Kapitel neunzehn

3 1. Oktober 2004, 02:00 – vier Stunden bis zur Ebbe

»Wieso warst du damals an diesem Weihnachten bei uns?«, fragt Lily Conor, als der Film endet.

Er antwortet, ohne sie anzusehen. »Mein Vater war wieder im Entzug, und Nana hat ihm angeboten, sich um mich zu kümmern.«

In die folgende Stille hinein schlagen sämtliche Uhren in der Diele die volle Stunde. Es ist zwei Uhr morgens, und wir alle sehen erschöpft aus, besonders meine Mutter. Sie nimmt einen Schluck kalten Tee.

»Kann man die Uhren vielleicht abstellen? Ich will nicht, dass sie Trixie aufwecken«, sagt Lily.

Meine Nichte hat im hinteren Teil des Zimmers die ganze Zeit so fest geschlafen, dass ich sie fast vergessen hätte. Es wundert mich, dass sie nicht vom Fernseher aufgewacht ist, nicht einmal von den Uhren, doch da fällt mir wieder ein, dass Lily ihr ein Beruhigungsmittel in den Tee gemischt hat. Die Schlaftabletten meiner Mutter könnten einen Elefanten umhauen.

Lily steht vom Sofa auf, um nach ihrer schlafenden Tochter zu sehen.

»Wo ist sie hin?«, fragt Lily.

Binnen Sekunden springen wir alle auf und starren auf den leeren Fenstersitz und die Decke auf dem Boden.

»Wo ist Trixie?«, kreischt Lily, doch niemand antwortet. Sie sucht in jedem Gesicht nach einer Antwort. Als sie keine findet, suchen wir das Zimmer ab, sehen hinter den Sofas und Gardinen nach, aber Trixie ist nicht da.

»Sie ist weg«, sagt Lily. »Ich verstehe das nicht.«

Bei Rose schaltet sich der Große-Schwester-Autopilot ein, und sie tritt an Lilys Seite. Ihr Streit von vorhin ist vergessen.

»Ganz ruhig. Wo soll sie schon sein? Sie kann ja nicht weg. Du weißt doch, wie Teenager sind. Schließlich warst du selbst mal einer.«

»Ich dachte, du hast ihr eine Schlaftablette in den Tee gegeben?«, sagt Nancy.

Lily geht auf sie los. »Allerdings, das haben wir

»Aber das hätte sie für Stunden aus dem Verkehr ziehen müssen. Es sei denn …«

»Es sei denn was?«, faucht Lily.

»Jemand hätte sie rausgebracht …«, flüstert Nancy.

Wir starren alle einander an, und vor Sorge wird mir übel. Es ist mir schleierhaft, wie jemand Trixie hinausgetragen haben könnte, ohne dass wir es merken. Aber wir hatten den Fenstersitz im Rücken, als wir ferngesehen haben. Außerdem ist es mitten in der Nacht, und wir sind erschöpft vom Kummer und vom Schlafmangel.

Vorhin sind wir alle mal kurz rausgegangen. War Trixie bei unserer Rückkehr hier? Hat jemand nachgesehen? Entgegen der ständigen Sticheleien ihrer Mutter wegen ihrer Konfektionsgröße hat Trixie für ein Mädchen ihres Alters ein normales Gewicht. Ich würde sie eher als zierlich beschreiben. Ein Erwachsener wäre mühelos in der Lage, sie hochzuheben. Es könnte sie also jemand hier weggetragen haben, weshalb ich mich noch mieser fühle, weil wenigstens einer von uns sie hätte im Auge behalten sollen.

Die Uhren in der Eingangsdiele hören auf zu schlagen. Niemand sagt etwas, doch als Lily aus dem Wohnzimmer und über den Flur in die Küche stürmt, folgen wir ihr alle. Sie steht vor der Kreidewand, und als ich Nanas Gedicht sehe, verstehe ich, wieso.

Daisy Darkers Familie war abgrundtief finster, das war kaum bekannt.

Als eine von ihnen starb, haben alle den Blick abgewandt.

Daisy Darkers Nana war zwar alt, aber nicht weise genug.

Bei ihrem Testament witterten die Darkers Betrug.

Die meisten von ihnen sollten nichts erben,

da musste die Erblasserin sterben.

Daisy Darkers Vater reiste viel und tanzte zu seiner eigenen Musik.

Für Frau und Kind war er nie da, seine Selbstsucht brach ihm das Genick.

Daisy Darkers Mutter Nancy taugte nicht für ihre Rolle.

Zwei ihrer Kinder liebte sie, nur leider nicht alle.

Daisy Darkers älteste Schwester Rose war klug, schweigsam und schön,

und doch dazu verdammt, einsam von dieser Welt zu geh’n.

