Kapitel vierzehn
3 1. Oktober 2004, 01:05 – keine fünf Stunden bis zur Ebbe
Rose schaltet das Piano aus, und ich bin erleichtert. Ich werde den Anblick nie vergessen, wie sich die Tasten von selbst bewegen, während mein Vater tot daliegt. Eine Taste fehlt, so wie ein ausgeschlagener Zahn in einem musikalischen Lächeln, und es kommt mir vor, als lachte der Flügel uns aus. Während wir stumm auf die Szene starren, hören wir den prasselnden Regen an den Fensterscheiben.
»Er muss es gewesen sein«, sagt Lily so leise, als hätte sie Angst, er könnte ihre Anschuldigung hören. »Er hat Nana umgebracht, weil er über ihr Testament so wütend war. Dann hat er sich aus Schuldgefühlen zu Tode gesoffen. Hat er nicht gestern Abend noch darüber gewitzelt, seine bevorzugte Art zu töten sei ein gezielter Schlag auf den Kopf? Genau so ist sie gestorben!«
Man kann vieles über meinen Dad sagen, aber ein Mörder ist er mit Sicherheit nicht.
»Wieso hätte er Nanas Leiche verschwinden lassen sollen?«, frage ich. »Und wo ist sie jetzt? Und was haben dieser Zettel und die Videokassette in der Küche zu bedeuten?«
Conor tritt vor. »Wenn ihr mich fragt, sieht das nicht nach Selbstmord aus.«
»Dich fragt aber keiner«, kontert Lily. »Bist du sicher, dass er …?«
»Dass er tot ist? Ja«, sagt Rose und schließt unserem Vater die Augen. Sie nimmt ihm das leere Whiskyglas aus der Hand und riecht daran, bevor sie dasselbe mit der leeren Karaffe auf dem Flügel tut. Es wirkt seltsam.
»Wieso sollte er sich seinen Dirigierstab an die eigene Hand binden?«, fragt Conor und blickt in die Runde, als halte er uns für gemeingefährlich dumm.
»Wieso hat er all die anderen dämlichen Sachen gemacht, die er gemacht hat?«, fährt Nancy Conor an und trocknet sich mit einem hübschen Spitzentaschentuch, das sie aus dem Ärmel zieht, die Tränen. In das Taschentuch ist ein B eingestickt, und ich nehme an, dass sie es entweder von Nana oder von Trixie hat, auch wenn niemand je meine Nichte Beatrice nennt. »Das fühlt sich alles wie ein Albtraum an … Das kann doch einfach nicht wahr sein!«, sagt meine Mutter mit einer Stimme, die zu leise für sie ist. »Was machen wir jetzt nur?«
»Warum regst du dich so auf?«, fragt Lily. »Hast du etwa alles vergessen, was Dad dir und uns angetan hat, nur weil du gestern Nacht mit ihm im Bett warst? Was ich übrigens ekelhaft finde. Er hat dich vor Jahren verlassen. Er hat uns alle im Stich gelassen.«
»Wie kannst du so über ihn reden, wo er tot vor dir liegt? Er war dein Vater, und ich habe ihn geliebt … Selbst als ich ihn nicht mehr mochte , habe ich ihn immer noch …«
»Ich werde jetzt nicht behaupten, er wäre jemals Vater des Jahres geworden, nur weil er tot ist.«
»Ich habe dich nicht dazu erzogen, dich derart aufzuführen, Lily.«
»Du hast so gut wie gar nichts zu meiner Erziehung beigetragen, von ihm ganz zu schweigen. Ich wurde die meiste Zeit von Fremden im Internat erzogen. Du hast uns in den Ferien meistens hier bei Nana abgeladen, während mein sogenannter Vater ständig mit ›Musikern‹ abgehangen hat, die halb so alt waren wie er.«
»Er ist tot, zeig wenigstens ein Minimum an Respekt!«
»Vor ihm?«
»Vor dir selbst «, erwidert Nancy.
Bei meiner Mutter schaukelt sich ein Streit immer schnell hoch – manchmal auch mehrere zugleich –, und wenn ich einen Schutzhelm hätte, würde ich ihn jetzt aufsetzen. Lily würde nicht so patzig Widerworte geben, hätte sie heute Abend nicht so viel getrunken.
Als ich gerade denke, es ist vorbei, wirft Nancy den nächsten verbalen Ziegelstein. »Er ist so lange geblieben, wie er konnte.«
»Ha! Der war gut! Es hat ihn ja keiner gezwungen , Kinder in die Welt zu setzen. Wir haben nicht darum gebeten , geboren zu werden. Viele werden ungewollt schwanger … so wie ich!«, sagt Lily.
