Kapitel sechsundzwanzig
3 1. Oktober 2004, 02:50 – keine vier Stunden bis zur Ebbe
»Wie spät ist es?«, fragt Lily.
»Fünf Minuten später, seit du mich das letzte Mal gefragt hast«, erwidert Rose.
»Tatsächlich? Kommt mir viel länger vor.«
Mir auch. Mit gebrochenem Herzen vergeht die Zeit für einen viel langsamer, und ihres ist jetzt bestimmt auch gebrochen. Die Sekunden werden zu Minuten und diese zu Stunden. Es kommt mir so vor, als wäre ich zusammen mit meiner Familie für immer in diesem Haus gefangen.
Lily schüttelt den Kopf. »Gibt es denn nicht doch eine Möglichkeit, Seaglass jetzt schon zu verlassen? Noch drei Stunden hier herumzusitzen und zu warten, dass es auch uns erwischt, treibt mich noch in den Wahnsinn. Mein Wagen steht drüben in den Dünen. Wir könnten zusammen in die Stadt fahren und dort zur Polizei gehen. Hilfe holen. Ich will nicht länger hierbleiben.«
»Keiner von uns will hierbleiben«, sagt Conor.
»Du weißt, dass wir erst wegkommen, wenn Ebbe ist«, sagt Rose. »Jedenfalls ohne Boot.«
Lily läuft jetzt im Zimmer auf und ab. »Können wir uns nicht vielleicht ein Boot bauen ? Es muss hier doch irgendetwas geben, das schwimmt. Wir könnten eine Tür aushängen?«
Rose seufzt. »Hörst du den Sturm da draußen? Hörst du, wie die Brecher im Dunkeln an die Felsen schlagen? Erinnerst du dich, wie gefährlich es selbst bei strahlendem Wetter ist, in der Blacksand Bay zu schwimmen? Schlägst du allen Ernstes vor, dass wir uns auf einer alten Tür hinüberretten? Sollen wir vielleicht Holzlöffel als Paddel benutzen?«
Ich höre einen ungewöhnlich scharfen Unterton heraus. Lily läuft erneut hin und her, und Rose knabbert an ihren Fingernägeln.
»Ich denke, wir sind alle sehr aufgewühlt und erschöpft, aber vielleicht können wir ein bisschen netter zueinander sein? Keinen hier in diesem Zimmer trifft eine Schuld für das, was heute Nacht geschehen ist«, sage ich, und es scheint zu wirken.
»Tut mir leid«, lenkt Rose ein. »Ich weiß, dass du Angst hast, Lily. Das geht uns allen so, aber nach dem, was mit Trixie passiert ist, ist es für dich bestimmt noch schlimmer.«
»Sagtest du nicht, ich wäre einfach nur in der Diele ohnmächtig geworden?«, fragt Trixie.
»Ja, stimmt«, erwidert Rose, als sie ihren Fehler erkennt. »Aber du hast uns allen einen gehörigen Schrecken eingejagt, besonders deiner Mum. Wir müssen einfach noch ein Weilchen ausharren, dann können wir alle hier weg.«
Rose sieht wieder auf die Uhr. Seit ihrer Ankunft gestern Abend tut sie das ständig. Und von Rose kam die Auskunft, Conors Boot sei verschwunden und das Tau, mit dem es an der Mole befestigt war, sei zerschnitten. Meines Wissens ist sie die Einzige, die das Haus verlassen hat. Was ist, wenn sie das Tau gekappt hat? Ich wehre mich dagegen, über die anderen hier im Raum das Schlimmste zu denken, aber ich weiß einfach nicht mehr, wem ich noch trauen kann. Ich bin überzeugt, dass es ihnen nicht anders ergeht.
Trixie zittert. »Wieso ist es immer so kalt hier drinnen?«
»Ich lege noch ein Scheit ins Feuer«, sagt Lily und geht zum Kamin. Sie starrt in den Holzkorb, und ich frage mich, ob sie Angst hat, sich einen ihrer manikürten Fingernägel abzubrechen. »Da ist noch eins«, flüstert sie, ohne sich zu rühren.
»Noch ein was?«, fragt Conor und stellt sich neben sie. Er bückt sich langsam, greift in den Korb und holt eine weitere Videokassette heraus. »Die war eben noch nicht da, das hätte ich gesehen«, sagt er und blickt in die Runde.
»Was steht drauf?«, fragt Rose.
Conor hält das Video hoch, sodass wir alle die Scrabble -Buchstaben an der Hülle sehen können: BEACHTET MICH .
»Ich bin dafür, es zu verbrennen …«, sagt Lily.
»Nein!«, protestiert Rose. »Wenn dieses Band hier nun erklärt, was hinter alledem steckt? Vielleicht werden wir niemals die Wahrheit erfahren, wenn wir es nicht ansehen.«
»Das hast du beim letzten auch schon gesagt«, kontert Lily. »Kapierst du es denn nicht? Jemand versucht hier, uns fertigzumachen, und wenn wir mitspielen, machen wir alles nur noch schlimmer.«
»Ich möchte es anschauen. Es macht Spaß, euch alle zu sehen, wo ihr noch jünger seid«, sagt Trixie.
»Ich sagte Nein!«, schnauzt Lily, und Trixie starrt sie an.
»Sie kann doch nichts dafür«, bemerke ich.
»Ich finde auch, dass wir es uns ansehen sollten«, sagt Rose. »Ich will herausfinden, was hier los ist. Und außerdem, wie sollen wir sonst die Zeit rumbringen?«
Lily sieht sich im Zimmer um und wartet darauf, dass sich jemand auf ihre Seite stellt, aber vergeblich. »Macht doch, was ihr wollt.«
Conor schiebt das Video ein, greift zur Fernbedienung und setzt sich neben Rose in den hinteren Teil des Raums. Ich hocke so wie früher, als Poppins noch ein Welpe war, neben ihr auf dem Boden. Die Gesellschaft von Hunden ist weitaus tröstlicher als die von Menschen.
Das Video fängt mit Nancy im Garten hinter Seaglass an. Es scheint Sommer zu sein, und die Blumen sind noch prächtiger, als ich sie in Erinnerung habe. Ich blicke verstohlen über die Schulter und sehe, wie Trixie und Lily auf den Bildschirm starren. Rose und Conor sitzen jetzt sehr eng beieinander. Sie flüstern – vermutlich aus Rücksicht auf Trixie –, aber ich kann gerade so hören, was sie sagen.
»Wäre das hier ein Krimi, dann wäre der Mörder die am wenigsten verdächtige Person«, sagte Conor.
Ich drehe mich wieder zum Fernseher um, als könnte ich sie nicht hören.
»Du glaubst doch nicht etwa, Daisy …?«, flüstert Rose.
»Nein. Das ist verrückt«, antwortet Conor.
Ich fühle eine merkwürdige Woge der Erleichterung, gefolgt von Wut. Das Geräusch der Wellen, die draußen an die Felsen schlagen, wird in meinem Kopf zusammen mit dem Ticken der Uhren immer lauter. Auch wenn ich ein gebrochenes Herz habe, bin ich durchaus in der Lage, einem anderen Menschen das Herz zu brechen.