Kapitel siebenundzwanzig
Seaglass ~1984
Das Wetter ist in Seaglass von jeher Glückssache, besonders im Sommer. Die Blacksand Bay scheint ihr eigenes Mikroklima zu haben und die Jahreszeiten ungeniert zu ignorieren. Doch meine Familie ist sehr britisch, das heißt, wir achten nicht auf Regen oder Sonnenschein und nehmen es, wie es kommt. Wenn auf dem Kalender stand, dass Sommer war, spielten wir in T-Shirt und kurzer Hose draußen, selbst wenn es geschneit hätte.
Das Video, das wir jetzt auf dem uralten Fernsehapparat sehen, beweist, dass in Seaglass tatsächlich manchmal die Sonne scheint. In dem etwas verwackelten Film erstrahlte ein blauer Himmel über einem saftig grünen Garten. Auf dem Rasen diente ein umgedrehtes Ruderboot als improvisierte Bühne, und ein paar Stühle standen für das Publikum bereit. Hinter dem Haus trat Nancy ins Bild. In ihrer weißen Bluse, dem Rock mit Gürtel und dem Seidentuch um den Hals sah sie atemberaubend aus, so wie Audrey Hepburn in Ein Herz und eine Krone . Sie lächelte. Sie lächelte viel. Ich kann es kaum glauben, sie so zu sehen. Die Kamera ging näher heran und duckte sich hinter eine große Pflanze. Derjenige, der sie hielt, hat unserer Mutter heimlich hinterherspioniert.
Ein Mann erschien neben ihr auf der Terrasse. Auch er lächelte. Zuerst denke ich, es ist mein Dad. Doch als er herangezoomt wird, erkenne ich meinen Irrtum. Es war Conors Vater. Mr. Kennedy hatte Nancy dabei geholfen, den Garten hinter Seaglass von Grund auf neu zu gestalten, indem sie das Vorhandene strukturierten und neue Stauden und einen hübschen Magnolienbaum dazu pflanzten. Sie liebte den Baum und saß oft auf einer Bank darunter. Nana sagte immer, er sei ein Symbol dafür, was Freundschaft und Hoffnung bewirken können. Nancy und Conors Dad setzten sich nebeneinander und rückten ihre Stühle auf dem Rasen ein bisschen zusammen. Ich glaube, zu der Zeit waren sie schon seit etwa einem Jahr »befreundet«.
So wie fast jeden Sommer in Seaglass führten meine Schwestern und ich ein Stück auf, und die leer gebliebenen Stühle wurden von Teddybären und Puppen besetzt. Ich erinnere mich nicht mehr, wann das mit den jährlichen Stücken der Darkers begann. Wie bei den meisten Familientraditionen machten wir es einfach, weil wir es schon immer gemacht hatten.
Jemand hatte Dads Flügel auf den Rasen gerollt. Das hätte ihn ziemlich verärgert – und vielleicht hat meine Mutter es aus genau dem Grund getan. Sie liebte es, uns singen zu hören und tanzen oder spielen zu sehen. Nichts schien ihr mehr Freude zu bereiten. Nancy liebte alles, was mit dem Theater zu tun hatte. Sie half uns immer bei den Kostümen wie auch bei der Choreografie und zeigte von unseren Zuschauern die größte Begeisterung. Wenn Nana und Mr. Kennedy einfach nur klatschten, pfiff sie und rief Bravo . In dem Jahr erlaubten mir meine Schwestern zum ersten Mal, eine Rolle mit Text zu übernehmen. Rose und Conor waren vierzehn, Lily war dreizehn und ich neun.
Im Lauf der Jahre war der Stoff, aus dem die Beziehung zwischen mir und meinen Schwestern bestand, wiederholt überdehnt, zerrissen und geflickt worden. Ein Patchwork aus überlebter Liebe und uralten Lügen, aus Pflichtgefühl und Erwartungen. Man liebt seine Familie eben. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Wenn ich Fotos von anderen Familien sehe, alle mit demselben Lächeln im Gesicht, ertappe ich mich bei der Frage, ob es echt ist. Oder ob das Glück, das sie ausstrahlen, nur eine Maske ist, die sie anderen zuliebe tragen. Bestimmt gibt es in allen Familien Streit und Unstimmigkeiten und Konflikte … Vielleicht waren wir ja viel normaler, als ich dachte. Jeder Mensch hat seine eigene Version der Wahrheit, und selten ist es die ganze und nichts als die Wahrheit.