»Aber ich nicht«, erwidert Nancy, und im Raum wird es noch stiller als zuvor. »Ich wusste, dass euer Vater immer der Musik den Vorzug vor mir geben würde, selbst damals im Studium schon. Ich bin absichtlich schwanger geworden, damit er mich heiratet. Damit er bei mir bleibt.«
Meine Schwester und ich geben uns Mühe, diesen neuen Tiefschlag zu verarbeiten, aber es ist alles ein bisschen zu viel: Erst finden wir Nana tot in der Küche und jetzt Dad im Musikzimmer. Es kommt mir vor wie eine verkorkste Familienedition von Cluedo . Nur dass dies hier kein Spiel ist; in dieser Nacht sind zwei Menschen gestorben. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich immer einen leisen Verdacht, dass Nancy schwanger geworden ist, um unseren Dad auszutricksen, aber es jetzt aus ihrem eigenen Mund zu hören, hat etwas Surreales. Einerseits hasse ich sie dafür, andererseits ist mir bewusst, dass es mich sonst nicht gäbe.
»Dann wollte er in Wirklichkeit keine von uns wirklich haben?«, fragt Rose. »Das erklärt einiges.«
»Auf seine Art hat er euch alle geliebt«, sagt Nancy. »Ich kann einfach nicht glauben, dass er uns das hier antut.«
»Das hat er vielleicht auch nicht«, bemerkt Conor.
Nancy sieht ihn verwundert an. »Die Tür war abgeschlossen, und außer ihm ist niemand im Raum …«
»Jemand könnte hinterher von außen abgeschlossen haben«, antwortet Conor ruhig. »So oder so müssen wir jetzt die Polizei rufen.«
Zum ersten Mal steht allen die Angst ins Gesicht geschrieben, und ich kann mich nur wundern, weshalb es so lange gedauert hat.
»Conor hat recht«, sagt Rose, wie immer aufreizend nüchtern. »Wir holen die Polizei, sobald es geht. Es sind jetzt nur noch fünf Stunden bis zur Ebbe. Wir verlassen Seaglass alle zusammen am Morgen und holen Hilfe. Vielleicht können wir bis dahin wenigstens versuchen, alle ein bisschen nett zueinander zu sein? Wir sollten wieder ins Wohnzimmer gehen. Trixie ist da ganz allein«, fügt sie hinzu und übernimmt erneut das Kommando. »Nach allem, was heute Nacht hier passiert ist, würde ich mich um einiges besser fühlen, wenn wir alle zusammen sicher in einem Zimmer sind.«
Meine älteste Schwester hat schon oft in heiklen Situationen die Führungsrolle übernommen, und so bin ich erleichtert, als sie es auch jetzt wieder tut. Ich lasse es mir nicht anmerken, sehe aber, wie sie Conor auf den Arm tippt, als wir das Musikzimmer verlassen, und es versetzt mir einen Stich, als er daraufhin zurückbleibt. Sie reden erst, als sie glauben, wir wären alle schon im Wohnzimmer, obwohl ich von ihnen unbemerkt in der Diele warte. Ich muss angestrengt horchen und halte mir die Hand vor den Mund, damit ich keinen Mucks von mir gebe bei dem, was ich dann zu hören bekomme.
»Du hast recht«, flüstert Rose. »Wir müssen wirklich die Polizei einschalten.«
»Und was hat dich plötzlich umgestimmt?«, fragt Conor.
»Auch wenn die menschliche Fähigkeit zur Selbstverletzung ungleich größer ist als bei jedem anderen Lebewesen, das ich kenne, war das hier kein Selbstmord.«
»Woher willst du das wissen?«
»Bedauerlicherweise habe ich es in meinem Beruf oft mit vergifteten Haustieren zu tun. Menschen können Monster sein. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Tiere lieber mag. Dad ist der Einzige in der Familie, der Whisky trinkt. Sein Glas hat nicht nur nach Alkohol gerochen. Mein Vater wurde vergiftet. Es war Mord, da bin ich mir sicher.«
Ich sage kein Wort, auch wenn ich mich frage, weshalb sich Rose Conor statt uns anvertraut. Und weshalb keiner von beiden diese Information mit mir teilen will. Mir kommt ein Gedanke, den ich nicht mehr abschütteln kann. Natürlich werde ich ihn gegenüber keinem der beiden äußern. Ich betreibe meine Selbstzerstörung grundsätzlich im stillen Kämmerlein.
