Kapitel fünfzehn

Seaglass ~1980

Das Gesicht meiner neun Jahre alten Schwester füllt den Bildschirm aus. Offenbar ist auf diesem Familienvideo Lily die Hauptfigur. Manche Menschen sind auf der Welt, um der Star in ihrer eigenen Show zu sein, und Lily hat sich nie dazu herabgelassen, den Text des Lebens zu lernen, wenn es nicht ihr eigenes Skript war. In Lilys Leben sind andere Menschen nichts weiter als eine kleine Zugabe. Hat man keinen Auftritt in ihrer Story, existiert man nicht in ihrer Welt.

Unsere Sommer in Seaglass waren in meiner Kindheit immer mein Highlight. Sobald für meine Schwestern die Schule vorbei war, belud meine Mutter das Auto mit Koffern, Lebensmitteln, Wein und uns, wir brachen von London nach Cornwall auf und ließen die Großstadt für sechs Wochen hinter uns. Zusammen. Zuverlässig erwischten wir mit unserer Ankunft immer die falsche Zeit, um den Damm zu überqueren, doch das machte nichts. Jedes Mal, wenn ich das alte Haus mit seinen türkisfarbenen Türmchen sah, fühlte es sich so an, als käme ich nach Hause. Wir spielten auf dem verbliebenen schmalen Streifen schwarzen Strands, während wir warteten, bis das Meer weit genug zurückgegangen war und wir hinüberkonnten. Vorfreude ist die schönste Freude.

Nana war jedes Mal überglücklich, uns zu sehen. Sobald es sicher war, kam sie uns mit der alten, rostigen Schubkarre entgegen und ein Hund hinter ihr her. Ich erinnere mich an einen schwarzen Labrador namens Bob, bevor sie Poppins bekam. Nana nahm uns alle in die Arme und gab uns Küsschen, bevor sie unser Gepäck auf die alte Schubkarre lud, um es leichter zum Haus hinüberzubringen. Sie musste mehrfach hin und her, und jedes Mal durfte eine von uns in der Karre mitfahren. Unsere Zimmer fanden wir immer so vor, wie wir sie verlassen hatten, nur mit frisch bezogenen Betten, frischen Blumen und einer Schokomünze unter jedem Kopfkissen. Nana wusste, wie sie uns Kindern das Gefühl geben konnte, willkommen und geliebt zu sein.

Schon vor der Scheidung war Dad nur selten da. Normalerweise kam er wenigstens für zwei Wochen dazu, aber in dem Jahr kann ich mich überhaupt nicht an ihn erinnern – bis nach dem Vorfall. Ich frage mich, ob die Ehe meiner Eltern wohl schon damals in der Krise steckte. In dieser Zeit bestand Nancy auch plötzlich darauf, dass wir sie nur noch beim Vornamen nennen – mit der Begründung, alles andere gebe ihr das Gefühl, alt zu sein. In dem Sommer haben wir ihr das Leben nicht gerade leicht gemacht.

Als das Video beginnt, wird es vollkommen still im Raum. Die neunjährige Lily steht in Seaglass in der Eingangsdiele mit all den Uhren … An den Wänden ist immer noch Platz für die weiteren zwanzig, die Nana seitdem gesammelt hat. Ich erinnere mich an diese Zeit als Lilys Fame -Phase. Ich denke, das geht uns allen so, und Nancy lächelt in der Gegenwart über das Lächeln ihrer Lieblingstochter in der Vergangenheit. Lily tritt ein paar Schritte von der Kamera zurück, um ihr typisches Achtzigerjahre-Outfit zu präsentieren, das man heute zu einem Kostümfest tragen würde: ein T-Shirt in Neonpink, lilafarbene Leggings, Tutu, Stirnband und pinkfarbene Stulpen. Die anderen lächeln, als das Kind auf dem Bildschirm zur Musik tanzt und die Titelmelodie von Fame mitsingt. Ihr endloser Gesang darüber, für immer leben zu wollen, geht mir am meisten auf die Nerven, zusammen mit dem anderen Wort, das sie ein paar Sekunden später mehrmals wiederholt, während sie direkt in die Kamera sieht.

Remember. Remember. Remember. Remember.

