Kapitel vierundzwanzig

Seaglass ~1983

Meine Mutter machte sich immer schick, wenn sie einkaufen fuhr. Ich weiß noch, dass sie an dem Tag gute Laune hatte, was selten vorkam und daher erinnerungswürdig ist. Im Radio lief »Staying Alive«, als wir auf der Küstenstraße Richtung Stadt fuhren, und Nancy sang schrecklich schief mit. Sie hatte einen Film auf Videokassette mit demselben Song, irgendwas über einen Mann namens John Travolta, der an einem Samstagabend Fieber hat. Nancy mochte den Namen John. Ihr Lieblingsgeschäft auf der ganzen Welt hieß John Lewis, und da wollten wir an dem Morgen hin.

Wir waren über die Osterferien in Seaglass, aber Nana kam nicht mit. Sie hasste Einkaufen in jeglicher Form.

»Materielle Dinge sind nur materialistischen Menschen wichtig«, sagte sie oft.

Nancy dagegen liebte es. Das einzige Problem bei ihrem Umgang mit Geld und ihrem teuren Geschmack war, dass wir in jener Zeit nur wenig Geld zur Verfügung hatten. Auch wenn sie finanziell bei der Scheidung gut weggekommen war, blieb von dem Geld nur noch sehr wenig übrig, wenn die Rate auf unser winziges Haus in London und die Schulgebühren für meine Schwestern bezahlt waren. Aus diesem Grund war der erste Tag des Schlussverkaufs meiner Mutter überaus wichtig. Wir mussten am ersten Tag auf der Matte stehen, sobald der Laden öffnete, und sei es in einer langen Schlange. Das Einzige, was meine Mutter noch mehr liebte als Shoppen, war das Gefühl, ein Schnäppchen zu machen.

Ich hasste es, wenn sie mich durch Kaufhäuser schleifte. Sie waren zu groß, ich war zu klein, und ich hatte ständig Angst, verloren zu gehen. Mir waren die kleinen Geschäfte auf unserer alten Highstreet viel lieber. Besonders Woolworth hatte es mir wegen der Wühltische angetan: Bei der Erinnerung an all die Colaflaschen und Gummibärchen und Brause-Ufos muss ich heute noch schmunzeln. Lilys liebste Ladenketten waren Our Price, wo sie die neuesten Kassetten und Musikposter kaufte, und Tammygirl und C&A, wo sie und Rose ihre Klamotten erstanden. Ich liebte zudem unsere Ausflüge zu Blockbuster Video, auch wenn ich nur selten bestimmen durfte, welchen Film wir ausliehen. Aber am allerliebsten waren mir die Ausflüge mit Nana zu dem kleinen unabhängigen Buchladen im Ort. Ihre Besuche in Buchläden waren die einzige Art Shopping, die sie genoss. Es macht mich traurig, dass keiner dieser Läden mehr existiert. So viele Highstreets sind inzwischen zu Geisterstraßen geworden.

Nancy schlängelte sich mit uns durch die Menge, und wir fuhren mit der Rolltreppe zur Kinderabteilung von John Lewis hoch, wo sie zügig zwei neue Kleider für Rose und Lily aussuchte. Ich musste rennen, um mit ihr mitzukommen, doch ich erinnere mich bis heute an die marineblauen Samtkleider mit weißem Kragen und daran, wie sehr ich mir auch eins für mich gewünscht habe. Meine Mutter kleidete meine Schwestern gerne passend an, als ob sie Zwillinge wären, während ich nur selten etwas Neues bekam.

Danach fuhren wir einen Stock höher zu den Damenmoden, wo Nancy eine Kleinigkeit für sich zu ergattern hoffte. Auf ihrer Schnäppchenjagd konnte es Nancy nicht schnell genug gehen, und so lief sie die Rolltreppe hinauf. Die beweglichen Stufen waren sehr hoch, und mein achtjähriges Ich hatte Mühe, bei Nancys Tempo mitzuhalten. Die Angst vor Rolltreppen habe ich seitdem nie ganz überwunden. Immer fürchtete ich auszurutschen, zu stolpern oder mich in den Spalten einzuklemmen. Oben angekommen machte ich stets einen großen Satz, um dem drohenden Tod zu entkommen.

