Kapitel zwei
30. Oktober 2004, 16:00
Seaglass wiederzusehen ist atemberaubend.
Normalerweise dauert die Fahrt von London nach Cornwall mindestens fünf Stunden, mit dem Zug geht es etwas schneller. Aber ich habe es immer geliebt, die Hektik der Großstadt gegen ein Geflecht verschlungener Erinnerungen und Landstraßen zu tauschen. Ich ziehe einen einfacheren, langsameren, ruhigeren Lebensstil vor, und London ist naturgemäß laut. Die Fahrt an diesen Ort hat sich immer schon wie eine Zeitreise angefühlt, doch meine heutige Reise war schneller als erwartet und einigermaßen schmerzlos. Und das ist gut so, denn ich wollte als Erste da sein. Vor den anderen.
Mit Freuden sehe ich, dass sich seit meinem letzten Besuch nicht viel verändert hat. Das viktorianische Bruchsteinhaus mit seinen gotischen Türmchen und dem türkisfarbenen Ziegeldach ist augenscheinlich aus dem Granit gebaut, auf dem es steht. Hier und da ziert immer noch das blaugrüne Seeglas, dem das kleine Herrenhaus seinen Namen verdankt, die Fassade und funkelt herrlich in der Sonne. Dicht vor der Küste thront das Gebäude auf seiner eigenen winzigen Insel inmitten der Brandung. Wie viele Dinge im Leben ist Seaglass nur schwer zu finden, wenn man nicht weiß, wo man danach suchen muss. Es liegt vor einer kleinen Bucht, die von den Einheimischen Blacksand Bay genannt wird und sich unterhalb zerklüfteter Klippen befindet und nur über nicht kartografierte Wege, ganz und gar abseits ausgetretener Pfade, zu erreichen ist. Dies ist nicht das Cornwall, das man von Ansichtskarten kennt. Aber abgesehen von der Unzugänglichkeit gibt es noch jede Menge andere Gründe, weshalb die Leute diesen Ort meiden.
Meine Großmutter hat Seaglass von ihrer Mutter geerbt, die es angeblich beim Kartenspiel von einem betrunkenen Herzog gewonnen hat. Der Familienlegende nach war der Herzog ein berüchtigter Lebemann, der das exzentrische Haus im 19. Jahrhundert baute, um sich dort mit seinen reichen Freunden zu treffen. Doch er konnte die Finger nicht vom Alkohol lassen und ertränkte, nachdem er seinen »Sommerpalast« nun auch noch an eine Frau verloren hatte, sich und seinen Kummer im Ozean. Trotz seiner tragischen Vergangenheit ist dieser Ort ein ebenso fester Bestandteil unserer Familie wie ich. Nana hat von klein auf hier gelebt. Obwohl sie mit dem Schreiben von Kinderbüchern ein hübsches Vermögen gemacht hat und nirgends sonst leben wollte, hat sie nie viel in die Instandhaltung des Hauses investiert. Infolgedessen kann man Seaglass dabei zusehen, wie es buchstäblich im Meer versinkt, und wahrscheinlich nicht mehr lange existieren wird – ebenso wie ich.
Die winzige Insel, auf der es vor fast zweihundert Jahren errichtet wurde, ist mit der Zeit erodiert. Die Wucht, mit der sich der Atlantische Ozean an den Felsen bricht, dazu Wind und Regen, haben ihre Spuren hinterlassen. Das Haus quillt von Geheimnissen über und von Feuchtigkeit auf. Doch trotz seiner abblätternden Farbe, den knarrenden Dielen und seines uralten Mobiliars fühle ich mich an keinem anderen Ort auf der Erde so zu Hause wie hier. Ich bin die Einzige, die immer noch regelmäßig zu Besuch kommt. Geschiedene Eltern, ein geschäftiges Leben und Geschwister mit so wenig Gemeinsamkeiten, dass man an unserer Verwandtschaft zweifeln könnte, sorgen dafür, dass Familientreffen Seltenheitswert besitzen. Dieses Wochenende wird daher in mancher Hinsicht etwas Besonderes sein. Mitleid legt sich mit dem Alter, Hass kommt und geht, doch Schuld kann ein Leben lang halten.
Die Anreise fühlt sich einsam und endgültig an. Die Straße führt auf dem höchsten Punkt der Klippe zu einem Pfad, der seinerseits in einer Sackgasse endet. Von dort gibt es nur zwei Möglichkeiten, zur Blacksand Bay zu gelangen: ein hundert Meter tiefer Sturz in den sicheren Tod oder ein steiler, holpriger Pfad zu den Dünen hinunter. Stellenweise ist dieser Pfad weggebrochen, man tut daher gut daran, auf seine Schritte zu achten. Auch nach all den Jahren, die ich nun schon hierherkomme, ist Blacksand Bay für mich das Paradies auf Erden.