Im Wohnzimmer ist Trixie auf dem breiten Fenstersitz in der hinteren Ecke eingeschlafen. Die Nische gehört zu ihren Lieblingsplätzen im Haus, und man findet sie dort oft mit einem Buch, unter einer Decke eingerollt, mit der leise schnarchenden Poppins zu ihren Füßen. Manchmal bricht es mir das Herz zu sehen, wie ein so freundliches Kind wie meine Nichte in eine so grausame Familie hineingeboren wurde. Ich bin froh, dass sie jetzt schläft. Hoffentlich bleibt das so, bis wir alle hier wegkönnen.
Ich glaube, dass auch Rose sie betrachtet, bis sich zeigt, dass ihre Aufmerksamkeit dem Hund gilt.
»Poppins ist bei alldem ziemlich tapfer, das arme alte Mädchen«, sagt sie zu niemandem Speziellen.
Als sie ihren Namen hört, steht Poppins auf und setzt sich zu Rose.
»Das kannst du laut sagen. Was geschieht mit dem Hund, jetzt, wo Nana tot ist?«, fragt Lily.
»Ich nehme sie zu mir«, erwidert Rose, ohne zu zögern.
»Das klingt, als hättest du schon länger darüber nachgedacht.«
Eine Weile sitzen wir schweigend da, weil keiner von uns weiß, was er sagen soll. Ich betrachte nacheinander ihre Gesichter und sehe darin eine Mischung aus Angst, Schock und Trauer. Rose streichelt den Hund und starrt mit einem Ausdruck, den ich bei ihr noch nie gesehen habe, ins Kaminfeuer. Conor starrt Rose an. Auch nachdem sie ein weiteres Scheit in die Flammen gelegt hat, zittert Nancy immer noch am ganzen Körper. Lily geht zu ihr, setzt sich neben sie, und die beiden halten einander an den Händen. Sie haben eine von diesen Mutter-Tochter-Beziehungen, bei denen es ständig Streit gibt, man sich aber nie lange böse ist. Noch etwas, worauf ich schon immer eifersüchtig war.
»Geht’s dir gut?«, fragt Nancy ihre Lieblingstochter.
Lily schüttelt den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Es ist einfach nur schrecklich. Ich glaube, ich stehe unter Schock, wie vermutlich wir alle.«
»Ich finde, du siehst blass aus. Alles in Ordnung?«
»Ich kann mein Diabetikertäschchen nicht finden, aber keine Sorge. Wenn ich eine Insulinspritze auslasse, bringt mich das nicht um.«
Bei Lily wurde erst mit Anfang zwanzig Diabetes diagnostiziert – für Nancy ein Schicksalsschlag, für Nana dagegen die Folge falscher Ernährung. Inzwischen spritzt sie sich zweimal am Tag und sorgt dafür, dass es auch alle mitbekommen. Meine Schwester war schon immer eine Naschkatze mit einem Hang zur übertriebenen Genusssucht. Wenn sie etwas haben will, dann nimmt sie es sich, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Im Altenpflegeheim, in dem ich tätig bin, habe ich viel Zeit mit Diabetikern verbracht, und sie haben mein aufrichtiges Mitgefühl. In keinem Alter ist es leicht, mit dieser Krankheit zu leben. Diabetes mag nicht immer vermeidbar sein, aber ich bin überzeugt, bei Lily war es ihre eigene Schuld.
»Wie friedlich Trixie aussieht«, sagt sie beim Anblick ihrer Tochter. »Keine Ahnung, wie ich ihr beibringen soll, was passiert ist. Zuerst Nana, dann Dad …«
»Vielleicht brauchst du es ihr nicht sofort zu sagen? Lass sie doch erst mal schlafen«, schlägt Nancy vor.
Lily nickt, und ich sehe zu, wie sie mit ungewohnter Fürsorge vorsichtig eine Decke über Trixie legt. Für einen Moment habe ich wegen der schlechten Gedanken, die ich so oft über meine Schwester hege, ein schlechtes Gewissen. Vielleicht ist sie doch fähig, jemand anderen mehr zu lieben als sich selbst. In einer seltenen mütterlichen Geste küsst Lily ihre Tochter auf die Stirn und streichelt ihr übers Haar.
»Und was machen wir damit?«, fragt Conor.
Er hält die Videokassette aus der Küche mit der Aufschrift SEHT MICH AN in der Hand. Wir blicken alle zwischen ihm und der Kassette hin und her, als hätte er eine Granate in der Hand und fragte, ob er den Stift ziehen solle.
