Kapitel acht

3 0. Oktober 2004, 22:00 – acht Stunden bis zur Ebbe

Dad lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, Nancy schnappt nach Luft, Lily kreischt, und Nana flucht, als die Tür aufgestoßen wird. Auf dem Tisch flackern die Kerzen und werfen gespenstische Schatten auf unsere Gesichter. Einzig Rose hat ihre Nerven unter Kontrolle, als ein Mann auf der Schwelle erscheint. Aus dem Flur wird er von hinten beleuchtet, und ich brauche ein paar Sekunden, um die Gestalt zu erkennen, die einen neuen Schatten auf diesen Abend wirft.

Conor tritt ein. Ich habe den Mann, den ich seit unserer Kindheit heimlich liebe, vor langer Zeit aus den Augen verloren. Viele Jahre meines Lebens habe ich im Wartezimmer der Liebe zugebracht, unbeachtet von den Menschen, nach deren Aufmerksamkeit ich mich sehnte. Für andere ist das offenbar ein Kinderspiel – Lily zum Beispiel hatte nie Probleme damit, den Blick des anderen Geschlechts auf sich zu ziehen –, doch ich bin da schon immer ein bisschen unbeholfen gewesen. Wenn ich jemanden mag, weiß ich nie, was ich sagen oder machen soll, sodass ich am Ende gar nichts sage oder mache. So oder so wäre keiner hier mit einer Beziehung zwischen Conor und mir einverstanden gewesen. Jede Familie hat ein schwarzes Schaf, und bei einem Nachnamen wie Darker ist es nur fair, dass wir mehr als eins haben. So wie wahrscheinlich allen hier liegt mir eine Bemerkung auf der Zunge, doch Nana kommt uns zuvor.

»Conor, willkommen! Ich wusste nicht, ob du es einrichten kannst.«

»Du hast ihn eingeladen?«, fragt meine Mutter.

»Auch wenn Conor kein Darker ist, so gehört er trotzdem zu dieser Familie«, sagt Nana.

»Worüber man unterschiedlicher Meinung sein kann«, murmelt Dad und starrt auf den Tisch.

Conor überhört die Bemerkung. »Ich habe versucht, anzurufen und Bescheid zu geben, dass ich mich verspäte – ich wurde bei der Arbeit aufgehalten –, aber offenbar gibt es ein Problem mit deinem Telefon.«

»Stimmt. Es hat ihr zu oft geklingelt, deshalb hat sie es gekündigt«, sagt Lily und nimmt einen so großen Schluck Champagner, als wäre es Limonade.

»Also, jedenfalls wollte ich hier sein«, sagt er.

Nanas Gesicht strahlt wie ein Weihnachtsbaum. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Conor, so wie alle Frauen in dieser Familie zu dem ein oder anderen Zeitpunkt. Der Mann, der jetzt im Türrahmen steht und etwas verloren dreinblickt, erinnert mich an den Jungen bei unserer ersten Begegnung. Manche Erinnerungen holen uns immer wieder ein.

Es war ein heißer Sommertag, als wir den neunjährigen Conor Kennedy zum ersten Mal mit Eimer und Spaten am Strand entdeckten. Er saß allein im Sand, in der Bucht gegenüber von Seaglass, die wir als unsere eigene betrachteten. Sein Auftauchen empfanden wir wie unbefugtes Betreten. Blacksand Bay ist Teil des öffentlich zugänglichen Küstenstreifens, nur dass faktisch nie jemand diesen Teil des Strands mit dem schwarzen Sand besucht. Man muss die steile Klippe hinunterklettern, und überall sind Schilder angebracht, die davor warnen, in diesem Strandabschnitt zu schwimmen. Eigentlich glaube ich nicht an Liebe auf den ersten Blick, doch irgendetwas passierte an jenem Tag mit den Frauen in meiner Familie auf den allerersten Blick. Mit uns allen.