Natürlich erinnere ich mich an diesen Sommer in Seaglass! Ich wünschte, ich könnte ihn vergessen.

Wenn man Nanas Haus betritt, so gehen links drei Türen vom Flur ab, zwei am Ende und eine rechts. Links kommt man in ein Wohnzimmer, dahinter in eine kleine Bibliothek und dahinter ins Musikzimmer. Am anderen Ende führt eine Tür in die riesige Küche und eine zweite in ein winziges Bad. Rechts von der Diele ist eine schöne gedrechselte Treppe, doch davor gibt es noch eine Tür, die fast immer abgeschlossen war. Nanas Studio oder »der Westflügel«, wie sie es gerne nannte, war absolut tabu, wenn meine Schwestern zu Besuch kamen. Das Studio erstreckte sich über die volle Länge des Hauses, mit einer Tür an jedem Ende, und es war der Ort, an dem sie ihre Kinderbücher schrieb und illustrierte. Heute hängen riesige gerahmte Bucheinbände an den Wänden, einschließlich Daisy Darkers kleines Geheimnis und einige von Nanas anderen Lieblingsbüchern: Suzy Smiths bester Geburtstag, Danny Delaneys verlorener Hund, Poppy Patels erste Lüge und Charlie Chos schlimmstes Wochenende . Doch damals, 1980, illustrierte Nana noch die Bücher anderer Leute und hatte noch kein eigenes selbst geschrieben.

Im Studio standen drei große Arbeitstische, auf denen immer Skizzenbücher und Zeichnungen lagen. Vier Fenster ließen jede Menge Licht herein, auf jeder freien Fläche reihten sich Wasserfarben, Gläschen mit Tusche, Becher mit Federn, Bleistiften und Pinseln aneinander, und die riesigen Schubladen waren randvoll mit Papier in allen Regenbogenfarben. Die Regale quollen über von allen möglichen Utensilien, die Nana einmal als »ein paar von meinen Lieblingssachen« bezeichnete, und an dem Tag, an dem dieses Video aufgenommen wurde, stand mitten im Raum eine riesige, mit einem weißen Tuch abgehängte Staffelei. Das Tuch verhüllte immer Nanas aktuelles Werk, an dem sie gerade arbeitete – sie mochte es nicht, dass jemand ein unfertiges Bild von ihr sah. Eine Zeitung bezeichnete Nana einmal als die weibliche Ausgabe von Quentin Blake. Sie wurde wütend darüber und sagte, sie hätten besser ihn als die männliche Version von Beatrice Darker bezeichnen sollen.

Nanas Studio war der einzige Raum in Seaglass, in dem meine Schwestern nichts ansehen und nichts berühren durften, weshalb ihnen von vornherein der Zutritt verboten war. Ich durfte hinein, wenn ich mit Nana allein war, dasselbe galt für Conor, nur meinen Schwestern traute sie nicht über den Weg. Schon damals nicht. Sie kannten und verstanden beide die Regeln, nur dass Lily nie gut darin war, sich auch daran zu halten. Als sie zum Geburtstag Rollschuhe bekam, hatte sie keinen anderen Gedanken, als damit durchs ganze Haus zu fahren. Wenn alle Innentüren geöffnet waren, konnte man von der Eingangsdiele ins Wohnzimmer, von dort in die Bibliothek, weiter ins Musikzimmer, in die Küche und in einem großen Bogen in Nanas Studio fahren, und auch wenn Rose und ich ihr klarzumachen versuchten, dass das keine gute Idee war, wir konnten sie nicht davon abhalten.

Kaum hatte Nana an jenem Morgen das Haus verlassen, um mit dem Rad in die Stadt zu fahren und einzukaufen, zog sich Lily ihre Rollschuhe an. Sie bestand darauf, dass Rose bei ihren Runden die Zeit stoppte und sie auch dabei filmte. Mir fiel die Aufgabe zu, von meinem Zimmer im ersten Stock aus durchs Fenster den Damm im Auge zu behalten und meine Schwestern zu warnen, wenn Nana zurückkam. Und das wollte ich auch ehrlich tun. Doch an jenem Tag war der Himmel so blau, und die Wolken, die vorbeizogen, nahmen faszinierende Formen an.

