Kapitel einundzwanzig

3 1. Oktober 2004, 02:25 – keine vier Stunden bis zur Ebbe

Conor nimmt Rose die Taschenlampe aus der Hand und rennt in die Diele. Wir folgen alle dicht dahinter und sehen, wer das Geräusch verursacht.

Poppins kratzt mit den Krallen an der Besenkammer und fängt zu winseln an.

Lily tritt vor und versucht, die Tür zu öffnen, doch sie ist abgeschlossen.

»Trixie?«, ruft sie und donnert mit der Faust dagegen. »Bist du da drin?«

Keine Antwort. Lily donnert noch einmal dagegen, noch lauter, und die Scharniere der alten Holztür scheppern. Frustriert rüttelt sie am Knauf.

»Lass mich mal«, sagt Conor und gibt Rose die Taschenlampe zurück. Aber auch er bekommt die Tür nicht auf.

»Wo steckt bloß der Schlüssel zu der verdammten Kammer?«, fragt Lily, doch ich fürchte, dass es keiner von uns weiß. Wieder bellt der Hund und kratzt an der Tür.

»Still, Poppins!« brüllt Lily.

»Sie hat den Schlüssel«, flüstert Rose.

»Was?«

»Poppins hat den Schlüssel.«

»Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«

»Er hängt an ihrem Halsband. Da!«, sagt Rose und richtet die Taschenlampe auf den Hund.

Wir starren Poppins ziemlich lange an, bevor wir die Sprache wiederfinden. Sie blinzelt uns unter den zwei kleinen Zöpfchen, zu denen ihr das Fell über den Augen geflochten ist, an. Wenn ich ehrlich bin, sieht sie ein klitzekleines bisschen schuldbewusst aus. Aber selbst für meine irrationale Familie ist die Vorstellung zu absurd, ein Bobtail könnte hinter alldem stecken, was hier heute Nacht passiert.

Rose bückt sich und zieht ihr den Schlüssel vom Halsband ab. Bei dem schlechten Licht braucht sie eine Weile.

»Mach schon«, sagt Lily.

»Ich tu mein Bestes«, erwidert Rose ruhig.

Als sie ihn endlich ins Schloss steckt, halten wir alle die Luft an. Als Kinder hatten wir Angst vor diesem Verschlag. Wir wussten, dass es darin Mäuse und Spinnweben gab. Ich stellte mir vor, wie dort im Dunkeln eine Familie Riesenspinnen hauste und nur darauf lauerte, jeden zu verspeisen, der dumm genug war, hineinzugehen.

Rose dreht den Schlüssel, und die Tür knarrt, als meine Schwester sie langsam aufzieht.

Es ist zu dunkel, um hineinzusehen. Dort drinnen hat es noch nie Licht gegeben.

Als Rose vortritt und die Taschenlampe hineinhält, blicken wir ihr alle aus vermeintlich sicherem Abstand über die Schulter.

Als Erstes registriere ich den Geruch, der mir entgegenschlägt. Wenn Menschen sterben, passieren schlimme Dinge. Das Erste, was ich sehe , ist Nana. Im Dämmerlicht sitzt sie, mit dem Rücken an die Backsteinwand gelehnt, auf dem Boden. Wäre da nicht die aschfahle Hautfarbe und die riesige Platzwunde an ihrer Schläfe und das Blut, das ihr über die Wange bis auf die Schulter und ihr weißes Baumwollnachthemd gesickert ist, sähe sie aus wie jemand, der – in einer Kammer – ein Nickerchen hält. Statt des Kreidestücks, das sie in der Hand hatte, als wir sie das erste Mal fanden, hält sie jetzt einen Stift und einen Pinsel, die ihr beide mit einer roten Schleife an die Hand gebunden sind. Auch die Leiche meines Vaters mit dem zerbrochenen Dirigentenstab in seiner Rechten wurde hierhergebracht. Vermutlich dank der Leichenstarre schwebt die Hand mit dem Taktstock in der Luft, als würde er im Verschlag unter der Treppe ein unsichtbares Orchester dirigieren.

