Kapitel eins

Ich wurde mit einem gebrochenen Herzen geboren.

Der Tag, an dem ich das Licht dieser einsamen kleinen Welt zum ersten Mal erblickt habe, war auch der Tag, an dem ich zum ersten Mal gestorben bin. Damals hat niemand meinen Herzfehler erkannt. 1975 war die Medizin noch nicht so weit wie heute, und meine bläuliche Hautfarbe wurde meiner traumatischen Geburt zugeschrieben. Zu allem Überfluss war ich nämlich eine Steißgeburt. Mit einer Spur von Ungeduld und der Begründung, nicht beide von uns retten zu können, forderte der erschöpfte Arzt meinen Vater auf, sich zwischen mir und meiner Mutter zu entscheiden. Nach kurzem Zögern, für das er den Rest seines Lebens büßen musste, entschied er sich für seine Frau. Doch die Hebamme überredete mich zu einem ersten Atemzug – zum Erstaunen aller und wider mein besseres Wissen –, und als ich schrie, strahlte ein ganzer Kreißsaal voll fremder Menschen. Mit Ausnahme meiner Mutter. Sie weigerte sich, mich auch nur anzusehen.

Meine Mutter hatte sich einen Sohn gewünscht, denn bei meiner Geburt gab es bereits zwei Töchter. Sie benannte uns alle nach Blumen. Meine älteste Schwester heißt Rose, ein Name, der sich als überaus passend erweisen sollte, denn sie ist schön, wenngleich nicht ohne Dornen. Die Nächste, die vier Jahre vor mir auf die Welt kam, war Lily. Das mittlere Blumenkind hat einen sehr hellen Teint, ist hübsch und für den einen oder anderen giftig. Eine Zeit lang weigerte sich meine Mutter, auch nur darüber nachzudenken, wie ich heißen sollte, doch am Ende wurde ich auf den Namen Daisy getauft. Ein Plan B ist grundsätzlich wider ihre Natur, daher besitzt keine von uns einen zweiten Vornamen. Es hätte viele andere – bessere – Optionen gegeben, doch sie nannte mich nach einer Blume, die oft gepflückt und noch öfter niedergetrampelt oder abgemäht wird. Die von ihrer Mutter am wenigsten geliebten Kinder sind sich ihrer Stellung stets bewusst.

Schon komisch, wie die Menschen in ihre Namen hineinwachsen, als ob eine Buchstabenfolge über das künftige Glück oder Unglück der Person entscheiden könnte. Natürlich ist es nicht dasselbe, den Namen von jemandem zu kennen oder denjenigen selbst, doch Namen sind der erste Eindruck, an dem wir alle messen und gemessen werden. Mir hat das Leben also den Namen Daisy Darker verpasst, und ich bin hineingewachsen, das darf ich wohl sagen.

Das zweite Mal bin ich genau fünf Jahre später gestorben, als ich an meinem Geburtstag einen totalen Herzstillstand erlitt. Vielleicht verweigerte mein Herz aus Protest seinen Dienst, weil ich ihm mit meinem Versuch, bis nach Amerika zu schwimmen, zu viel abverlangte. Eigentlich wollte ich von zu Hause weglaufen, war jedoch besser im Schwimmen und hoffte daher, es mit ein bisschen Rückenschwimmen bis zum Mittag nach New York zu schaffen. Wie sich zeigte, schaffte ich es nicht einmal aus der Blacksand Bay heraus, und der Versuch endete tödlich. Das wäre es für mich dann wohl gewesen, hätten mich nicht die noch halb aufgeblasenen orangefarbenen Schwimmflügel über Wasser gehalten und wäre mir meine zehnjährige Schwester Rose nicht zu Hilfe gekommen. Sie schwamm zu mir, schleppte mich bis ans Ufer ab und holte mich mit einer energischen Herz-Lungen-Massage, bei der sie mir zwei Rippen brach, zurück ins Leben. Zu meinem Glück hatte sie gerade erst bei den Pfadfindern ihr Erste-Hilfe-Abzeichen gemacht. Zuweilen beschleicht mich der Verdacht, dass sie es bereut hat. Ich meine, mich zu retten. Das Abzeichen hat sie geliebt.

Nach diesem zweiten Tod war mein Leben nie wieder dasselbe, da nun zur Gewissheit wurde, was sie wahrscheinlich längst alle ahnten: Ich hatte einen Defekt.