Ich entdeckte ein Wolkenpony und ein Wolkenschloss, die für ein vierjähriges Mädchen mit einer blühenden Fantasie eine große Ablenkung bedeuteten. Rose hatte mir für einige Wolkenformationen die Namen beigebracht – Rose, das wandelnde Lexikon der Familie. Es gibt nichts Beruhigenderes als eine bauschige weiße Kumuluswolke an einem strahlend blauen Himmel oder die vogelartige Schönheit von Zirruswolken, die aus winzigen Eiskristallen bestehen, oder einen Himmel voller Stratokumuli, die – wie wir Menschen – alle Schattierungen von Licht und Dunkel verkörpern. Es gibt so viele verschiedene Wolkenarten, wie es Menschen gibt, und so wie die Menschen treiben sie nach Lust und Laune dahin und verwandeln ihre Gestalt – oft von einer Minute zur anderen, vielleicht sogar in einem einzigen Augenblick – bis zur Unkenntlichkeit. Der Lebenskreislauf findet sich in jedem Aspekt der Natur wieder, und wir alle spielen unsere Rolle nur so lange, wie es das Universum will.

In dem Video filmt Rose von der Eingangsdiele aus Lily dabei, wie sie an ihr vorbeischießt, von Zimmer zu Zimmer düst und dazu die Titelmelodie von Fame singt.

»Ist das meine Schokoladenseite?«, fragt Lily, als sie wieder anrauscht.

»Sie sind beide gleich schlecht«, antwortet die zehnjährige Rose hinter der Kamera, und ich sehe ihr Grinsen vor mir.

Das Video ist erstaunlich gut, bis der Star der Show noch ein wenig ehrgeiziger wird und beschließt, sich selbst dabei zu filmen, wie sie Rollschuh fährt und singt. Hin und wieder richtet sie die Kamera auf die eigenen Füße, sodass die rot-weißen Rollschuhe zu sehen sind, an die ich mich so gut erinnern kann. Sie brauchte immer eine Ewigkeit, um diese Rollschuhe zuzuschnüren, und wenn Lily sie trug, war sie fast so groß wie Rose. Vielleicht war das einer der Gründe dafür, dass sie die Dinger so sehr liebte.

Die Musik ist so laut, dass keine meiner Schwestern hört, wie Nana zurückkommt. Im Video zeigt Lilys Perspektive, wie sie zum einen Ende ins Studio saust. Als sie am anderen Nana stehen sieht – mit verschränkten Armen und finsterer Miene –, verwackelt die Aufnahme plötzlich. Im nächsten Moment kollidiert Lily mit der riesigen Staffelei, und das Gemälde fällt um. Der Film endet in einem ebenerdigen Aufnahmewinkel und zeigt Pfützen aus roter und blauer Farbe auf dem Boden.

Nana marschiert zu meiner Schwester und schaut auf sie herunter.

»Lily Darker, du hast noch eine Menge zu lernen. Wenn du schon unbedingt in deinem Leben immer die Regeln brechen musst, solltest du lernen, dich dabei nicht erwischen zu lassen. Schau harmlos drein wie die Blume, doch sei die Schlange drunter.«

»Was?«, fragt Lily und massiert sich das aufgeschlagene Knie.

»Das heißt Wie bitte und nicht Was . Das ist Shakespeare.« Genauso gut hätte Nana sagen können, es sei Swahili. »Hör zu, Lily, sosehr ich deinen Elan und deinen Ehrgeiz bewundere, im Leben immer nur zu machen, was dir gefällt, ich fürchte, dass andere deine Art später ermüdend und zickig finden werden. Wenn du dich danebenbenehmen und damit durchkommen willst, musst du besser darin werden, brav zu tun. Wie das unschuldige Blümlein, das sie sich alle wünschen. Kapiert?«

Oben in meinem Zimmer hatte ich gerade einen Wolkendrachen am Himmel entdeckt, und als Lily mit rotem Gesicht und bebenden Nasenflügeln hereinstürmte, sah sie sehr nach einem Drachen aus und hatte nichts von einer unschuldigen Blume.

