Kapitel neunundzwanzig
Seaglass ~1985
»Was ist mit deinem Haar passiert, Mum?«, fragt Trixie.
Es ist eine berechtigte Frage, und »schrecklich« nur eine Möglichkeit, Lilys Achtzigerjahre-Frisur auf der Aufnahme zu beschreiben. Fairerweise muss man einräumen, dass wohl jeder Mensch von mindestens einer seiner Frisuren aus der Vergangenheit Albträume bekommt. Ich schätze mal, wir schreiben das Jahr 1985. Es ist dasselbe Band, aber was wir jetzt zu sehen bekommen, müsste ungefähr ein Jahr nach der Theateraufführung auf dem Rasen entstanden sein. In diesem Video hat Lily kurzes, aber mächtig auftoupiertes Haar, und es steht ihr nicht. Aber es sorgt definitiv dafür, dass sie beachtet wird.
»Ich hatte eine blöde Frisur«, sagt sie nur dazu.
»Es ist schon ein Film in dem Camcorder eingelegt«, sagt die jüngere Version von ihr auf dem Bildschirm, wie ein quengeliges Echo aus der Vergangenheit.
Das Auf und Ab der Machtverhältnisse zwischen meinen Schwestern und mir änderte sich im Lauf der Jahre ständig, doch sogar bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ich einmal die Oberhand hatte, schien Lily auf mich herabzusehen. Rose blühte in dem Alter – äußerlich wie in ihrer Persönlichkeit – auf und wurde zu einer freundlicheren Ausgabe ihres früheren Selbst. Was wir als Nächstes zu sehen bekommen, ist ihr fünfzehnjähriges Lächeln. Sie hat die Kamera von Lily übernommen und auf ihr eigenes Gesicht gerichtet, bevor sie spricht.
»Mein Name ist Rose Darker, Nachrichtenreporterin für Crazy Town …« Sie so glücklich zu sehen, erschreckt mich fast. Ihre Schönheit ist nie verblasst, ihr Glück dagegen schon, und das Lächeln hat Seltenheitswert. »Zugeschaltet ist mir jetzt Mr. Conor Kennedy«, sagte sie mit der tiefen Stimme einer Nachrichtensprecherin. Die Kamera schwenkte zu Conor, der unverkennbar in seiner Michael-J.-Fox-Phase steckte. Wenn ich mich nicht täusche, war in dem Jahr Zurück in die Zukunft in die Kinos gekommen, denn er war genauso angezogen wie Marty McFly. Ich kann mich noch dunkel erinnern, dass er damals von den wissenschaftlichen Theorien über das Zeitreisen ein wenig besessen war und jede Woche für seine Schülerzeitung etwas über das Raum-Zeit-Kontinuum geschrieben hat, bis ihn die Lehrer anflehten, damit aufzuhören. »Erzählen Sie unseren Zuschauern doch bitte, Conor Kennedy, wieso Sie dieses Jahr Lilys Geburtstag mit der Familie Darker feiern, und verraten Sie uns, ob es Ihnen bis jetzt Spaß gemacht hat.«
»Weil ich eingeladen war und dachte, ich könnte bei einem interessanten Sozialexperiment zusehen. So wie immer.«
»War es interessant, weil meine kleine Schwester, Daisy Darker, es heute Nachmittag irgendwie geschafft hat, eine Runde Trivial Pursuit zu gewinnen? Obwohl sie nie zur Schule gegangen ist?«
Mein zehn Jahre altes Ich, das auf der anderen Seite von Conor saß, streckte der Kamera die Zunge heraus. Ich wirkte glücklich. Das galt für uns alle. Inzwischen war ich noch mehr zu einem Bücherwurm geworden und hatte Gefallen daran, mir selbst Sachen beizubringen, die andere nicht zu wissen schienen. Ich erinnere mich genau, wie sehr ich das Bedürfnis hatte, mich unsichtbar zu machen, und Bücher halfen mir dabei. Ich sehnte mich immer danach, in einen Traum von einer Welt zu verschwinden, die weniger kalt und einsam war als mein Leben. Ich las immer mehr und schloss mich stundenlang mit meinen Büchern in mein Zimmer ein. Die meisten davon waren Thriller. Ich träumte davon, eines Tages ein eigenes Buch zu schreiben.