All die Ärzte, die meine Mutter mit mir aufsuchte, als ich fünf war, spulten ein und denselben Text ab, mit ein und demselben Gesichtsausdruck, als hätten sie ein und dieselbe jämmerliche Rolle einstudiert. Sie waren sich alle darin einig, dass ich nicht älter als fünfzehn werden würde. Jahrelang untersuchten sie mich, um zu beweisen, wie wenig Jahre mir noch verblieben. Dank meiner seltenen Krankheit waren diese Mediziner von mir fasziniert. Manche reisten sogar aus dem Ausland an, nur um den Operationen an meinem offenen Herzen beizuwohnen. Ich fühlte mich zugleich wie ein Superstar und ein Monster. Trotz aller Anstrengung konnte das Leben mein Herz nicht brechen. Die unregelmäßig tickende Zeitbombe in meiner Brust war vor meiner Geburt eingepflanzt – ein seltener genuiner Defekt.

Länger zu leben, als es das Leben für mich vorgesehen hatte, erforderte einen täglichen Cocktail aus Betablockern, Serotonininhibitoren, synthetischen Steroiden und Hormonen, der mich und mein Herz am Laufen hielt. Falls das alles nach harter Arbeit und hohem Aufwand klingt, dann trügt der Eindruck nicht, erst recht für ein fünfjähriges Kind. Andererseits besitzen Kinder mehr Widerstandskraft als Erwachsene. Sie sind viel besser darin, aus dem, was sie haben, das Beste zu machen und sich weniger darum zu scheren, was ihnen fehlt. Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr war ich de facto bereits achtmal gestorben. Wäre ich eine Katze, hätte ich mir Sorgen machen müssen. Aber ich war ein kleines Mädchen und hatte Wichtigeres zu tun, als mich vor dem Sterben zu fürchten.

Neunundzwanzig Jahre nach meiner traumatischen Ankunft bin ich sehr dankbar dafür, mehr Zeit bekommen zu haben, als mir alle vorausgesagt hatten. Wenn man weiß, dass man eher früher als später stirbt, geht man sein Leben vermutlich anders an. Der Tod ist eine einschneidende Erfahrung, und ich stehe auf ewig in der Schuld all derer, die mir dabei geholfen haben, länger auf dieser Welt zu bleiben. Ich tue mein Bestes, mich dankbar zu erweisen. Ich bemühe mich, zu anderen und auch mir selbst gut zu sein, und rege mich höchst selten über Kleinigkeiten auf. In materieller Hinsicht lebe ich zwar bescheiden, andererseits ist mir das auch nie wichtig gewesen. Alles in allem kann ich mich nicht beklagen. Ich bin immer noch da, ich habe eine Nichte, deren Gesellschaft ich jede Minute genieße, und ich bin auf meine Arbeit stolz – die ehrenamtliche Tätigkeit in einem Altenheim. Wie meine Lieblingsbewohnerin jedes Mal sagt, wenn sie mich sieht: Um alles im Leben zu bekommen, was man möchte, genügt es zu wissen, dass man bereits alles besitzt.

Manchmal halten mich die Leute für jünger, als ich bin. Mehr als einmal musste ich mir schon den Vorwurf anhören, mich immer noch wie ein Kind zu kleiden – meine Mutter hat meine Kleiderwahl nie gebilligt –, aber ich trage nun einmal gerne Baumwollkleider und Retro-T-Shirts. Ich flechte mir das lange schwarze Haar lieber zu Zöpfen, als es mir schneiden zu lassen, und von Make-up habe ich nicht die geringste Ahnung. In Anbetracht all der schlimmen Dinge, die mir widerfahren sind, bin ich mit meinem Aussehen ganz zufrieden. Der einzige sichtbare Beweis meiner Krankheit ist eine senkrechte Narbe mitten auf der Brust. Früher haben die Leute sie immer angestarrt, wenn sie unter einem Badeanzug, Pullover mit V-Ausschnitt oder Sommerkleid zum Vorschein kam. Ich habe das niemandem übel genommen. Ich starre sie ja selbst manchmal an, denn die handwerkliche Seite meiner verlängerten Existenz fasziniert mich. Diese blassrosafarbene Linie ist der einzige äußerliche Hinweis darauf, dass ich mit einem kleinen Defekt geboren bin. In meiner etwas dysfunktionalen Kindheit wechselten sich die Ärzte alle paar Jahre darin ab, mich wieder aufzumachen, einen Blick in mein Inneres zu werfen und ein paar Reparaturen vorzunehmen. Ich bin wie ein altes Auto, das wahrscheinlich nicht mehr auf die Straße gehört, aber sehr gut gewartet wurde – wenngleich nicht immer und von jedem.

