Kapitel neun
3 1. Oktober 2004, Mitternacht – sechs Stunden bis zur Ebbe
Der Schrei verstummt.
»Hast du das gehört?«, flüstere ich, doch Conor ist nicht da.
Ich stürme aus meinem Zimmer, den Flur entlang, die Treppe hinunter, durch die Diele und in die Küche an der Rückseite des Hauses. Dort steht mitten im Raum meine Nichte in einem rosafarbenen Pyjama, in dem sie noch jünger aussieht, als sie ist. Trixie weint. Als ich den Blick senke, sehe ich, warum.
Auf dem Boden liegt Nana in einem weißen Baumwollnachthemd. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Haut ist grau, an ihrer Schläfe klafft eine Wunde, und unter ihrem Kopf hat sich eine Blutlache gebildet. Die Hündin Poppins liegt neben ihr, genauso reglos wie sie. Neben ihnen ist ein Stuhl umgefallen, als hätte Nana darauf gestanden und wäre damit umgekippt. Außerdem entdecke ich Blut am Aga-Herd, an einer Kante, an der sie mit dem Kopf aufgeschlagen sein könnte. Im Raum herrscht vollkommene Stille, Sekunden dehnen sich zu Minuten. Selbst das Meer und der Regen draußen verstummen, während ich die Szene in mich aufnehme, als wäre meine Welt zu einem Standbild gefroren. Dann dringt Trixies Weinen wieder in mein Bewusstsein. Ich sehe ihr tränenüberströmtes Gesicht und eile an ihre Seite.
»Sch, schon gut. Sag mir nur, was passiert ist«, flüstere ich Trixie zu, während ich mich neben Nana kauere und mich hüte, sie anzurühren oder alles noch schlimmer zu machen. »Nana, kannst du mich hören?«
Sie rührt sich nicht, dafür blickt Poppins mit traurigen Augen zu mir auf und winselt.
»Sie wird schon wieder, altes Mädchen. Nur keine Panik …«
»Was zum Teufel ist hier los? Wieso bist du nicht im Bett? Und was soll dieses Geschrei?«, fragt Lily, die in einem rosa Seidennachthemd in die eisige Küche hereinplatzt. Ihre Tochter stürzt zu ihr. Die meisten Teenager sind als Erwachsene verkleidete Kinder, doch meine Nichte ist noch in vielerlei Hinsicht ein Kind.
»Mein Gott«, sagt Lily, als sie Nana reglos daliegen sieht. »Ist sie …?«
»Ich weiß nicht«, antworte ich leise.
»Was ist passiert?«, fragt Rose, die wie aus dem Nichts auftaucht – vollständig bekleidet, als hätte sie in ihren Klamotten geschlafen. »Macht Platz und lasst mich mal sehen.«
»Wieso?«, fragt Lily. »Du bist doch gar keine richtige Ärztin.« Lily macht einen Schritt auf Nana zu, und Poppins knurrt. Solch ein Verhalten habe ich bei diesem Hund noch nie erlebt.
Rose tritt zwischen sie. »Schon gut, Poppins, wir versuchen nur, Nana zu helfen. Na, komm schon, altes Mädchen. Rück mal ein Stück.« Poppins gehorcht, als hätte sie jedes Wort verstanden, und sieht leise winselnd und mit gesenktem Kopf zu.
Rose fühlt behutsam nach Nanas Puls, aber ich brauche keine Ärztin – ob für Menschen oder Tiere – zu sein, um zu wissen, dass es nicht gut aussieht. Die klaffende Wunde in Nanas Schläfe ist tief, sie hat viel Blut verloren, und als ich in der roten Lache auf dem Boden Hirnsubstanz entdecke, muss ich den Blick abwenden. Diese aschgraue Hautfarbe habe ich im Altenpflegeheim, in dem ich ehrenamtlich helfe, in den Gesichtern der Bewohner schon zu oft gesehen, um nicht zu wissen, was das heißt.
Conor erscheint in der Tür – so wie Rose vollständig angezogen –, und ich frage mich, wieso er erst jetzt herunterkommt und wo er die ganze Zeit gesteckt hat. Lily kehrt ihm den Rücken zu und versucht, Trixie zu trösten.