Der surreale Anblick löst bei mir eine Erinnerung aus, die ich lieber für immer vergessen würde. Es muss wohl Anfang 1983 gewesen sein. Das dritte Mal, dass ich starb, war das erste Mal, dass ich darüber log.

Nach der Trennung meiner Eltern hatte mein Dad eine Reihe von Freundinnen. In meiner Erinnerung verschmelzen sie zu einer Person: Sie war hübsch, halb so alt wie er und spielte in seinem Orchester. Männer sind weitaus vorhersagbarer als Frauen, und das Verhalten meines Vaters vor und nach der Scheidung erfüllte das klassische Borderline-Klischee. Das Verhalten einer wütenden Frau ist dagegen sehr schwer vorhersagbar. Meine Mutter schluckte ihre Wut hinunter, bis sie ein Teil von ihr wurde.

Ich glaube, weder meine Schwestern noch ich nahmen die »Beziehungen« meines Dads mit seinen Musikerinnen ernst. Meist waren es Geigerinnen, die mir seither immer verdächtig sind. Es hielt nie länger als ein paar Monate.

Doch dann kam Rebecca. Sie. War. Schön. Und witzig und klug und nett. Bis heute sehe ich sie vor mir mit ihrem langen blonden Haar, ihrem hellen Teint und den blauen Augen, vielleicht weil sie so ganz anders aussah als wir von der Darker-Familie. Rebecca ermunterte Dad sogar, mehr Zeit mit seinen Töchtern zu verbringen, sodass wir in den Schulferien mit ihnen Ausflüge zum Thorpe Park oder zu Madame Tussauds unternahmen. Sie spendierte uns Happy Meals bei McDonald’s – die uns tatsächlich glücklich machten –, und sie flocht uns die Haare zu Frisuren, die wir noch nie zuvor gesehen hatten. Wir vergötterten Rebecca. Meine Mutter eher nicht. Ich kann nur ahnen, wie schrecklich sie sich gefühlt haben muss, wenn wir mit strahlenden Gesichtern heimkamen und völlig begeistert von unserem wundervollen Tag mit Dads neuer Freundin erzählten. Kinder können so taktlos sein.

Ich war mit dem ganzen Arrangement sehr glücklich, bis mein Vater einen besonderen Musikabend in der Royal Albert Hall dirigieren sollte. Für ihn war es die Erfüllung eines Lebenstraums, und wir alle, einschließlich Nana und Nancy, waren zu dem bedeutsamen Ereignis eingeladen. Wir bekamen sogar unsere eigene Loge, um dem Auftritt seines Lebens beizuwohnen, und wurden vor allen anderen hereingelassen, um uns den Konzertsaal anzusehen. Lily hasste das Ganze. Sie fand es langweilig, und ich werde nie vergessen, was sie an dem Tag sagte. In meiner Erinnerung war es das einzige Mal, dass meine Schwester etwas wirklich Witziges von sich gab, worüber ich jetzt noch schmunzeln muss: »Ich wünschte, er wäre Busfahrer, dann bekämen wir wenigstens Freifahrtscheine.«

Als sich Dad ungefähr eine Stunde vor Konzertbeginn mit uns traf, kam er gemeinsam mit Rebecca in die Loge. Sie lächelte und strahlte vor Glück, und selbst mit sieben Jahren bemerkte ich, wie ihre Gegenwart meine Mutter in den Schatten stellte.

»Wir haben Neuigkeiten«, sagte mein Vater mit ebenso strahlender Miene zu seiner ersten Familie.

Rebecca hielt uns allen die Hand hin, damit wir den Ring daran sehen konnten. Bei mir fiel der Groschen erst, als sie sagte: »Euer Dad hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will, und ich habe Ja gesagt.«

Ich starrte auf den Ring an ihrer Hand und drehte mich zu meiner Mutter um, die aussah, als hätte ihr jemand in den Magen geboxt. Ihr Gesicht war derart verkniffen, als spannte sie jeden Muskel an, um ihr Lächeln aufrechtzuerhalten.