Familien sind wie Fingerabdrücke: Keine zwei sind sich gleich, und sie hinterlassen ihre Spuren. Der Webteppich meiner Familie hatte schon immer ein paar lose Fäden zu viel. Schon vor meiner Ankunft war er an den Kanten etwas ausgefranst, und wenn man genau hinsieht, entdeckt man möglicherweise auch ein paar Löcher. Manche Leute haben einfach keinen Blick für die Schönheit der Unvollkommenheit, doch ich habe meine Großmutter, meine Eltern und meine Schwestern immer geliebt. Egal, wie sie zu mir standen, und egal, was passiert ist.

Meine Großmutter, die ich zärtlich Nana nenne, ist die einzige Person in meiner Familie, die mich vom ersten Tag an bedingungslos geliebt hat. So sehr, dass sie ein Buch über mich geschrieben hat oder zumindest über ein kleines Mädchen mit demselben Namen. Falls dir mein Name irgendwie bekannt vorkommt, dann aus diesem Grund. Daisy Darkers kleines Geheimnis ist ein Kinderbuchbestseller, den meine Nana geschrieben und illustriert hat. Man findet ihn in fast jedem Buchladen rund um die Welt, oft zwischen dem Grüffelo und der Raupe Nimmersatt . Nana sagt, für die Geschichte habe sie sich meinen Namen geborgt, damit ich auf die eine oder andere Weise ewig weiterlebe. Ich fand das lieb von ihr, auch wenn meine Eltern und meine Schwestern das damals anders sahen. Ich hege den Verdacht, dass auch sie gerne ewig weiterleben wollten, sich dann aber damit zufriedengaben, von den Tantiemen, die das Buch abwarf, ganz gut zu leben.

Nachdem sie Daisy geschrieben hatte, wusste Nana nicht, wohin mit all ihrem Geld, auch wenn man es ihr nicht ansah. Mit Spenden und gegenüber Fremden ist sie immer großzügig, wohingegen sie selbst genügsam lebt und ihre Familie ein bisschen kurzhält. Sie ist davon überzeugt, dass Leute, die zu viel haben, zu wenig Ehrgeiz entwickeln, und hat immer zurückhaltend reagiert, wenn sie um Geld gebeten wurde. Aber das könnte sich bald ändern. Vor vielen Jahren, lange vor meiner Geburt, hat eine Wahrsagerin meiner Nana bei einer Kirmes in Land’s End aus der Hand gelesen und ihr prophezeit, sie würde nicht älter als achtzig Jahre werden. Das hat sie nie vergessen. Selbst ihr Agent weiß, dass er keine weiteren Bücher mehr von ihr erwarten darf. Morgen ist nicht nur Halloween und Nanas achtzigster Geburtstag. Sie glaubt, dass es ihr letzter ist, und die anderen glauben, dass sie endlich ihr Geld in die Finger bekommen. Meine Familie hat sich seit über zehn Jahren nicht mehr zur selben Zeit am selben Ort getroffen, nicht einmal zur Hochzeit meiner Schwester, doch als Nana sie ein letztes Mal nach Seaglass einlud, sagten sie alle zu.

Mit ihrem Haus an der Küste von Cornwall verbinde ich meine glücklichsten Kindheitserinnerungen. Meine traurigsten auch. Hier haben meine Schwestern und ich jedes Weihnachten und jedes Ostern verbracht und nach der Scheidung meiner Eltern zusätzlich die langen Sommerferien. Ich bin in meiner Familie nicht die Einzige mit einem gebrochenen Herzen. Ob meine Eltern oder meine Schwestern oder sogar Nanas Agent die Vorhersage ihres bevorstehenden Todes ernst nehmen, weiß ich nicht. Ich tue es jedenfalls. Denn manchmal können die seltsamsten Dinge die Zukunft eines Menschen prophezeien. Wobei wir wieder bei meinem Namen wären. Ein Kinderbuch mit dem Titel Daisy Darkers kleines Geheimnis hat nicht nur meine Familie für immer verändert, sondern war zugleich eine Art Vorahnung. Denn ich habe ein Geheimnis, und ich glaube, es ist an der Zeit, es zu lüften.