Ich war vier, Lily acht und Rose neun. In jenen Sommerwochen in Seaglass lebten wir Kinder in unserer eigenen Welt, während mein Vater emsig durch die reale Welt tourte. Im Juli setzte Nancy uns hier ab und kam im August wieder, in den Wochen dazwischen waren wir mit Nana allein. Nur selten wagten wir zu fragen, wo unsere Mutter hinging, nachdem sie uns abgesetzt hatte, doch ihre Antwort lautete jedes Mal: woandershin. Meinen Schwestern fehlte sie mehr als mir. Aber ich habe Seaglass eben schon immer geliebt, es ist der einzige Ort, an dem ich mich richtig zu Hause fühle.

Fremde waren ein seltener Anblick in der Blacksand Bay. An jenem Tag blieben wir alle, einschließlich Nana, wie angewurzelt stehen und starrten diesen perfekt aussehenden Jungen an, der an unserem Strand saß. Irgendwie wirkte er fehl am Platz, und doch passte er perfekt hierher. Wie immer war Lily die Erste, die den Mund aufmachte. Es war nicht gerade Shakespeare, aber es war die Frage, die uns allen auf der Zunge brannte.

»Wer bist du?«

Der Junge blickte ungerührt zu uns auf. »Was geht euch das an?«

Lily ballte die Hände zu Fäusten und stemmte sie in die Hüften. »Wir wohnen hier.«

Er sah so alt aus wie Rose, benahm sich aber, als wäre er um einiges älter. Er strich sich den Sand von den Händen und ahmte Lilys Haltung nach. »Ach ja? Ich zufällig auch.«

Dann zog er ein Jo-Jo aus der Tasche und fing an, damit zu spielen, ohne uns aus den Augen zu lassen.

Danach werden die Erinnerungen ein bisschen verschwommen. Manchmal sortieren sie sich mit der Zeit neu.

Nana lief ein Stück auf den Jungen zu und ließ uns stehen. Sie hatte die blauen Flecken an seinem Hals und seine Augenringe gesehen, Dinge, die man erst einordnen konnte, wenn man mehr Lebenserfahrung besaß. Sie fragte ihn, wo er wohne, und er erklärte, er und sein Vater seien gerade in ein Cottage an der Küste eingezogen.

»Und deine Mutter?«, fragte sie.

Der neunjährige Conor starrte sie nur an, und während er sich seine Antwort überlegte, ging sein Jo-Jo noch ein paarmal auf und nieder. »Ich hab keine Mutter mehr.«

»Unsere Eltern sind auch ständig weg«, antwortete Lily, die ihn missverstand.

Nana lud Conor ein, über den Damm zu ihr nach Hause mitzukommen und eine Limonade zu trinken. Sie wollte seinen Vater anrufen und ihm Bescheid geben, dass der Junge in Sicherheit sei. Damals ging so etwas noch; man musste Kinder noch nicht vor Erwachsenen warnen, die einem an einem heißen Tag etwas Kaltes zu trinken anboten. Conor sagte Ja. Manchmal wünschte ich mir, er hätte Nein gesagt. Ich sehe noch vor mir, wie er zum ersten Mal mit uns über den Damm lief und wie er die ganze Zeit sein Jo-Jo hüpfen ließ, als hinge sein Leben daran. Er war eindeutig das faszinierendste Geschöpf, das mein vierjähriges Ich je gesehen hatte. Unser neuer Nachbar wohnte eine Meile entfernt, ein Klacks für ein Kind auf der Suche nach Gesellschaft. Conor hatte keine anderen Kinder zum Spielen, und Schwestern geben sich selten miteinander zufrieden, wenn sich jemand Interessanteres bietet. Er wurde in unserem Leben zu einer festen Institution, und ich halte es für möglich, dass ich mich an jenem Tag in ihn verliebte. Allein schon seinen Namen liebte ich so sehr, dass ich ihn an den Tagen, an denen er nicht zu Besuch kam, hingebungsvoll vor mich hin flüsterte. Er zerging mir auf der Zunge wie eine Nascherei zwischen den Mahlzeiten. Diese zufällige Begegnung mit Connor und seinem Jo-Jo hat meine Familie nachhaltig verändert.