Nanas Gesicht war ein einziges »O!«, und ich sah sie zum ersten Mal wirklich überrascht. Meine Schwestern und ich rückten ein bisschen näher zusammen, als sagte uns unser Instinkt, dass unser Rudel in Gefahr war. Manchmal genügen hauchdünne Bande, um Menschen zusammenzuhalten, was auf unsere Familie schon immer zutraf.

In meinem Kopf brach ein Sturm los – schlimme, böse Gedanken überwältigten mich, die kleine Explosionen verursachten. Bis zu dem Moment hatte ich wohl immer noch geglaubt, meine Eltern kämen eines Tages wieder zusammen. Für uns drei stand fest, dass Rebecca ein fantastischer Mensch war, doch jetzt änderte sich unsere Meinung über sie mit einem Wimpernschlag. Jetzt war sie grässlich, hassenswert, eine wahre Hexe, die versuchte, unsere Familie zu zerstören.

Ich weiß noch, wie meine Schwestern mich früher am Strand oder im Garten endlos um meine eigene Achse gedreht haben, bis mir schwindlig war. Danach sollte ich in einer geraden Linie laufen, was sich natürlich als unmöglich herausstellte. Es war urkomisch, wir Mädchen lachten alle darüber, wie ich herumstolperte und schwankte, bevor ich umfiel. Aber bei der Vorstellung, dass mein Dad eine Frau heiraten würde, die nicht meine Mom war, fühlte sich der Schwindel, der mich erfasste, schrecklich an. Mir wurde übel. Und dann fiel ich in Ohnmacht.

Ich bin mir sicher, mehr war es nicht. In der Royal Albert Hall war es sehr warm, die Loge, in der wir saßen, befand sich weit oben, und die Neuigkeit von der bevorstehenden Heirat meines Vaters erwischte mich vollkommen unvorbereitet. Ich fiel einfach nur in Ohnmacht. Nancy war jedoch felsenfest davon überzeugt, mein Herz hätte wieder ausgesetzt, weil mir die Nachricht meines Dad buchstäblich das Herz gebrochen hätte. Ein Krankenwagen wurde gerufen, der mich zusammen mit den anderen Frauen der Familie Darker ins Krankenhaus fuhr. Mein Dad blieb bei seinem Orchester und seiner Verlobten. Wir haben also nicht gesehen, wie er sich seinen Lebenstraum auf der Bühne der Royal Albert Hall erfüllte, so wie wir auch seine Hochzeit mit Rebecca nicht erlebten. Zwei Wochen nach dem Vorfall löste sie die Verlobung mit der Begründung, sie könne nicht mit jemandem zusammenleben, dem seine Karriere wichtiger sei als sein Kind, selbst wenn das Kind mit dem Krankenwagen abgeholt werde.

Es war alles meine Schuld, und tatsächlich ist mein Herz an dem Tag nicht stehen geblieben, auch wenn ich das niemandem gesagt habe. Zum ersten Mal begriff ich damals, dass das Verschweigen der Wahrheit fast – wenn auch nicht ganz – dasselbe ist wie zu lügen. Und auch wenn mich angesichts der Konsequenzen immer ein schlechtes Gewissen plagte, habe ich es nie gestanden.

Wenn alle denken, dass man jeden Moment sterben könnte, kommt man glatt mit Mord davon.

»Trixie!«, schreit Lily und reißt mich aus meinen Erinnerungen.

Ich drehe mich um und folge dem Blick meiner Schwester in den hintersten Winkel der Kammer. Dort liegt meine Nichte eingerollt auf dem Boden. Ihr rosafarbener Pyjama ist staubig und verdreckt, sie hat Spinnweben im Haar, ihre Augen sind geschlossen, und ihre Haut ist gespenstisch weiß. Sie rührt sich nicht, auch nicht, als Lily zum zweiten Mal ihren Namen brüllt.