»Oder … haben Sie sich in Wahrheit als Detektiv eingeschleust?«, fragte Rose Conor. »Um das Geheimnis zu lüften, das als … Hairgate für immer in die Geschichte eingehen wird?«
»Das reicht, Rose«, sagte meine Mutter.
In diesem Heimvideo saßen wir alle im Musikzimmer auf unseren jeweiligen handbemalten Stühlen aus der Küche und warteten auf jemanden, der Klavier spielen sollte. Auch wenn wir für den Fall, dass mein problematisches Herz es nicht verkraftete, keine Familienaufführungen auf dem Rasen mehr filmen konnten, hätte sich Lily durch nichts auf der Welt davon abhalten lassen, sich in Szene zu setzen. Sie brauchte Aufmerksamkeit wie die Luft zum Atmen, und da es ihr Geburtstag war, waren wir alle dazu verdammt, ihr zuzusehen und zuzuhören. Belinda Carlisle war in dem Jahr ihr absoluter Favorit. Sie hat mich so oft gezwungen, mir »Heaven Is A Place On Earth« anzuhören, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn das Band durchgescheuert wäre.
Die jugendliche Rose fuhr mit ihrem Familienbericht fort. »Bei mir im Studio ist jetzt Nancy Darker, auch bekannt als meine Mutter, wie sie aber nicht genannt werden will, weil sie sich dann alt fühlt. Niemand weiß, wie alt meine Mutter tatsächlich ist, aber Wissenschaftler sagen, dass sie wahrscheinlich im finsteren Mittelalter geboren wurde. Irgendeine Weisheit aus Ihrem Fundus für die nächste Generation, Mrs. Darker?«
»Ja. Achte darauf, Lily zu filmen, oder sie liegt mir ewig in den Ohren. Für einen Tag hast du uns schon genug Ärger eingebrockt«, sagte Nancy, bevor sie in die Kamera lächelte. Sie saß neben Conors Dad, und die Kamera zoomte an ihre miteinander verschränkten Finger heran, bevor Nancy wieder zur vorderen Hälfte des Raums zurückkehrte.
In dem Moment kam mein Dad durch die Tür, die das Musikzimmer mit der Küche verband. Er setzte sich an den Flügel, als hätte er gerade die Bühne betreten. Seit sich meine Mutter mit anderen Männern traf, gab er sich offenbar mehr Mühe, zu Geburtstagen zu erscheinen oder auch in den Ferien vorbeizukommen. Als Nächste trat Lily ein, und dann folgte Nana, was für die meisten von uns die größte Überraschung war, weil Nana eigentlich schrecklich schüchtern war, was Vorführungen betraf. Sogar bei ihrer eigenen Familie. Genau wie ich.
Dad fing an zu spielen, und ich erkannte auf Anhieb die Melodie aus einem von Lilys Lieblingssongs. »I Know Him So Well« plärrte unablässig hinter ihrer stets verschlossenen Zimmertür. Sie liebte die Version von Elaine Paige und Barbara Dickson, und zwar so sehr, dass sie sowohl Dad beschwatzt hatte, diesen Song zu spielen, als auch Nana, ihn mit ihr zusammen zu singen – als Geburtstagsüberraschung für uns Übrige. Und was für eine! Denn sie waren richtig gut. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Nana singen konnte. Sie trafen jeden Ton und jede Harmonie, und als sie endeten, klatschten wir in aufrichtiger Bewunderung.