Kaum war sie am Ziel, sondierte Nancy die reduzierten Kleider, als wäre es ein Wettkampf. Bis heute habe ich das ratschende Geräusch der Kleiderbügel an den Metallstangen im Ohr. Kamen ihr andere Kundinnen in die Quere, ts-tste sie, bis sie das Feld räumten. Irgendwann taten mir in meinen hübschen, aber zu kleinen Secondhandschuhen die Füße weh, und während ich wartete, bis Nancy gefunden hatte, wovon sie glaubte, dass es sie glücklich macht, setzte ich mich auf den Boden und sammelte die Plastikwürfel mit den Größenangaben ein, die von den Bügeln auf den Boden gefallen waren. Jede Konfektionsgröße war damals durch eine andere Farbe gekennzeichnet: Orange für 36, Grün für 38 und Blau für 40. Nancy hatte fast immer 36 getragen, und manchmal frage ich mich, ob ich Orange deshalb nicht mag.

Alles lief gut, bis wir in die Umkleidekabine kamen. Meine Mutter hatte die maximal zulässige Anzahl an Kleidungsstücken zur Anprobe mitgenommen, war jedoch schon beim ersten Teil, das sie sich überstreifte und das ihr nicht passte, irritiert.

»Jetzt zieh schon den Reißverschluss hoch«, sagte sie und sah mir im Spiegel mit finsterer Miene dabei zu, wie ich daran scheiterte, ihr zu helfen.

»Er geht nicht weiter«, antwortete ich, während ich mit aller Kraft am Zipper zog.

Sie schüttelte verständnislos den Kopf, als wäre es meine Schuld.

»Die Größenangabe zu dem Kleid kann nicht stimmen«, sagte Nancy, zog es sich über den Kopf und warf es auf den Boden. Doch das nächste Kleid, ebenfalls in 36, passte ebenfalls nicht, genauso wie das dritte. An dem Punkt kamen Nancy die Tränen.

»Das Kinderkriegen hat meine Figur ruiniert. Ruiniert! Was ich alles für euch geopfert habe …«

»Ich finde, du siehst wunderschön aus«, sagte ich und steckte die Hände in die Taschen, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen oder machen können. »Wenn du willst, bringe sie dir eine Nummer größer.«

Der Blick, den ich mir von meiner Mutter einfing, machte mir solche Angst, dass ich aus der Kabine rannte, ohne ihre Antwort abzuwarten. Ein paar der Würfel mit den Größenangaben, die ich aufgesammelt hatte, befanden sich noch in meinen Taschen. Als ich sie an den Fingern spürte, kam mir eine Idee. Ich fand das Kleid, das meiner Mutter am besten gefallen hatte, an der Stange, schlich mich auf Zehenspitzen hin, griff nach Größe 38 und tauschte den grünen Würfel am Bügel gegen einen orangefarbenen Größe 36 aus. Damit lief ich in die Umkleidekabine zurück.

»Das habe ich doch schon anprobiert«, fauchte Nancy und starrte das Kleid an, als hätte es sie persönlich beleidigt.

»Aber vielleicht passt dir das hier ja?«, sagte ich und hielt es ihr mit beiden Händen hin wie ein textiles Friedensangebot. »Das sah wirklich sehr hübsch an dir aus.«

Sie schnappte sich das Kleid und zog es an. Als ich ihr dabei half, den Reißverschluss im Rücken bis obenhin zu schließen, lächelte sie sich im Spiegel an. Dann schenkte sie mir ein Lächeln.

Ich weiß nicht, ob Nancy je einen Blick auf das eingenähte Größenschild geworfen hat, bei diesen oder den anderen Sachen, die sie an dem Tag kaufte. Meine Mutter hat schon immer nur auf das Äußere geachtet, was andere zu sehen bekamen, und wie sie von ihr dachten. Ich finde das bis heute traurig. Doch bevor wir John Lewis an jenem Tag verließen, gingen wir noch einmal in die Kinderabteilung, und meine Mutter kaufte mir zum ersten Mal dasselbe Kleid, das auch meine Schwestern bekommen hatten. Manchmal bringt etwas, das einen Menschen traurig macht, einem anderen Glück.

Auf der Heimfahrt sang Nancy wieder zur Musik im Radio mit. Der Kofferraum ihres kleinen roten Mini war voller Tüten mit Kleidern zum halben Preis – alle mit der falschen Größenangabe an den Bügeln. Ich habe ihr nie gebeichtet, was ich getan habe, denn manchmal ist es viel mitfühlender, ein Geheimnis zu bewahren. Ich werde nie vergessen, wie glücklich sie war, bis wir kurz vor Seaglass einen Jungen auf dem Küstenpfad sahen. Conor muss damals dreizehn gewesen sein – in diesem seltsamen Alter, in dem er noch wie ein Junge aussah, aber anfing, wie ein Mann zu denken und zu handeln. Er hinkte. Meine Mutter fuhr neben ihm her und schnappte nach Luft, als sie sein Gesicht sah. Er hatte ein blaues Auge und eine aufgeplatzte Lippe.