In unserer Jugend haben wir aus unseren Wünschen und Träumen Sandburgen gebaut, um später, als uns der Wind des Lebens entgegenblies, zuzusehen, wie sie bis auf die Grundfesten abgetragen wurden. Seitdem begnügen wir uns mit unserem abgeflachten Leben, denn dank der eingeschränkten Sicht, die uns das Gefängnis aus faulen Kompromissen gewährt, bleibt uns der Blick auf unsere einstigen Luftschlösser erspart.

Es gibt zwei Kategorien attraktiver Menschen auf der Welt: Die einen sind sich ihres Werts bewusst, die anderen nicht. Conor Kennedy kennt seinen Wert. Sein gutes Aussehen hat ihn mit einem Selbstvertrauen gesegnet, wie es nur wenigen Sterblichen vergönnt ist, und Versagensangst ist ihm fremd. Er verbirgt sich hinter einem Dreitagebart, trägt lässige Jeans und schicke Hemden, und sein blondes Haar ist lang genug, um ihm gelegentlich über die blauen Augen zu fallen. Wie ein Journalist sieht er nicht unbedingt aus, doch das ist sein Beruf. Er scheint irgendwo bei Anfang dreißig stehen geblieben zu sein und ist seinem Beruf verfallen.

An diesem Abend klebt Conor das weiße Hemd an der Brust, und zu seinen Füßen hat sich eine kleine Pfütze auf der Schwelle zur Küche gebildet, als wäre er vom Festland herübergeschwommen, was jedoch unmöglich ist. Wir haben alle schon vor langer Zeit gelernt, dass die Strömung zwischen Seaglass und der Bucht tödlich sein kann.

Mein Dad – offenbar mit einem Schlag stocknüchtern – stellt die Frage, die wir uns alle stellen.

»Wie zum Teufel bist du hergekommen?«

»Mit dem Boot«, sagt Conor.

»Mit dem Boot?«

»Ja, das ist diese fantastische Erfindung, mit der man sich übers Meer bewegen kann«, sagt Nana. »Ich lasse mir auch einmal die Woche meine Post und die Lebensmittel mit dem Boot bringen. Damit ich nicht mit dem Fahrrad in die Stadt muss und mich nicht um die Gezeiten zu kümmern brauche …«

»Aber nach zehn Uhr abends und mitten in einem Sturm liefern sie nicht mehr aus, vermute ich mal?«, fällt ihr Dad ins Wort und mustert Conor mit zusammengekniffenen Augen, so wie der Bösewicht in einer Komödie, dem das Lachen vergangen ist. »Mit was für einem Boot?«

»Einem mit Rudern, Mr. Darker.«

»Du bist im Dunkeln, bei diesem Sturm, hergerudert?«

»Ja. Tut mir leid, dass ich mich verspäte. Ich wurde bei der Arbeit aufgehalten, es gab einen Mord.« Aus dem Mund der meisten Menschen würde das seltsam klingen, doch Conor ist Gerichtsreporter bei der BBC . Sein Presseausweis hängt ihm noch an einem Band um den Hals. »Ich konnte mir ein kleines Boot von einem alten Freund ausleihen – Harry vom Fischgeschäft. Das Unwetter ist nicht so schlimm, wie es klingt, und ich rudere auch nicht zum ersten Mal von der Blacksand Bay herüber. Ich habe das Gefühl, ich störe gerade? Vielleicht kann ich einfach kurz nach oben gehen und mir trockene Sachen überziehen?«

»Aber natürlich«, sagt Nana. »Ich hab ja erst morgen Geburtstag, und ich bin froh, dass du rechtzeitig gekommen bist. Aber bevor du verschwindest … Ich hab was gefunden, das dir gehört.« Sie geht zum Geschirrschrank, öffnet eine Tür und holt eine alte Polaroidkamera heraus – museumsreif, doch ich erinnere mich noch an das gute Stück, als es funkelnagelneu war. »Wärst du vielleicht so nett, schnell einen Familienschnappschuss zu machen? Wer weiß, wann wir wieder alle zusammen sind?«

Conor nimmt die Kamera entgegen, wir rücken – widerstrebend – alle ein wenig zusammen, er macht das Foto und reicht Nana den Abzug. Sie heftet ihn mit einem Magneten in Erdbeerform an ihren Retro-Kühlschrank, bevor sich das Bild entwickelt hat.