Ich weiß noch, wie Lily während der Darbietung die ganze Zeit Conor angestarrt hatte, und als ich die Szene jetzt noch einmal im Video sehe, erkenne ich, dass ich mir das nicht eingebildet hatte. Immer wenn Conor damals das Zimmer betrat, glotzte Lily ihn an, und jedes Mal, wenn er sie ansprach, wurde sie rot – eine der vielen Gründe, weshalb es mir solche Befriedigung brachte, dass sie mit ihrem kurzen Haar so hässlich aussah.
Noch am Abend, bevor diese Szene aus unserer Familienvergangenheit gefilmt wurde, hatte Lilys Haar bis zur Taille gereicht. Sie war in dem Zimmer, das sie sich mit Rose teilte, so wie immer mit zwei langen Zöpfen schlafen gegangen, um nicht mit zerzaustem Haar aufzuwachen. Doch als sie sich am nächsten Morgen, an ihrem vierzehnten Geburtstag, im Bett aufrichtete, schrie sie vor Entsetzen. Ihre zwei Zöpfe lagen auf ihrem Kopfkissen. Jemand hatte sie ihr in der Nacht einfach abgeschnitten. Der Fall war nicht schwer zu lösen: Nanas Küchenschere lag auf Roses Nachttisch. Dabei hatte nicht Rose Lily das angetan, sondern ich.
Die Menschen, die uns am meisten lieben, tun uns am meisten weh, ganz einfach, weil sie es können.
Als ich am Vortag Nana und Lily heimlich bei der Darbietung ihres Songs gesehen hatte, war bei mir eine Sicherung durchgebrannt.
Lily war schon immer der Liebling meiner Mutter.
Rose war Daddys Mädchen, weil sie klug und schön war.
Aber Nana liebte doch mich am meisten. Sie hatte es mir selbst gesagt.
Nana und Lily zusammen singen zu sehen, fühlte sich wie Verrat an.
Lily und ich hatten uns eine Woche zuvor gestritten, und da hatte Nana etwas gesagt, das ich seitdem nie vergessen habe.
»Du solltest immer kämpfen, besonders wenn du zu verlieren glaubst. Dann musst du am härtesten kämpfen.«
Also tat ich es. Ich kämpfte. Nur dass ich es im Stillen tat und mit sorgfältiger Vorbereitung, um nicht erwischt zu werden. Ich klaute mir eine Schlaftablette von meiner Mutter, löste sie in der heißen Schokolade für meine Schwestern auf, bevor wir am Abend zu Bett gingen, und schlich mich nachts in ihr Zimmer, um Lily die Zöpfe abzuschneiden. Alle glaubten, Rose hätte es getan, während sie wieder einmal geschlafwandelt war – sie paukte seit Wochen für die Abschlussprüfungen, war erschöpft und schon einmal nachts im Haus umhergewandert. Ganz offensichtlich glaubte Rose, die kluge Tochter, nicht daran, dass sie es gewesen war. Andererseits fiel ihr auch keine bessere Erklärung ein. Ich weiß nicht, ob Lily ihr die Sache je verziehen oder ihr jemals wieder vertraut hat. Niemand hatte mich im Verdacht. Niemand . Als ob ein guter Mensch nicht fähig wäre, etwas Böses zu tun.
Mit Ausnahme von Nana beachtete mich niemand in meiner Familie. Lily durfte sie nicht auch noch haben, sie gehörte mir. Ich hasste sie für den Versuch, mir die Zuneigung des einzigen Menschen streitig zu machen, der mich wirklich liebte. Und Menschen können Hass zu ihrem Hobby machen. Mit etwas Übung werden sie immer besser.
Als ich Lily und Nana zusammen singen sah, war meine Wut grenzenlos. Und es war nicht nur Eifersucht. Ich wollte Rache für all die schrecklichen, gemeinen Dinge, die Lily im Lauf der Jahre zu mir gesagt oder mir angetan hatte. Meiner Schwester die Haare abzuschneiden, sollte erst der Anfang sein.