»Bleib stehen!«, befahl sie und zog die Handbremse mit solcher Kraft, als wäre sie an Connors Unglück schuld.

Sie stieg aus und rannte zu ihm.

»Hat dir dein Dad das angetan?«, fragte Nancy.

Unsere ganze Familie wusste über Conor und seinen Dad Bescheid, und meine Eltern hießen Nanas Einmischung nicht gut. In ihren Augen verschwendete Nana nur ihrer beider rechtmäßiges Erbe an einen Fremden, weil sie für den Entzug seines Vaters aufkam. Meine Mutter hatte immer nur auf den Moment gewartet, in dem sich zeigte, dass sie recht hatte. Conor wandte nur den Kopf ab und starrte zur Blacksand Bay unterhalb der Klippen hinab.

Sie nahm einen zweiten Anlauf und mäßigte ihren Tonfall. »Du brauchst es nicht auszusprechen, wenn du nicht möchtest, aber ich muss wissen, was passiert ist, Conor. Hat das dein Vater getan? Du brauchst nur zu nicken oder den Kopf zu schütteln.«

Conor sah sie an, ohne den Kopf zu bewegen oder auch nur mit der Wimper zu zucken.

»Komm, steig hinten ein«, sagte sie, und er rutschte neben mir auf den Rücksitz. Er stank nach Blut und Schweiß.

Bei ihrem Tempo war ich froh, angeschnallt und ausnahmsweise einmal nicht der Grund für ihren Unmut zu sein. Hinter verschlossenen Türen war auch meine Mutter sehr wohl in der Lage, ihre eigenen Kinder zu verletzen, wenngleich nur mit Worten, doch wenn es andere Kinder traf, hörte der Spaß auf. Mit quietschenden Reifen hielten wir vor Conors Haus, jenem Cottage, das Nana ein paar Jahre zuvor so liebevoll renoviert hatte. Leider ist es schwerer, Menschen instand zu halten als Häuser.

»Wartet hier«, befahl Nancy.

Sie stieg aus dem blitzblanken Mini und schüttelte missbilligend den Kopf über den blauen Volvo von Conors Dad. Er war so verdreckt, dass ich nicht einmal das Nummernschild lesen konnte, obwohl wir direkt dahinter parkten.

»Eines Tages fährt er auf der Küstenstraße noch jemanden über den Haufen, wenn er mit dem Trinken so weitermacht«, murmelte sie, und ich drückte das Gesicht an unsere Fensterscheibe, während Nancy zu Conors Haus marschierte. Während ich jeden Moment darauf wartete, dass meine Mutter eben dort wie der Blitz einschlug, wisperte ich vor mich hin.

Eins Mississippi … zwei Mississippi … drei Mississippi …

»Machen Sie die Tür auf, Sie Schande von einem Mann«, brüllte Nancy und hämmerte an die Tür. »Sie konnten vielleicht meine Schwiegermutter um den Finger wickeln, aber ich weiß, dass Leute wie Sie sich nie ändern. Ihr Sohn sitzt in meinem Wagen und sieht übel aus. Ich dachte, Sie wollen sich vielleicht von ihm verabschieden, bevor ich ihn nach Seaglass mitnehme und dafür sorge, dass Sie ihn nie wiedersehen und ihm wehtun können.«

Zu dem Zeitpunkt hatte Nancy genau wie alle übrigen Frauen der Familie Darker längst ihr Herz an Conor verloren. Wir alle wollten ihn beschützen. Es war ein Instinkt, den keiner von uns infrage stellte oder auch nur erklären konnte. So wie man einen ausgesetzten Welpen findet und nicht anders kann, als ihm zu helfen und ihm ein neues Zuhause zu geben.

Ich sah Conor an, doch er starrte nur auf den Boden des Wagens und ballte die Hände zu Fäusten. Die Cottagetür ging auf, und mir pochte das Herz bis zum Hals. Dann erschien ein Mann, den ich nicht wiedererkannte.