»Danke, Conor. Ich denke, du schläfst am besten in Daisys Zimmer. Es ist das einzige mit einem Extrabett. Es sei denn, das ist …«

»Kein Problem«, sage ich ein bisschen zu schnell. Der Gedanke, in einem Zimmer mit Conor zu schlafen, löst in meinem Kopf eine kleine Fantasie aus, die ich mir schon früher hin und wieder ausgemalt habe. Lily verzieht das Gesicht, doch ich ignoriere sie.

»Kein Problem. Wir sind alle erwachsen. Hauptsache, ich kriege ein paar Stunden Schlaf«, sagt Conor, und meine Fantasie verpufft. Man kann niemanden dazu zwingen, sich in einen zu verlieben. Wenn ich eines weiß, dann das. Die übrigen Familienmitglieder tauschen vielsagende Blicke, die ich geflissentlich übersehe.

»Weißt du noch, wo das Zimmer ist?«, fragt ihn Nana.

»Ich bin sicher, dass Conor sich in Hinblick auf Daisy an so ziemlich alles erinnert«, sagt Rose.

Es ist eine der wenigen Gelegenheiten an diesem Abend, bei der sie den Mund aufmacht, und ihre Bemerkung fühlt sich wie eine Ohrfeige an. Ich entschuldige mich und verlasse die Küche. Conor folgt meinem Beispiel und kommt mit. Wenn er nichts dagegen hat, soll es mir recht sein, das Zimmer mit ihm zu teilen; er war früher wie ein Bruder für mich. Auf dem Weg durch den Flur und an der Besenkammer unter der Treppe vorbei sage ich kein Wort. Als Kind haben sie mich darin mal eingesperrt, und ich mache einen großen Bogen darum.

Die Treppe selbst ist prächtig und die Wand, an der sie entlangführt, von oben bis unten liebevoll mit einem Familienstammbaum bemalt. Knorrige Äste reichen quer über den rissigen Gips vom Boden bis zur Decke. Natürlich stammt der Baum von Nana; er illustriert unsere Leben auf die gleiche Art wie eine Geschichte in ihren Büchern. Wir sind alle darauf verewigt und hängen an zerbrechlich wirkenden Zweigen. Der Stil ist derselbe wie in ihren Kinderbüchern: viel schwarze Tinte, dazu zarte bis kräftige Pinselstriche. Manchmal, wenn sie »in Stimmung« ist, zeichnet sie die Umrisse ihrer Figuren sogar mit einem Schilfrohr aus dem Garten. Ist die Tinte getrocknet, koloriert sie die Zeichnung mit Wasserfarben. Sie stellt Menschen, Orte und Dinge gern so dar, wie sie ihr erscheinen, was sich mit der Sicht der Dargestellten in den seltensten Fällen deckt. Ihre Figuren haben ebenso wie die Welt, in der sie leben, ihre Macken, doch Kinder lieben sie, vielleicht gerade wegen der Ehrlichkeit, die aus allem spricht, was sie sehen und lesen. Andere Kinderbuchautoren neigen dazu, ihre Geschichten mit einem Zuckerguss zu überziehen, um die Welt ein bisschen weniger furchterregend erscheinen zu lassen. Nana hingegen hat alles immer so dargestellt, wie es ist, und ihre Leser lieben sie dafür.

Und so blicken die Miniaturgesichter der Familie Darker von früher und von heute aus den riesigen schwarzen Blättern ihres Baums auf die Fehler herab, die wir alle im Lauf der Jahre begangen haben. Der Anblick macht mich furchtbar traurig, und der Gedanke, eines Tages nicht länger hierherkommen zu können, sooft ich möchte, ist niederschmetternd. Wir alle haben unsere Wurzeln in dieser Familie und in diesem Haus. Ich glaube, keiner von uns kann das einfach hinter sich lassen.

