit das Recht erworben, die Aufgabe in andere Hände zu geben. Der Respekt Ihnen gegenüber gebietet es jedoch, auch jene Gründe zu nennen, die tiefer reichen als Einsamkeit und Heimweh.

Ich erinnere mich, wie Sie einmal bekannten, inzwischen mehr Zeit mit Ihren chinesischen Studien zu verbringen als mit der Heiligen Schrift. Meine scherzhafte Antwort, dass Sie Letztere ohnehin auswendig kennen, dürfte kaum den Schreck verborgen haben, der mich dabei durchfuhr. Nicht weil ich, wie manche unserer Vorgesetzten, am Sinn Ihrer Studien zweifeln würde, sondern weil mir plötzlich etwas dämmerte, für das mir bis heute die rechten Worte fehlen. Als junger Mann kam ich nach China, ohne zu zweifeln, dass Gott mich gerufen und zu diesem Dienst bestimmt hatte. Jetzt habe ich das Gefühl, das Land verlassen zu müssen, wenn ich meine tiefsten Gewissheiten nicht verlieren will. Ich glaube sogar, dass Eile geboten ist. Am liebsten würde ich mich auf dem schnellsten Weg nach Hongkong begeben und von dort nach Hause. Verstehen Sie das, Reverend? Ich selbst verstehe es nämlich nicht.

In letzter Zeit geschieht es manchmal, dass ich an Lord Elgin denke. Wie Sie wissen, bin ich einmal auf seinem Schiff von Victoria nach Shanghai gereist. Seinerzeit dachte ich, seine Unnahbarkeit sei Ausdruck aristokratischen Hochmuts, aber vielleicht gab er so wenig von sich preis, weil seine Gedanken Pfade beschritten, die den meisten von uns gefährlich erscheinen würden. Zu Missionaren ging er sogar noch mehr auf Distanz als zu anderen, obwohl er nie eine Messe verpasste und spürbar ungehalten war, wenn andere es taten. Als er mich fragte, ob ich ihn als Militärkaplan in den Norden begleiten wollte, konnte ich meine Überraschung nicht verhehlen. »Ich dachte, Sie halten nicht viel von meiner Profession«, sagte ich. Zuerst wirkte er verstimmt, dann schüttelte er den Kopf und begann von seiner Zeit in Jamaika zu erzählen, von Missionaren, die gegen die Plantagenbesitzer agitiert hätten (gewiss zu Recht, dachte ich im Stillen). Offenbar fand er ihr Verhalten falsch, aber plötzlich hielt er mitten im Satz inne und sagte: »Wir wissen nie, in wessen Dienst wir wirklich stehen.« Was er damit meinte, sagte er nicht, sondern fügte nur noch hinzu, ich solle es mir in Ruhe überlegen, das Angebot stehe. Meine Absage zwei Tage später nahm er kühl und unbeteiligt entgegen. Als ich letztes Jahr von seinem Tod in Indien hörte, fiel mir als Erstes dieser Satz ein. Wir wissen nie, in wessen Dienst wir wirklich stehen. In der Tat.

Tragen wir Missionare eine Mitschuld an diesem Krieg? Eines unserer Traktate hat Hong Xiuquan glauben lassen, er sei von Gott auserwählt, die Tataren aus dem Land zu jagen. Sind wir für die Missverständnisse verantwortlich, die entstehen, weil Menschen aus welchen Gründen auch immer nicht vorbereitet sind auf die Wahrheit unserer Botschaft? Dieses lassen sie außer Acht, jenes nehmen sie zu wörtlich ‒ sollen wir behaupten, nur für die Aussaat zuständig zu sein, nicht aber für den Boden, auf den sie fällt, und die Frucht, die sie hervorbringt? Dieser barbarische Krieg wurde von Menschen begonnen, die glaubten, Gottes Befehl zu gehorchen! Kann man überhaupt Christ sein, ohne im Herzen zu fühlen, was Gott von einem verlangt? Ich glaube, wenn man es am wenigsten wünscht, weiß man es am besten. Jetzt allerdings wünsche ich es mehr denn je und weiß nichts. Sollte der Moment, da wir Seinen Willen zu erkennen glauben, zugleich der Beginn der Barbarei sein?

Wir werden darüber sprechen, wenn ich nach Victoria zurückkehre. Bis dahin kann ich nur hoffen, durch eine wundersame Fügung doch noch herauszufinden, was mit meinem Freund Philipp geschehen ist. Vielleicht hat er Nanking vor dem Fall der Stadt verlassen und schämt sich, seinen Irrtum einzugestehen. Vielleicht wollte er irgendwo neu beginnen, wo niemand ihn kennt. In manchen Momenten glaube ich so fest daran, dass ich ihn beinahe vor mir sehe: einen nicht mehr ganz jungen Mann, der das Rätsel zu verbergen weiß, das ihn umgibt, und dessen Blick sich manchmal in die Ferne richtet, als könnte er es selbst nicht entschlüsseln. Ich glaube sogar, es würde ihm gefallen, dieser Mann zu sein. Ich hoffe und bete, er hat es geschafft.

Auf bald

Ihr Bruder Thomas Reilly