Daisy Darkers Schwester Lily war egoistisch, eitel und verwöhnt,

und hatte den Tod wie alle anderen verdient.

Daisy Darkers Nichte war ein frühreifes, altkluges Kind,

und wie jede vernachlässigte Brut schlug sie Warnungen in den Wind.

Daisy Darkers verschwiegene Geschichte, so traurig sie war, musste ans Licht.

Das gebrochene Herz war nur ihr Anfang, ihr Ende war es nicht.

Daisy Darkers Familie vergeudete Jahr um Jahr mit ihren Lügen.

In den letzten gemeinsamen Stunden, so dämmerte ihnen, würde die Wahrheit siegen.

Die Zeilen über Trixie sind jetzt durchgestrichen.

»O mein Gott«, flüstert Lily und hält sich, während sie auf die Kreideschrift starrt, die Hände vor Mund und Nase, als bete sie zu einem Gott, an den sie, wie ich weiß, gar nicht glaubt. »Das wird wahr«, sagt sie leise und dreht sich zu uns allen um. »Es. Wird. Wahr.«

»Was wird wahr?«, fragt meine Mutter.

Lily zittert jetzt. Sie zeigt auf das Gedicht, forscht in unseren Gesichtern, ob bei uns der Groschen fällt, und wird enttäuscht. Dabei weiß ich genau, was sie meint, auch wenn ich zu viel Angst habe, um es auszusprechen. In der Ferne ist tiefes Donnergrollen zu hören. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie heftig es mittlerweile regnet. Das Unwetter kommt näher, und im Haus ist es bitterkalt geworden. Lilys Worte sprudeln so schnell aus ihr heraus, dass der Rest von uns nicht gleich mitkommt.

»Nanas Gedicht an der Wand. Seht ihr das denn nicht? Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Es ist ein Gedicht über uns . Übers Sterben. Einer nach dem anderen. Nana ist schon tot , Dad ist schon tot , und jetzt ist Trixie …«

»… verschwunden. Sie ist nur verschwunden. Wir werden sie finden«, sagt Rose.

»Es ist nur eins von Nanas blöden Gedichten«, sagt meine Mutter.

»Woher willst du wissen, dass sie das geschrieben hat? Ich finde, das sieht nicht nach ihrer Handschrift aus. Jeder hätte sich in der Nacht hier herunterschleichen und ein Gedicht an die Wand schreiben können«, denkt Conor laut nach und trägt damit nicht unbedingt dazu bei, Lily zu beruhigen. Ich muss wieder an die Kreide denken, die ich an seiner Jeans gesehen habe, und wie er sie sich hastig abgeklopft hat. Er hat lange geschwiegen, und so drehen sich nun alle zu ihm um.

»Stimmt«, sagt Lily. »Dein Name steht da nicht. Vielleicht hast du das alles ja geschrieben.«

»Vielleicht sollten wir nicht länger unsere Zeit vergeuden und lieber nach Trixie suchen«, sage ich.

Bevor jemand antworten kann, donnert es erneut, diesmal jedoch so laut, als würde es den Nachthimmel zerreißen. Nancy schwankt ein wenig und hält sich am Küchentisch fest.

»Alles in Ordnung?«, fragt Rose.

»Ja, alles bestens, ehrlich«, beteuert Nancy. »Es sind nur Kopfschmerzen, und wie wir alle bin ich einfach müde. Wir müssen Trixie finden. Vielleicht seht ihr drei oben nach, und ich suche hier unten weiter?«

»Gute Idee«, erwidert Lily. Sie hört auf keinen außer unsere Mutter.

Rose, Lily, Conor und ich rennen die Treppe hoch und rufen Trixies Namen, bevor wir uns jeder ein Zimmer vornehmen. Ich fange in dem an, das sich Lily und Trixie letzte Nacht geteilt haben.

Als wir klein waren, haben meine Schwestern hier geschlafen, wenn wir in Seaglass waren. Es ist größer als meins, aber schließlich waren sie zu zweit. Seit damals hat sich an dem grässlichen rosa Teppichboden, farblich passenden Gardinen und Blümchentapete faktisch nichts geändert. Auf der Tapete sind noch die dunkleren rechteckigen Stellen zu erkennen, wo sie früher in den Sommerferien ihre Poster hängen hatten – bei Lily immer von Boybands und bei Rose von niedlichen Tieren. An den gegenüberliegenden Wänden stehen ihre Betten, es gibt zwei kleine Tische, zwei Fenster und einen Wandschrank.

»Trixie?«, flüstere ich, bekomme aber keine Antwort.