Da erst fällt mein Blick auf Nanas Hände neben ihrem Körper. In einer hält sie ein Exemplar von Daisy Darkers kleines Geheimnis . In der anderen scheint sie eine Zigarette zu halten, doch als ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass es ein Stück Kreide ist. Ich starre auf die Tafelwand am hinteren Ende der Küche. Die Rezepte und Skizzen, die dort noch am Abend gestanden haben, sind alle abgewischt. Jetzt ist dort ein Gedicht zu lesen, das denen in Nanas Bestseller über mich ähnelt. Nur dass der Wortlaut geändert ist. Das Buch fängt mit der Zeile an: Daisy Darkers Familie war so nett, wie’s netter nicht geht. Das in Kreide geschriebene Gedicht an der Wand geht anders.
»Seht mal!«, sage ich, und die anderen drehen sich nacheinander um und beginnen zu lesen.
Daisy Darkers Familie war abgrundtief finster, das war kaum bekannt.
Als eine von ihnen starb, haben alle den Blick abgewandt.
Daisy Darkers Nana war zwar alt, aber nicht weise genug.
Bei ihrem Testament witterten die Darkers Betrug.
Die meisten von ihnen sollten nichts erben,
da musste die Erblasserin sterben.
Daisy Darkers Vater reiste viel und tanzte zu seiner eigenen Musik.
Für Frau und Kind war er nie da, seine Selbstsucht brach ihm das Genick.
Daisy Darkers Mutter Nancy taugte nicht für ihre Rolle.
Zwei ihrer Kinder liebte sie, nur leider nicht alle.
Daisy Darkers älteste Schwester Rose war klug, schweigsam und schön,
und doch dazu verdammt, einsam von dieser Welt zu geh’n.
Daisy Darkers Schwester Lily war egoistisch, eitel und verwöhnt,
und hatte den Tod wie alle anderen verdient.
Daisy Darkers Nichte war ein frühreifes, altkluges Kind,
und wie jede vernachlässigte Brut schlug sie Warnungen in den Wind.
Daisy Darkers verschwiegene Geschichte, so traurig sie war, musste ans Licht.
Das gebrochene Herz war nur ihr Anfang, ihr Ende war es nicht.
Daisy Darkers Familie vergeudete Jahr um Jahr mit ihren Lügen.
In den letzten gemeinsamen Stunden, so dämmerte ihnen, würde die Wahrheit siegen.
Nana muss es geschrieben haben, bevor sie gestürzt ist.
»Aber wieso sollte sie solch schreckliche Dinge über uns schreiben?«, fragt Lily.
Ich sehe, wie Rose und Conor auf das Kreidegedicht starren, aber keine Antwort auf die Frage wissen. Keiner von uns scheint eine Ahnung zu haben, was er sagen oder machen soll. Lily, für die Schweigen schon immer unerträglich war, verscheucht die Stille erneut mit dem Klang ihrer eigenen Stimme.
»Leute, es ist Halloween«, sagt sie mit einem zaghaften Lächeln. »Vielleicht spielt uns hier jemand einen bösen Streich?«
Tatsächlich hat Nana uns zu Halloween immer gerne Streiche gespielt. Aus vielerlei Gründen war es ihre Lieblingsnacht im ganzen Jahr. Sie glaubte an die uralten keltischen Ursprünge des Fests und erinnerte uns jedes Jahr daran, wenn wir ihren Geburtstag feierten. Die Kelten, die vor über zweitausend Jahren in England, Irland, Schottland und Wales gelebt haben, glaubten, dass sich am 31. Oktober ein Tor zwischen der Welt der Lebenden und der Toten öffnet, durch das verlorene Seelen noch einmal auf die Erde zurückkehren können. Nana hat immer bereitwillig an die Existenz von Gespenstern geglaubt, wenn auch mit der Einschränkung, dass sie nur in dieser einen Nacht unter uns weilen können.
»Erinnert ihr euch noch, wie uns Nana alle möglichen Streiche beigebracht hat, als wir klein waren? Wie sie im ganzen Haus Kerzen angezündet und uns mit ihren Gespenstergeschichten Angst eingejagt hat?«, sagt Lily, als rechnete sie jeden Moment damit, dass Nana sich aufrichtet und uns auslacht, weil wir auf sie hereingefallen sind.
»Das hier ist kein Streich«, sagt Rose und wischt sich eine uncharakteristische Träne aus dem Gesicht. »Sie ist tot.«