Am späten Nachmittag steht die Sonne schon tief am diesig blauen Himmel, und das Meeresrauschen klingt wie eine altvertraute Begleitmusik, die ich sehr vermisst habe. So weit das Auge reicht, ist keine Menschenseele zu sehen, nur der Sand, das Meer und der Himmel – und in der Ferne Seaglass auf seinem uralten Felsfundament, an dem sich wie eh und je die Wellen brechen.
Kaum habe ich es mit heiler Haut bis zum Fuß der Klippe geschafft, ziehe ich mir die Schuhe aus und genieße den Sand zwischen meinen Zehen. So fühlt sich Zuhause an. Den alten Karren, der hier für den Koffertransport bereitsteht, ignoriere ich; seit einiger Zeit reise ich mit leichtem Gepäck. Nur selten braucht man die Dinge wirklich, die man zu seinem Glück zu brauchen glaubt. Ich begebe mich auf den langen Marsch über den natürlichen Sanddamm, der bei Ebbe Seaglass mit dem Festland verbindet. Das Haus ist nur bei Ebbe zugänglich und bei Flut vollständig vom Rest der Welt abgeschnitten. Nana hat Bücher schon immer den Menschen vorgezogen, und das Leben an einem so unzugänglichen Ort kam ihrem Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, sehr entgegen.
Diese einsame Bucht mit ihrem berühmten schwarzen Sand kennt viele der Bruchlandungen in meinem Leben. Hier werde ich an all die Reisen erinnert, die ich aus Angst nicht angetreten bin. In jedem Leben gibt es unbekannte Gewässer – die Orte und Menschen, die wir aus irgendeinem Grund nicht finden konnten. Hat man allerdings das Gefühl, sie niemals zu erreichen oder ihnen niemals zu begegnen, dann ist das noch um einiges trauriger. Die unerforschten Ozeane in unseren Köpfen und Herzen haben gewöhnlich damit zu tun, dass wir unseren Kindheitsträumen misstrauen und nicht genügend Zeit in sie investieren. Erwachsene verlernen, daran zu glauben, dass ihre Träume immer noch wahr werden könnten.
Ich möchte stehen bleiben, die salzige Luft genießen, mir die warme Nachmittagssonne ins Gesicht scheinen und das Haar vom Westwind zerzausen lassen, aber Zeit ist für mich ein Luxus geworden, den ich mir nicht mehr leisten kann. Schließlich stand sie mir von an Anfang nur sehr begrenzt zur Verfügung. Ich eile also weiter, auch wenn mir der feuchte Sand an den Fußsohlen klebt, als wollte er mich festhalten, und die Möwen über mir kreischen, als warnten sie mich vor jedem weiteren Schritt. In meinem Kopf klingen ihre Rufe wie eine Aufforderung: Kehr um. Kehr um. Kehr um.
Doch ich ignoriere alle Omen, die mir suggerieren, dass dieser Besuch keine gute Idee wäre, und laufe noch ein bisschen schneller. Ich will vor den anderen da sein, ich will Seaglass so sehen wie in meinen Erinnerungen, bevor die anderen hereinplatzen und alles verderben. Dabei frage ich mich, ob auch andere Menschen sich auf das Wiedersehen mit ihren Familien freuen und es gleichzeitig jedes Mal fürchten. Wenn ich erst mal da bin, wird sich alles fügen. Das rede ich mir zumindest ein. Doch allein der Gedanke erscheint mir wie eine Lüge.
Das Windspiel, das im Eingang hängt, begrüßt mich mit einer von der Brise angestimmten melancholischen Melodie. Ich habe es als Kind meiner Nana zu Weihnachten gebastelt – aus all dem glatten, gerundeten Glas in Grün und Blau, das ich am Strand hatte finden können. Sie hat so getan, als freute sie sich über das Geschenk, und seit damals hängt das Seeglas-Windspiel über der Tür. Die Lügen aus Liebe besitzen einen Hauch von Reinheit. Auf der Eingangsstufe prangt ein riesiger Kürbis mit einem kunstvoll geschnitzten Schreckgesicht. Nana liebt es, das Haus zu Halloween zu schmücken. Noch bevor ich die große, verwitterte Holztür erreiche, fliegt sie auf, und das vertraute Empfangskomitee stürzt mir entgegen.