Conor und ich steigen die knarrende Treppe zum ersten Stock hinauf, und erst als wir mein Kinderzimmer erreichen und die Tür hinter uns zugezogen haben, flüstere ich: »Wieso musstest du herkommen?«

In meinem alten Zimmer steht eine Pritsche mit elfenbeinfarbenem Eisengestell. Nana hat sie secondhand gekauft für die Nächte, in denen sie hier bei mir geschlafen hat, aus Angst, mein Herz könnte stehen bleiben. Manchmal wachte ich dann auf und sah, wie sie mich im Dunkeln ansah und etwas vor sich hin flüsterte, was ich nicht verstand.

Conor stellt seine Tasche darauf ab, als wollte er sein Territorium abstecken, und zieht sich mit dem Rücken zu mir die nassen Sachen aus. Ich hocke mich auf die Kante meines eigenen Betts und wende mich ab. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, das Zimmer zu teilen. Es kostet mich viel Mut, die Frage auszusprechen.

»Könnten wir vielleicht einfach darüber sprechen, was passiert ist?«

Doch Conor antwortet nicht. So ist es zwischen uns schon lange. Es spielt keine Rolle, wie leid es mir tut, genau wie meine Schwestern kommt er offenbar nicht darüber hinweg. Ich weiß, dass er mich wahrscheinlich am liebsten nie wiedersehen würde, aber ich bin froh, dass er dieses Wochenende trotzdem gekommen ist, Nana zuliebe. Schließlich trifft sie keinerlei Schuld an dem, was passiert ist.

Den restlichen Abend erlebe ich wie in einem Nebel. Ich bin zwar erschöpft, konnte in diesen letzten Tagen aber trotzdem keinen Schlaf finden, und die Atmosphäre im Haus fühlt sich noch belasteter an als je zuvor. Kurz nach unserem Abgang hören wir, wie auch die anderen den Abend beenden und zu Bett gehen. Nana hat das größte Zimmer an der Rückseite des Hauses, und sie flüstert »Gute Nacht«, als sie an meiner Tür vorbeikommt. Lily und Trixie schlafen in dem Zimmer, das sich Lily und Rose als Kinder geteilt haben. Als Letzte kommt meine Mutter hoch. Ich weiß nur, dass sie es ist, weil ich sie mit gedämpfter Stimme reden höre.

»Wir verschwinden hier, sobald es hell wird. Ich wusste, dass die alte Hexe uns keinen Penny hinterlässt.«

Ich horche an der Tür, als sie durch den Flur zu dem Gästezimmer huscht, das sie früher mit meinem Vater geteilt hat. Rose bleibt unten und schläft auf einem Sofa in der Bibliothek. Dad, der bereits gesagt hat, er würde lieber unten nächtigen, hat sich im Musikzimmer eingeigelt, sein Refugium aus Kindertagen. Immer wenn die reale Welt ihm zu laut wird, flüchtet er in seine Musik.

Aber Seaglass ist nicht mehr laut. Inzwischen ist seine ihm ureigene Stille wieder eingekehrt.

Vor meinem Fenster höre ich die See und hier drinnen Conors langsamen, gleichmäßigen Atem. Ich höre, dass er noch wach liegt. Als er aufsteht und auf Zehenspitzen durchs Zimmer tappt, um auf dem Schreibtisch in der Ecke seinen Laptop zu öffnen, rühre ich mich nicht und gebe keinen Laut von mir. Hier gibt es keine Internetverbindung, doch offenbar kann Conor der Versuchung nicht widerstehen, selbst an diesem Wochenende ein wenig zu arbeiten. Seit er den Job als Gerichtsreporter bei der BBC hat, ist er zum Workaholic geworden. Wenn man so hart für etwas gearbeitet hat, lebt man von da an vielleicht in der ständigen Angst, es wieder zu verlieren.