Ich höre nichts weiter als den Regen, den der Wind an die Scheiben peitscht, und die Brecher an den Felsen. Dieses Zimmer hat bis heute zwei Seiten. Lilys Bett ist ungemacht, auf dem Boden davor liegen Kleider herum, und auf dem Tisch daneben herrscht ein Durcheinander aus Make-up-Utensilien und Zeitschriften, obwohl sie erst seit ein paar Stunden hier ist. Trixies Seite ist das genaue Gegenteil, absolut aufgeräumt, und das Bett ordentlich gemacht. Auf ihrem Nachttisch liegt, neben einem Glas Wasser, nur ein alter Agatha-Christie-Roman, den sie sich offenbar aus Nanas Bibliothek ausgeliehen hat.

Ich gehe auf die Knie und sehe unter den Betten nach, aber da ist nichts. Beim nächsten tiefen Donnergrollen in der Ferne habe ich das überwältigende Bedürfnis, mich zu verstecken. Unwetter haben sich früher in Seaglass in verlässlicher Regelmäßigkeit zusammengebraut, sowohl als meteorologisches als auch emotionales Phänomen. Manchmal hat mir der Donner draußen – oder das Geschrei unten im Erdgeschoss – solche Angst gemacht, dass ich nachts in dieses Zimmer gerannt bin. Die Angst gehörte zu den wenigen Dingen, die mich und meine Schwestern als Kinder miteinander verbanden.

Ein Gewitter in Seaglass ist nicht dasselbe wie eins in London oder wo auch immer. Hier draußen, auf dieser winzigen Insel, fühlt man sich wie auf einem morschen, alten Schiff auf hoher See, bei dem die Gefahr besteht, bei zu hohem Wellengang zu sinken. Wenn das Leben einmal wieder zu laut wurde, versteckten wir uns in diesem Zimmer unter den Betten – Lily unter dem einen, Rose und ich unter dem anderen. Dann zählten wir die Sekunden zwischen dem Blitzschlag und dem unvermeidlichen Donner, um zu wissen, wie viele Meilen das Unwetter entfernt war. In diesem Moment ertappe ich mich wieder dabei zu zählen.

Eins Mississippi … Zwei Mississippi … Drei Mississippi …

Es konnte auch schon mal vorkommen, dass sich ein Gewitter mitten in der Nacht anschlich und ich mich allein in meinem Zimmer unter dem Bett verkriechen musste. Aber zumindest konnten wir uns im Dunkeln durch die Wand gegenseitig zählen hören. Je näher das Gewitter kam, desto mehr Angst hatten wir, besonders wenn ein Blitz plötzlich das ganze Zimmer erleuchtete. Bestimmt teilen meine Schwestern jetzt im Stillen dieselben Erinnerungen.

Eins Mississippi … zwei Mississippi …

Die Türen an dem Einbauschrank, der sich über die eine Wand erstreckt, bestehen aus Holzlamellen. Als ich mich ein letztes Mal im Zimmer umsehe, bin ich mir sicher, aus den Augenwinkeln heraus zu sehen, wie sich eine davon bewegt. Ich bleibe stocksteif stehen und horche.

»Trixie?«, flüstere ich.

Ich höre etwas.

»Trixie, bist du da drin?«

Die Stille, die eintritt, sagt mir, dass ich es mir nur eingebildet habe. Bis ich etwas höre, das nach einem sehr leisen Atem klingt.

Ich möchte die Türen aufreißen, habe aber zu große Angst davor, was ich vielleicht dahinter finde.

Für eine Sekunde wird der Himmel draußen von einem Blitz erleuchtet, und ich glaube, schon wieder zu hören, wie sich hinter den Schranktüren etwas bewegt. Jetzt kann ich es nicht mehr ignorieren und zwinge meine Füße, einen Schritt näher heranzugehen. Ich rede mir gut zu, dass es keinen Grund zur Sorge gibt, auch wenn die bisherigen Ereignisse in dieser Nacht etwas anderes nahelegen. Jetzt ist der Schrank in Reichweite, und ich greife langsam nach dem Knauf. Wieder blitzt es draußen.

Eins … zwei …

Ich komme nicht bis drei.

Der Donner spendet übereifrig Applaus, bevor die Show vorüber ist. Er setzt so prompt und laut ein, dass er das ganze Haus zu erschüttern scheint. Das Licht geht aus, und ich bin wieder ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet – zu verängstigt, um einen Finger zu rühren oder einen Mucks von sich zu geben.

Ich rede mir ein, dass es nur ein Kurzschluss ist, und versuche, ruhig zu bleiben.

Aber der nächste Blitz schlägt ein.

Er erleuchtet alles einschließlich der Schranktüren, und bevor es wieder schwarz im Zimmer wird, sehe ich zwischen den Lamellen zwei Augen, die genau in meine Richtung blicken.

Dann wackeln und rappeln die Türen.

Jemand steckt da drin und will raus.