Poppins, eine ältere Bobtailhündin, ist die treue Gefährtin und beste Freundin meiner Nana. Sie kommt auf mich zugerannt – ein riesiger Springball aus grau-weißem Fell. Ihr Hecheln sieht wie ein Lachen aus, und sie wedelt mit dem Schwanz, als hinge ihr Leben dran. Ich begrüße sie überschwänglich und bewundere die rosa Schleifen an den beiden Zöpfchen, die ihr die langen Haare aus den großen braunen Augen halten. Ich folge dem Blick der Hündin, als diese sich zum Haus umdreht. Im Eingang steht Nana – knapp über eins fünfzig groß und freudestrahlend. Ihre wilden weißen Locken umrahmen ihr hübsches, vom Wein und vom Alter verwittertes Gesicht. Sie trägt ihre Lieblingsfarben Rosa und Violett von Kopf bis Fuß, bis hin zu lila Schnürsenkeln an den pinkfarbenen Schuhen. Andere mögen in ihr eine exzentrische alte Dame sehen oder auch die berühmte Kinderautorin Beatrice Darker. Ich sehe meine Nana.
Sie lächelt mir entgegen. »Komm rein, es regnet jeden Moment.«
Mir liegt schon ein Einwand gegen ihre Wetterprognose auf der Zunge – ich habe mir doch gerade erst die Sonne ins Gesicht scheinen lassen –, aber als ich aufblicke, sehe ich selbst, wie sich der blaue Bilderbuchhimmel über Seaglass mit einem Mal zu einer Palette aus Grau-Braun verfinstert hat. Ich zittere und stelle fest, dass es auch deutlich kälter ist, als es mir eben noch erschien. Tatsächlich könnte ein Sturm aufziehen. Nana hatte von jeher die Gabe, vor allen anderen zu wissen, was kommt. Also tue ich wie immer, was sie sagt, und folge ihr und Poppins ins Haus.
»Vielleicht ruhst du dich erst mal ein bisschen aus, bevor der Rest der Familie dazukommt«, sagt Nana, verschwindet in die Küche und lässt mich – mit dem Hund – in der Diele zurück. Mir weht ein köstlicher Duft entgegen. »Hast du Hunger?«, ruft sie. »Möchtest du eine Kleinigkeit, während wir warten?« Ich höre das Scheppern uralter Töpfe und Pfannen, aber ich weiß, dass sich Nana beim Kochen nicht gerne stören lässt.
»Nein danke, mir geht’s gut«, antworte ich und fange mir einen missbilligenden Blick von Poppins ein. Sie ist immer für einen Happen zu haben und trottet in der Hoffnung, dass etwas für sie abfällt, in die Küche.
Ich gebe zu, dass ich eine Umarmung schön gefunden hätte, doch Nana und ich sind beide etwas aus der Übung, was Liebesbekundungen angeht. Ich vermute, dass sie vor diesem Familientreffen genauso viel Muffensausen hat wie ich, und jeder Mensch geht mit seinen Ängsten anders um. Dem einen sieht man sie auf den ersten Blick an, der andere hat gelernt, sie für sich zu behalten.
Wie immer fällt mein erster Blick auf die Uhren. Es ist unmöglich, sie zu ignorieren. Die Eingangsdiele beherbergt nicht weniger als achtzig Exemplare in den unterschiedlichsten Farben, Größen und Formen, die alle ticken. Wände voll Zeit. Eine Uhr für jedes ihrer Lebensjahre und jede liebevoll von ihr ausgesucht: als Mahnung an sie selbst und an andere, dass sie über ihre Zeit selbst bestimmt. Als Kind haben mir die Uhren Angst gemacht. Ich konnte sie aus meinem Zimmer hören – tick tack, tick tack, tick tack –, als flüsterten sie mir unablässig zu, dass meine eigene Lebenszeit zerrinnt.
Und mit einem Schlag ist da wieder dieses Unbehagen über das bevorstehende Wochenende, ohne dass ich weiß, wieso.
Ich folge meinen offenen Fragen weiter ins Haus, um im Inneren vielleicht Antworten zu finden, und mich überkommt augenblicklich eine seltsame Mischung aus Nostalgie und Schwermut. Ich fühle mich von den vertrauten Ausblicken und Gerüchen in die Vergangenheit zurückversetzt, eine köstliche Mischung aus Sehnsucht und Salz in der Luft. Der schwache Duft nach Meer dringt dem alten Gemäuer aus jeder Pore, als wäre jeder Ziegel und jeder Balken von der See getränkt.