Wie immer hatten wir in dem Jahr für unser Stück unterschiedliche Motive zu einer eigenen Geschichte gemixt. Natürlich stand 1984 ganz im Zeichen von Star Wars . Lily trat als Prinzessin Leia auf die »Bühne«, ihre Haare waren zu Zöpfen geflochten und über den Ohren zu Schnecken hochgesteckt. Sie stellte sich auf den blauen Bootsrumpf und begann ihren Monolog über eine weit, weit entfernte Galaxis. Bevor sie endete, kam mein neunjähriges Ich zur Küchentür heraus und setzte sich an den Flügel. Ich mied jeden Augenkontakt mit dem Publikum wie auch den anderen Stars – im Vergleich zu meinen Schwestern war ich immer schrecklich schüchtern, bei dieser Gelegenheit vielleicht sogar noch mehr als sonst, weil ich als Gizmo von den Gremlins verkleidet war.
Wir waren eine musikalische Familie, bis wir uns neu arrangieren mussten. Manche Familien kennen wechselseitig sämtliche Texte zu ihren Songs und leben in Harmonie, wir hingegen nicht. Nach der Scheidung meiner Eltern zeigten meine Schwestern wenig Interesse daran, in die Fußstapfen unseres Vaters zu treten. Rose versuchte sich ein bisschen an der Blockflöte, und Lily schaffte es mehr schlecht als recht, mit einem Tambourin den Takt zu halten, während ich schon immer sehr gerne Klavier gespielt habe. Wenn ich nicht an den Flügel durfte, spielte ich mit Fantasietasten auf dem Küchentisch und bewegte die Finger lautlos zu einer Melodie, die nur ich in meinem Kopf hören konnte.
Nana sagte, manchmal hätte ich es auch getan, wenn ich ihre Hand hielt, und manchmal hätten meine Finger sogar noch gezuckt, wenn ich im Bett lag, so als spielte ich im Schlaf Klavier. Mein Dad war überaus stolz und glücklich darüber, dass ich an dem, was er am meisten liebte, Interesse zeigte, und er war auch der wahre Grund dafür, dass ich spielte. Ich kämpfte verzweifelt um seine Zuneigung. Als kleines Mädchen war ich definitiv ein Papakind, nur dass er nie das Idealbild eines Vaters erfüllte, das ich mir insgeheim ausmalte.
Trotzdem war ich überglücklich, als er an jenem Nachmittag im Garten hinter Seaglass erschien. Als er neben Nancy im Publikum Platz nahm, runzelte er die Stirn – damals dachte ich, weil wir seinen geliebten Flügel nach draußen geschafft hatten, dabei hatte es wohl eher mit dem Mann zu tun, der auf der anderen Seite neben meiner Mutter saß. Dad lächelte, als ich zu spielen begann, und belohnte mich damit für all die Stunden, die ich geübt hatte. Rose besaß keinerlei musikalisches Gehör, und Lily hatte so viel Gespür für Takt wie eine Herzrhythmusstörung. Klavierspielen war das Einzige, bei dem ich besser war als meine Schwestern. Mit neun Jahren hatte ich mir das Instrument schon recht gut beigebracht.
Als Nächstes trat die vierzehnjährige Rose auf. Sie war noch so gerade eben jung genug, um an dem Familienstück mitzuwirken, auch wenn sie ihren Freunden in der Schule sicher nichts davon erzählen würde. Rose war als Ghostbuster verkleidet, und für mich war es in dem Jahr bei Weitem das beste selbst gemachte Kostüm. Bei ihrem Auftritt spielte ich ein Stück aus der Titelmelodie des Films, und als ich zweimal einen falschen Ton spielte, fing ich mir wütende Blicke von Lily ein. Ich weiß noch genau, wie mies ich mich deswegen nach tagelangem Üben fühlte.
Die Geschichte, die wir damals zu erzählen versuchten – über eine Prinzessin, einen Kobold und eine Geisterjägerin –, ist mir heute genauso schleierhaft wie damals. Doch als Rose zu singen anfängt, bekomme ich eine Gänsehaut.
Das Bett hast du dir selbst gemacht.
Kannst du deswegen kein Auge zukriegen,
denk dran, manchmal das Gute, manchmal das Böse wird siegen.
Und fühlst du dich einsam und allein,
komm heim zu mir, hier darfst du sein.
Alles wird gut, so spielt das Leben.
So ist das eben.
Der Tod gehört dazu,
und dran bist du.
In der Gegenwart ertappe ich mich dabei, wie ich Rose anstarre. Falls sie es merkt, zeigt sie es nicht, sie konzentriert sich voll auf ihr jüngeres Selbst im Video. Conor und Lily sehen sie jetzt auch von der Seite an. Rose hat früher immer gerne den Text von Kinderreimen ein wenig abgewandelt und sie düsterer gemacht, so ähnlich wie Nana in ihren Kinderbüchern. Oder wie dieses Kreidegedicht an der Küchenwand.
»Wer ist das denn?«, fragt Trixie, und wir wenden uns alle wieder dem Fernseher zu und sehen den vierzehnjährigen Conor in seiner Rolle.
Ihre Frage ist verständlich, denn der erwachsene Mann ist in dem Teenager nicht wiederzuerkennen. Der junge Conor stand auf dem Boot und sang ein Loblied auf die Pressefreiheit. Er war als Karate Kid verkleidet – das war einer unserer Lieblingsfilme in dem Jahr. Er versuchte, auf einem Bein zu balancieren, um dann ziemlich komisch den Kranichtritt nachzuahmen.