Er schleicht sich aus dem Zimmer, vielleicht zur Toilette am Ende des Flurs, und während er weg ist, stehe ich auf, gehe über den abgenutzten Teppich zu seiner Seite des Raums und werfe einen Blick auf seinen Bildschirm. Was ich dort lese, scheint nichts mit seiner Arbeit zu tun zu haben, sondern sieht eher wie ein Gedicht aus. Das ist seltsam, weil es Conor gar nicht ähnlich sieht, sich an Schriftstellerei oder sonst etwas Kreativem zu versuchen. Er ist ein Mann, der sich nur mit Fakten abgibt – zumindest war er das einmal.

Ich höre Schritte draußen im Flur, das verräterische Knarren der Dielen, und weiß, dass ich mich beeilen muss. In dem kindischen Versuch, Conors Aufmerksamkeit zu erringen und die Stimmung zwischen uns aufzulockern, tippe ich mit dem Zeigefinger eine von Halloween inspirierte Botschaft für ihn. Ich kann nicht mit zehn Fingern tippen und bin in Sachen Computer ein hoffnungsloser Fall, sehe aber mit zufriedenem Lächeln, wie die Buchstaben auf dem Bildschirm erscheinen.

Buh!

Dann kehre ich zu meiner Seite des Zimmers zurück und warte. Als Conor wiederkommt, starrt er auf das Wort, wirbelt herum und wirft mir einen finsteren Blick zu. Ich wünschte, er würde etwas sagen, egal was, doch er schweigt, so wie immer. Conor hat etwa zur selben Zeit wie Rose aufgehört, mit mir zu sprechen, und ich kann tun und sagen, was ich will, es ändert nichts an der Sache. Manchmal starrt er mich so eindringlich an, dass es fast physisch wehtut. Ich bin für ihn wie ein Wort, das er nicht lesen, oder ein Rätsel, das er nicht lösen kann. So wie er als Kind diesen Zauberwürfel nicht knacken konnte, so ergeht es ihm mit mir, da kann er mich noch so oft drehen und wenden. Ohne ein Wort legt sich Conor wieder hin und dreht sich zur Wand. Ich kehre der Enttäuschung, die in mir aufsteigt, den Rücken und frage mich einmal mehr, weshalb er mich nicht so sehen kann, wie ich heute bin, oder warum er sich immer noch weigert, darüber zu sprechen, was damals passiert ist. Niemand entkommt seinem eigenen Schatten, was ihn nicht daran hindert, es eisern zu versuchen.

Es ist kalt in diesem Teil des Hauses, und ich zittere, als ich mich auf meiner Seite wieder in das Bett lege, das schon immer meins gewesen ist. Ich blinzle in die Dunkelheit und horche auf das regelmäßige Atmen von Conor, der sich wieder schlafend stellt. An der Decke prangt ein Firmament aus Stickern, die im Dunkeln leuchten und fast so alt sind wie ich. Vermutlich scheinen sie wie die Sterne draußen am Himmel immer noch, wenn ich schon lange nicht mehr bin, und manchmal überkommt mich das Gefühl, als würde niemand in dieser Familie wirklich Notiz davon nehmen, wenn ich einfach von der Bildfläche verschwinden würde. Manchmal denke ich, sie wünschten, ich wäre nie geboren. Ich schließe die Augen, und eine einzige Träne läuft mir über die Wange und tropft aufs Kissen.

Später in der Nacht höre ich unten ein Geräusch. Ich habe noch nie sehr tief geschlafen und bin mir nicht einmal sicher, ob ich in diesem Moment überhaupt geschlafen habe. Manche Leute haben hin und wieder diesen Albtraum, bei dem sie das Gefühl haben, unaufhaltsam zu fallen. Nun, ich habe den ständig .

Als ich auf die Uhr in meinem Zimmer sehe, stelle ich fest, dass es fast genau Mitternacht ist. Wenige Sekunden später bestätigen die achtzig Uhren unten in der Diele die volle Stunde. Kaum hat die letzte Uhr zwölf geschlagen, höre ich einen entsetzlichen Schrei.