Er sah einerseits wie Conors Dad aus, andererseits aber auch nicht. Der Mann, mit dem ich gerechnet hatte, war ziemlich mager und ungepflegt gewesen, mit verschlissenen Klamotten, einem zerzausten Bart und viel zu langem Haar. Dieser Mann hingegen war kräftig gebaut und hielt sich kerzengerade. Er hatte eine ordentliche Frisur und war glatt rasiert. Offenbar hatte er zugenommen, trieb Sport und war gut gekleidet.

Ich weiß noch, wie ich dachte, dass sein Hemd und seine Hose lächerlich viele Taschen hatten, und überlegte, was er wohl darin aufbewahrte. Er verschränkte die gebräunten Arme vor der Brust und lächelte.

Es war eine völlig verkehrte Welt. Meine Mutter, die sich selbst für die Heldin in dieser kleinen Szene hielt, stand mit einem Mal als die aggressive Frau mit dem losen Mundwerk da, während sich der vermeintliche Bösewicht als ruhiger, attraktiver Mann mit guten Manieren entpuppte.

»Hallo, Mrs. Darker«, sagte er, bevor er uns alle ins Haus bat.

Wie sich zeigte, hatte Conors Dad weder erneut mit dem Trinken angefangen noch seinen Sohn geschlagen. Ich sah ihm dabei zu, wie er ganz in Ruhe Tee für uns machte. Er wirkte wie jemand, der es in seinem ganzen Leben nie eilig gehabt hatte, etwas zu tun oder irgendwohin zu kommen. Sei es auch in Zeitlupe, so hatte Mr. Kennedy sein Leben sehr wohl wieder im Griff und arbeitete inzwischen als leitender Gärtner auf einem Anwesen des National Trust ein paar Meilen entfernt. Das klang in meinen Ohren gut, auch wenn Conor sagte, sein Dad habe seine Jobs nie ernst genug genommen und sie daher des Öfteren verloren. Auch schon bevor Conors Mutter starb.

Wie sich herausstellte, war Conor selbst ein wenig zu achtlos gewesen. Er hatte sich an diesem Tag in der Schule Ärger eingefangen und mit einem drei Jahre älteren Jungen geprügelt. Später erfuhr ich, dass besagter Junge Gerüchte über Lily und Rose gestreut und Conor sie verteidigt hatte. Lily, die Ostern wegen der vielen Schokolade liebte, hatte einigen Jungs einen Blick in ihr Höschen in Aussicht gestellt, im Tausch gegen ein Osterei. Je größer das Ei, desto länger der Blick. Da war sie zwölf. Meine Schwester war auf dem besten Weg, sich in Blacksand Bay einen zweifelhaften Ruf zu erwerben. Zum Glück kam meine Mutter nie dahinter.

Conors Dad öffnete einen Erste-Hilfe-Kasten und tupfte seinem Sohn das Gesicht ab, bevor er uns alle in der Küche zu Tee und Keksen einlud. Das Haus präsentierte sich genauso sauber und ordentlich wie der Mann, dem es gehörte, und es war eine surreale Erfahrung, meine Mutter sprachlos zu sehen. Als sie sich auch noch entschuldigte, glaubte ich zu träumen.

»Tut mir leid, ich dachte nur …«

»Schon okay, ich hätte genauso reagiert«, sagte Mr. Kennedy mit einem höflichen Lächeln. »Nach dem Tod meiner Frau war ich völlig am Boden, und ich muss mich für all das entschuldigen, was Ihre Familie mitangesehen hat. Das passte eigentlich nicht zu mir. Zwar trauere ich immer noch, aber ich bin wieder viel mehr ich selbst. Ich bin unendlich dankbar für alles, was Ihre Schwiegermutter für mich – und für meinen Sohn – getan hat, als es uns sehr schlecht ging. Ich hab sogar angefangen, darüber zu schreiben.«

»Ein Buch?«

»Mal sehen. Ich habe mich noch nicht entschieden, und ich weiß auch noch nicht, ob es gut genug ist, aber auf jeden Fall hilft mir das Schreiben, alles zu verarbeiten – die überwältigende Trauer, das Trinken, eben alles, was es mit mir gemacht hat. Und wenn es vielleicht anderen hilft, nicht denselben Weg einzuschlagen oder, falls es dafür schon zu spät ist, aus dem Schlamassel herauszufinden, dann ist es vielleicht auch noch ein bisschen von Nutzen, wenn ich meine Erfahrungen teile …« Er wandte sich an Conor. »Du hast dich doch bei Mrs. Darker dafür bedankt, dass sie dich hergefahren hat?«