»Du solltest Wache halten«, zischte sie. »Wieso musst du dich wie ein Baby benehmen? Wann wirst du endlich groß?«, schickte sie fauchend hinterher.

Ich suchte panisch nach einer passenden Antwort, wurde jedoch erst fündig, als Lily schon außer Hörweite war. Es gibt viele Dinge, die ich als Kind meinen älteren Geschwistern gern gesagt hätte, wären sie mir nur im richtigen Moment eingefallen. Stattdessen sagte ich nur wie immer: »Tut mir leid.« Entschuldigungen dienten im Monopoly -Spiel unserer Familie als »Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei«-Karte.

Für eine Woche bekam Lily sowohl in als auch außerhalb von Seaglass Rollschuhfahrverbot, und auch dafür gab sie mir die Schuld. Drei Tage lang sprach sie kein Wort mit mir – eigentlich ein Segen. Doch dann tat sie etwas, das ich nie zuvor und nie mehr danach mit ihr erlebt habe: Sie entschuldigte sich.

»Tut mir leid, dass ich dich angeschnauzt habe, Daisy«, sagte sie und trug an diesem Tag ein anderes neonfarbenes Achtzigerjahre-Kostüm. »Es war nicht fair von mir, dir dafür die Schuld zu geben. Ich habe eine kleine Überraschung für dich, um es wiedergutzumachen. Du findest sie in der Besenkammer.«

»Ich glaube dir kein Wort«, sagte ich wahrheitsgemäß. Lily flunkerte ständig, und wir hatten alle ein bisschen Angst vor der Besenkammer. Meistens ist das Motiv für eine Lüge interessanter als die Lüge selbst.

»Dann eben nicht«, antwortete sie mit ihrem üblichen Schulterzucken. »Rose! Wartet da unten eine Überraschung auf Daisy oder nicht?«

Nana war gerade mit dem Hund spazieren, unsere Mutter hielt Mittagsschlaf, doch Rose erschien an meiner Tür. Sie lief daran vorbei und hatte die Nase in einen Band der Encyclopaedia Britannica gesteckt, der schwerer aussah als ich. Offensichtlich hörte sie nur halb hin. Rose wusste schon als Kind, dass sie Tierärztin werden wollte, so wie Lily wusste, dass sie nichts tun oder werden wollte. Beide hielten an ihren Karriereplänen fest. Bei mir war das anders. Meine Träume veränderten sich so oft wie die Wolken, die ich betrachtete. Wollte ich letztes Jahr noch Musikerin werden wie mein Vater, so träumte ich das nächste Jahr davon, wie Nana Bücher zu schreiben, wagte jedoch nicht zu hoffen, für das eine oder andere lange genug zu leben. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ich irgendwann aufhörte, nach einem Leben zu greifen, das außerhalb meiner Reichweite lag.

Als Älteste hatte Rose oft das Sagen. Es war eine Verantwortung, die sie so wie viele älteste Geschwister irgendwann hasste. »Ach so, ja, die Überraschung «, sagte sie. »Klar, wissen wir doch alle … Du meinst, die unter der Treppe?«

Aus heutiger Sicht denke ich, dass sie keine Ahnung hatte, worum es ging. Doch ich vertraute Rose und stieg die Treppe hinunter, seitlich und nur eine Stufe auf einmal, denn die Stufen waren hoch und meine Beine noch ziemlich kurz. Ich merkte nicht, dass Lily mich dabei filmte.

»Ja, gut so, und jetzt in die Besenkammer«, redete sie mir gut zu. »In der Wand ist eine geheime Feentür, da an der Rückseite, siehst du die? Du musst ganz weit reingehen, um sie zu finden.« Für mein vierjähriges Ich war eine geheime Feentür in der Fußleiste eine aufregende Sache. Ich überwand meine Angst und ging rein. »Klopf ans Holz«, sagte Lily. »Vielleicht kommen die Feen raus und sagen Hallo.«

Ich tat, was sie sagte, doch was herauskam, war keine Fee. Die kleine türartige Öffnung in der Fußleiste war in Wirklichkeit ein Mauseloch, doch die Maus, die herauskam, sah riesig aus, eher wie eine Ratte. Sobald ich aufschrie, warf Lily die Tür zu und schloss mich ein.