»Ins Feuer werfen?«, schlägt Lily vor.
»Aus welchem Grund sollte jemand die Kassette so auffällig für uns dort hinlegen?«, frage ich.
»Sollten wir uns nicht eher fragen, wer sie hingelegt hat?«, antwortet Conor. »Vielleicht bringt es mehr Klarheit darüber, was hier heute Nacht passiert.«
»Es sieht doch nur nach einem weiteren Darker-Heimvideo aus«, antwortet Rose, während Conor die Kassette aus der Hülle zieht. Wir können alle den weißen Aufkleber an der Seite lesen: SEAGLASS ~1980 in Nanas schnörkeliger Handschrift. Rose nimmt das Band von Conor entgegen.
»Sollen wir es uns ansehen?«, fragt meine Mutter. Wir Übrigen tauschen Blicke. »Wie sollen wir denn sonst die fünf Stunden rumkriegen? Wenn wir hier nur stumm sitzen und auf die Ebbe warten, vergeht die Zeit nur noch langsamer, und schlimmer kann es ja wohl nicht werden. Also, wenn ihr mich fragt, ist mir alles recht, was ein bisschen Ablenkung bringt. Vielleicht tut es uns gut, an glücklichere Zeiten zurückzudenken.«
»Was ist mit Trixie?«, fragt Conor und wirft einen Blick zu meiner Nichte, die immer noch in der Fensternische schläft. »Soll ich es leise stellen?«
»Nicht nötig. Sie schläft wie ein Stein. Vor morgen früh wacht sie nicht auf«, antwortet Lily.
»Ist das normal für einen Teenager?«
»Es ist normal, wenn ich ihr ein starkes Sedativum gegeben habe.«
»Du hast was ?«
Conor wirkt aufrichtig schockiert, während wir anderen kaum eine Reaktion zeigen. Alle Familien haben ihr eigenes Verständnis davon, was normal ist, und ich gebe zu, dass unseres etwas ausgefallen ist.
Lily zuckt mit den Achseln. »Ich habe Nancy vorhin gebeten, eine ihrer Pillen zu zerstoßen, um sie Trixie in ihren Tee zu geben …«
»Ich habe meinen Töchtern ständig heimlich Schlaftabletten gegeben, als sie klein waren«, unterbricht sie Nancy, als wäre sie stolz darauf.
»Und uns hat das offensichtlich nicht geschadet!«, sagt Lily ohne den Hauch von Selbstironie. Sie lächelt, bevor sie sich zu unserer Mutter umdreht. »Ich weiß noch, wie ich dich dabei erwischt habe, wie du die Pillen in unsere Gummibären gedrückt hast, sodass wir sie für ein Betthupferl vor dem Zähneputzen hielten. Meine waren in grünen Bärchen versteckt, Rose bekam die roten und Daisy immer die goldenen. Wir haben uns nichts dabei gedacht und sie einfach gegessen. Trixie hat nur noch geheult, seit sie Nana in der Küche gefunden hat. Hoffentlich schläft sie jetzt tief und fest und denkt, wenn sie aufwacht und sich ein bisschen groggy fühlt, dass alles nur ein böser Traum war. Fast könnte ich sie beneiden.«
Lily öffnet ein neues Päckchen Zigaretten und steckt sich mit zitternden Fingern eine an. Hatte ich eben noch Schuldgefühle ihr gegenüber, so sind diese jetzt verflogen. Niemand beklagt sich darüber, dass Lily raucht, oder darüber, dass sie ihre eigene Tochter unter Drogen gesetzt hat, damit sie nicht mehr weint. Wir alle haben schlechte Angewohnheiten – einige davon zeigen wir der Welt, andere nur der Familie, und für wieder andere schämen wir uns so sehr, dass wir sie für uns behalten. Schon beim ersten Zug wirkt sie ruhiger und scheint mit der Rauchwolke ihr Unbehagen auszuatmen.
Conor schüttelt den Kopf, doch Lily ignoriert ihn. Rose scheint zu ahnen, dass ein bisschen Ablenkung der ganzen Familie guttun würde, und schaltet Nanas alten Fernseher ein. Er erwacht langsam zum Leben, und auf dem Bildschirm erscheinen verschwommene grau-weiße Pixel.
»Auf dem Video steht SEHT MICH AN , dann sehen wir doch mal, was darauf passiert«, sagt sie und schiebt die Kassette ins Gerät, das sie mit einem Biss verschluckt. Ein Bild erscheint, und die Vergangenheit sucht uns alle heim.