Dann war ich an der Reihe, mit meiner ersten und – wegen des Vorfalls danach – letzten Sprechrolle in einem Stück der Darkers. Mein neunjähriges Ich sah verängstigt aus, als es auf das alte Boot trat und in das Publikum aus vier Erwachsenen und diversen Stofftieren und Puppen blickte. Ich ballte die Hände zu Fäusten und kniff die Augen zu, während ich mit dem Lampenfieber kämpfte und versuchte, den Text zu erinnern, den meine Schwestern für mich geschrieben hatten. Ich weiß noch, wie das Gizmo-Kostüm kratzte und mich zum Niesen reizte. Ich fing einen Blick von Nana auf und sah, wie sie mir zulächelte. Du schaffst das , formte sie stumm mit den Lippen. Ihr Glaube an mich siegte über meine eigenen Zweifel.
»Töchter sind wie Gremlins, und drei Regeln darf man nicht brechen«, sagte ich.
»Erstens: Schütze sie vor hellem Licht …«
Conor und Lily hielten mir Taschenlampen ins Gesicht, und Rose warf mir ein weißes Laken über den Kopf. Das war Teil des Plans. In das Tuch waren Löcher geschnitten, durch die ich sehen konnte.
»Zweitens: Füttere sie nie nach Mitternacht«, sagte ich.
Lily warf mit einem Ei nach mir, was nicht einstudiert war, doch da alle lachten, machte ich weiter.
»Drittens: Mach sie nicht nass …«
Lily schüttete einen Eimer kaltes Wasser über mich, was auch nicht abgesprochen war, und ich hatte Mühe, mich an meine letzte Zeile zu erinnern. Ich drehte mich um und zeigte dem Publikum das Gespenstergesicht an der Rückseite des weißen Lakens, unter dem ich steckte.
»Oder sie werden zu Gespenstern!«
Für einen Moment trat Stille ein, dann schlugen Nanas Uhren. Unsere kleine Vorführung muss um zwölf Uhr mittags gewesen sein, weil ihr Geklingel und Geläut gar nicht mehr aufhören wollte. In dem Jahr hatte sie eine neue Uhr in der Form einer Eule dazubekommen. Sowie sich der Zeiger bewegte, verdrehte sie die Augen, als beobachte sie uns.
Als die Uhren verstummten, hielt mir Ghostbuster -Rose ihren Protonenstrahler entgegen und spritzte mich aus einer versteckten Dose mit Sprühsahne voll. Als die Vorführung zu Ende war, fassten wir uns an den Händen und verbeugten uns. Ich sehe im Video, wie unsere Mutter uns allen gratulierte und mir ein Handtuch reichte – also hatte selbst sie gewusst, dass ich nass werden würde. Danach verschwand ich ins Haus.
Die Kamera auf dem Stativ fängt Brocken der Unterhaltung zwischen den Erwachsenen ein, doch ich muss mich ein wenig vorbeugen, um es zu verstehen. Scheinbar haben Conors Dad und mein Dad um Nancys Aufmerksamkeit gekämpft. Meinem Dad, der mehr Freundinnen gehabt hat, als einer von uns zählen konnte, gefiel es offenbar nicht, dass meine Mutter ihrerseits mit jemandem »befreundet« war, obwohl meine Eltern schon seit Jahren geschieden waren. Inzwischen war Bradley Kennedy bis über beide Ohren in meine Mutter verliebt gewesen, und wer die beiden miteinander sah, wusste, dass sie seine Gefühle erwiderte.
»Ich muss morgen in aller Frühe weg, mein Orchester spielt nächste Woche in Paris«, gab Dad an.
»Das klingt großartig«, erwiderte Mr. Kennedy, der von der Aussicht auf die baldige Abreise meines Vaters ehrlich erfreut zu sein schien.
»Bradley hat ein Buch über Trauer und Gärtnern geschrieben«, sagte Nancy zu meinem Dad, als wäre dies eine Art Wettbewerb.
Dad zuckte mit den Schultern. »Klingt … ganz reizend.«
»Finde ich auch. Nana will ihn mit ihrem Agenten bekannt machen«, erwiderte meine Mutter. »Ich habe es gelesen, sein Stil ist sehr schön. Das Buch verdient es, beachtet zu werden«, fügte sie hinzu und strahlte vor Stolz, als hätte sie es selbst geschrieben. Doch ihr Lächeln währte nicht lange.
Im Fernseher ertönt jetzt ein Schrei aus dem Haus, von dem damals wie heute alle zusammenzucken. Der Schrei kam von Lily. Sie hatte mich gerade unter der Treppe auf dem Boden gefunden, immer noch als Gizmo verkleidet, und ich atmete nicht.