»Nicht nötig, und ich habe ihm gesagt, er soll mich Nancy nennen. Das gilt also auch für Sie.«

»Nancy. Der Name hat mir schon immer gefallen. Vielleicht fangen wir noch mal von vorne an? Ich heiße Bradley, freut mich, Sie kennenzulernen.«

Er streckte ihr die Hand entgegen, meine Mutter nahm sie und wurde rot dabei.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie Gärtner sind«, sagte sie und nahm einen Schluck Tee, um ihre Hände mit etwas zu beschäftigen. »Vielleicht kann ich mir bei Ihnen für das kleine Stück Land an der Rückseite von Seaglass Rat einholen?«

»Nur zu gerne.«

Sie wurde wieder rot. »Meine Schwiegermutter wollte Conor sowieso am Ostersonntag zu uns einladen. Meine älteren Töchter haben Schulferien, und es ist schön für sie, mit jemandem in ihrem Alter Zeit zu verbringen. Vielleicht machen Sie uns auch die Freude … falls Sie Zeit haben?«

»Ich seh mal in meinem Terminkalender nach«, sagte Mr. Kennedy mit ungerührter Miene.

Erst als er grinste, merkte meine Mutter, dass es ein Witz war, und sie lachte. Dieser Anblick hatte für mich Seltenheitswert. Ihr Lachen klang schön, und sie war es ebenfalls.

Auch wenn ich nie zur Schule gegangen war, hatte ich das Gefühl, an diesem Tag viele wertvolle Lektionen gelernt zu haben, nicht zuletzt die, dass Menschen nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen. Ein Mann in mittlerem Alter mit einem Alkoholproblem war vielleicht einfach nur jemand, der mit einer tiefen Trauer zu kämpfen hatte. Und eine gutbürgerliche Frau mit netten Manieren und hübschen Kleidern war vielleicht einfach nur eine gescheiterte Schauspielerin, die nicht damit klarkommt, eine Kleidernummer größer tragen zu müssen. Das Leben ist wie ein Theaterstück, und wenn uns der Text, der uns ausgehändigt wird, nicht gefällt, ist es das Beste, einen eigenen zu schreiben.

Tatsächlich kamen Conor und sein Dad an Ostern nach Seaglass zu Besuch. Sie hatten sich mit Anzug und Krawatte in Schale geworfen und brachten Schokoladeneier für die ganze Familie mit. Mr. Kennedy verbrachte eine Menge Zeit mit Nancy draußen im Garten, und wir hörten sie den ganzen Nachmittag lang lachen. Auch wenn Bradley Kennedy das Trinken nie ganz aufgab, schien er zu dem Zeitpunkt zu wissen, wann er aufhören musste, und er hat nie wieder die Hand gegen Conor erhoben.

Als ich mir jetzt dieses Foto von den Darker-Frauen auf Nanas Kaminsims ansehe, fällt mir wieder ein, dass es Conor damals an jenem Osterfest gemacht hat, mit der Polaroidkamera, die er von meinem Vater bekommen hatte. Auf dem Bild trägt Nana ein pinkfarbenes Kleid und einen violetten, österlich geschmückten Strohhut. Lily, Rose und ich haben alle drei zum ersten und einzigen Mal das gleiche Kleid an – jenes blaue Samtkleid von John Lewis. Nancy trägt eins ihrer Audrey-Hepburn-Ensembles und scheint mit sich zufrieden zu sein. Sie blickt nur knapp an der Kamera vorbei. Ich glaube, sie sieht Conors Dad an.

Und auch ich muss lächeln, wenn ich ihr Bild von damals betrachte, weil ich so stolz war auf sie wegen dem, was sie an jenem Tag getan hatte. Sie war ohne Rücksicht auf Verluste für Conor eingetreten. Sie beschützte diejenigen, die ihr am Herzen lagen, und wenn sie etwas oder jemanden liebte, dann von ganzem Herzen.

Ich wünschte mir nur, sie hätte mich je so geliebt.

Auch wenn meiner Mutter der Traum, Schauspielerin zu werden, versagt blieb, haben sich zumindest ein paar ihrer Träume erfüllt. Sie hatte ein gutes Leben, ein schönes Zuhause und eine großartige Familie. Was einige Jahre später passierte, war nicht ihre Schuld. Genauso wenig wie das, was jetzt gerade vorgeht. Manchmal müssen wir das, was wir einmal hatten, loslassen, um das zu behalten, was wir jetzt haben.