Nichts hat sich in all den Jahren, die ich Seaglass kenne, verändert. Die weiß getünchten Wände und Holzböden sehen noch genauso aus wie damals, als meine Schwestern und ich Kinder waren – vielleicht ein wenig verschlissen von den Spuren der Liebe und des Verlusts, deren Zeuge sie geworden waren. Während ich dies alles aufsauge, sehe ich uns immer noch als die Menschen vor mir, die wir einmal waren, bevor uns das Leben – so wie das Meer den Sand – zu dem gemacht hat, was wir heute sind. Ich kann verstehen, wieso Nana nie irgendwo anders hatte leben wollen. Wäre dies mein Haus, würde ich es auch nie verlassen.
Einmal mehr frage ich mich, weshalb sie wirklich die ganze Familie zu ihrem Geburtstag hierher eingeladen hat, wo ich doch weiß, dass sie nicht einmal alle mag, geschweige denn liebt. Vielleicht um lose Enden zu verknüpfen? Liebe und Groll verheddern sich schon mal, und man schafft es nicht, das Knäuel gemischter Gefühle aufzulösen. Fragen über andere führen bei mir oft zu Fragen an mich selbst. Bekäme ich die Chance, etwas auszubügeln, bevor mein Leben endet, welche Falten würde ich am liebsten glätten, damit sie das Bild, das ich mir von mir mache und mit dem ich anderen in Erinnerung bleiben möchte, nicht stören? Ehrlich gesagt glaube ich, dass einige Knitter und unschöne Flecken einfach dazugehören. Wen interessiert schon eine leere Leinwand?
Ich steige die knarrende Treppe hinauf und lasse die tickenden Uhren hinter mir. In jedem Zimmer, an dem ich vorbeikomme, lauern die Gespenster der Erinnerungen aus all den Tagen, Wochen und Jahren, in denen ich hier entlanggelaufen bin. Stimmen aus der Vergangenheit flüstern durch die Spalten in den Fenstern und den Ritzen in den Dielen und tarnen sich als Meeresrauschen. Ich sehe vor mir, wie wir als Kinder hier herumgerannt sind, aufgedreht von der Seeluft, vom Spiel, vom Verstecken und von unseren gegenseitigen Verletzungen. Im Wehtun waren meine Schwestern und ich am besten. Das haben wir schon früh gelernt. Die Kindheit ist ein Wettkampf, bei dem sich zeigt, wer man wirklich ist, bevor man seinen späteren Charakter annimmt. Nicht jeder kann dabei gewinnen.
Ich trete in mein altes Zimmer – das kleinste im Haus. Es ist immer noch so eingerichtet wie damals: weiße Möbel – mehr shabby als chic – und eine alte Gänseblümchentapete, die sich hier und da von den Wänden löst. Nana ist eine Frau, die etwas nur einmal sagt und tut und die nichts ersetzt, es sei denn, es ist kaputt. Wenn wir Kinder kamen, hatte sie uns immer Blumen ins Zimmer gestellt, aber heute ist die Vase in meinem Zimmer leer. Stattdessen steht da eine Silberschale mit Potpourri, eine hübsche Mischung aus Kiefernzapfen, getrockneten Blütenblättern und winzigen Muscheln. Im Bücherregal entdecke ich ein Exemplar von Daisy Darkers kleines Geheimnis und werde an mein eigenes Geheimnis erinnert. Jenes Geheimnis, das ich noch nie mit jemandem teilen wollte. Auch jetzt verschließe ich es fürs Erste wieder in dem Kästchen in meinem Kopf, in dem ich es seit jeher aufbewahre.
Mit seiner sanften Hintergrundmusik beschwichtigt das Meer meine aufgewühlten Gedanken. Ich finde das Geräusch beruhigend. Ich höre die Wellen dort unten an die Felsen schlagen. Mein Fenster ist von der Gischt verdreckt – Tröpfchen, die wie Tränen die Scheibe herunterlaufen, als würde das alte Gemäuer weinen. Ich blicke hinaus, und die See starrt zurück: kalt, schier endlos und unerbittlich. Dunkler als zuvor.
Vielleicht war es doch falsch herzukommen, aber es hätte sich auch nicht richtig angefühlt fernzubleiben.
Der Rest meiner Familie wird jeden Moment da sein. Ich werde von meiner Warte aus beobachten können, wie sie einer nach dem anderen auf dem Damm herüberlaufen. Wir waren schon eine Ewigkeit nicht mehr alle zusammen. Ich wüsste gern, ob alle Familien so viele Geheimnisse haben wie wir. Wenn die Flut kommt, werden wir acht Stunden lang vom Rest der Welt abgeschnitten sein. Ich bezweifle, dass es jemals wieder ein solches Treffen geben wird.