Kapitel dreiunddreißig

31. Oktober 2004, 03:30 – keine drei Stunden bis zur Ebbe

»Wir müssen Nancy ins Haus bringen«, sagt Conor. »Wir können sie nicht hier draußen im Regen lassen.«

Mir wird bewusst, dass ich schon wieder in die Vergangenheit abgedriftet bin. Im Moment fühlt sich mein Leben ein bisschen an wie ein Film. Vielleicht ist es nur natürlich, sich in glücklichere Zeiten zurückzuversetzen, wenn die Gegenwart unerträglich ist. Das erinnert mich an etwas, das Nana immer zu sagen pflegte: Wenn du dich in der Gegenwart auf deine Vergangenheit konzentrierst, wirst du nie etwas an deiner Zukunft ändern.

»Wieso tut uns jemand das an?«, fragt Lily erneut, und Rose ist die Einzige, die ihr antwortet.

»Wir müssen nur noch die paar Stunden bis zur Ebbe durchhalten. Du und Trixie, euch wird nichts passieren. Hörst du?« Lilys Blick ist noch leerer als sonst. »Lily, hörst du mich? Wann hast du dich das letzte Mal gespritzt?« Sie bekommt immer noch keine Antwort. »Tu mir den Gefallen und geh rein. Finde deine Diabetestasche und miss deinen Blutzucker. Bei Ebbe müssen wir alle fit sein, um hier wegzukommen.«

»Okay«, sagt Lily. Sie sieht aus wie jemand, dem der Stecker gezogen wurde und der nur noch mit dem letzten Flackern des Akkus funktioniert. »Könnt ihr ein paar Minuten warten, bis ihr Nancy ins Haus bringt? Ich will nicht, dass Trixie sie so sieht. Sie hat heute Nacht wahrlich schon genug gesehen, was sie nicht sehen sollte. Ich bringe sie ins Wohnzimmer zurück und behalte sie dort, bis ihr hier fertig seid.«

Rose nickt, und Lily geht zur Tür, an der Trixie wartet. Dann sieht Rose auf das kleine Bouquet, das Nancy an die Hand gebunden ist. »Manchmal denke ich, unsere Mutter hat uns alle nach Blumen benannt, weil sie sich gewünscht hat, wir wären welche. Die kann man leichter pflücken, zurechtstutzen und zu Sträußen arrangieren als Töchter.«

Ich bin offenbar nicht die Einzige, die diese Bemerkung unter den gegebenen Umständen unpassend findet, denn auch Conor sieht sie verständnislos an.

»Wir müssen sie ins Haus schaffen«, wiederholt er.

»Bist du dir da sicher?«, fragt Rose, und Conor wirkt ein bisschen schockiert. »Sollten wir nicht versuchen, die Beweislage für die Polizei zu erhalten? Würde ein Kriminalreporter das nicht sagen? Wahrscheinlich gibt dir das alles hier so etwas wie einen kranken Kick. Wetten, du kannst es kaum erwarten, in deiner Redaktion anzurufen? Vielleicht wirkt sich das hier ja förderlich auf deine Karriere aus?«

»Ich weiß, wie schockierend das alles für dich ist, aber ich kann nichts dafür«, sagt er.

»Ach ja?«, kontert Rose. Sie sieht ihn lange an und zuckt schließlich mit den Schultern. »Na schön, tragen wir sie rein. Sie ist tot. Was kann man da noch schlimmer machen? Und wo sollen wir sie deiner Meinung nach am besten hinbringen?«

So wie sie sich anstarren, habe ich das Gefühl, von etwas Zeuge zu werden, das ich nicht ganz durchschaue.

»Am besten zu den anderen, oder?«, schlägt Conor vor.

Rose antwortet nicht gleich. Eine böse Vorahnung ist die Mutter der Fehler, die wir machen, denn sie versucht, uns zu warnen, bevor wir sie begehen, aber wir hören nicht immer auf unsere Mütter.

»Ist wohl das Beste«, sagt Rose schließlich, aber sie klingt wenig überzeugt. Nun fängt sie an zu weinen. »Sie können dort alle zusammen bleiben, bis die Polizei kommt, aber wir müssen sie nicht sehen. Ich fass hier an, du da«, sagt sie zu Conor, und mit eingezogenen Köpfen gehen wir durch den Regen zurück zum Haus.

Das Gewicht meiner Mutter scheint sie aufzuhalten, was mich verwundert, und sie fallen zurück. Ich höre sie wieder miteinander flüstern, doch was sie sagen, wird vom Wind und den Wellen übertönt.

Etwas ist anders, als ich die Küche betrete, und ich brauche einen Moment, um zu merken, was es ist. Die schlammigen Fußspuren sind weggewischt. Lily sieht das ganz und gar nicht ähnlich, denn sie ist der unordentlichste Mensch, den ich kenne, und wenn man ihr einen Wischmopp in die Hand drücken würde, wäre ich mir nicht sicher, ob sie das eine Ende vom anderen unterscheiden könnte. Vielleicht versucht sie aber auch nur, Trixie zu schützen, egal wie und womit. Ich höre die beiden leise im Wohnzimmer miteinander reden.

Rose erscheint hinter mir in der Küchentür. Sie hält die Füße meiner Mutter, und Conor hat Nancy unter den Armen gepackt. Sie triefen vom Regen, und ich habe das Gefühl, ihnen nicht genug zu helfen. Als sie sich auf dem Weg zum Treppenverschlag an mir vorbeiquälen, trete ich zurück. Wir bemühen uns alle, Dads und Nanas Leichen zu ignorieren, als Rose und Conor Nancy neben ihnen ablegen. Als Conors Hand versehentlich Roses Finger streift, zuckt sie zurück, als hätte er sie verbrannt.

»Rose, ich … ich wollte nur sagen, wie leid mir das alles tut.«

»Was?«

»Alles«, sagt Conor, und sie sieht ihn mit finsterer Miene an. »Ich meine nur, ich weiß, wie es ist, seine Eltern zu verlieren, und es ist in Ordnung … wütend zu sein.«

»Das hier ist nicht dasselbe wie das, was in deiner Familie passiert ist«, antwortet sie, und Conor sieht aus, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst.

Wir konnten letztlich nie sicher sagen, ob Conors Dad wieder mit dem Trinken angefangen hat, weil er glaubte, meine Eltern wären wieder zusammen. Der Baum, der im Westeuropa-Orkan von 1987 auf das Auto meines Dads gestürzt ist, hat mehr Schaden angerichtet, als alle anfangs ahnten. Dad blieb mehrere Monate in Seaglass, bis er wieder genesen war, und genauso lange hielt sich Mr. Kennedy fern. Zwar sprach Nancy am Telefon mit ihm, doch als wir ihn das nächste Mal zu Gesicht bekamen, war er ein anderer als der Mann, den wir zu kennen glaubten. Eines Tages erschien er uneingeladen und unerwartet in Seaglass und verlangte, Conor zu sehen. Wir alle hörten, was er sagte.

»Das hier ist nicht deine Familie. Ich bin deine Familie, und ich will nicht, dass du länger hierherkommst.«

Ich war noch zu jung, um zu verstehen, dass er betrunken war. Erst hinterher fanden wir heraus, dass er seinen Gärtnerjob beim National Trust verloren hatte. Es dauerte nicht lange, und Conor lief wieder regelmäßig von zu Hause weg, um zu jeder Tages- und Nachtzeit in Seaglass aufzutauchen. Doch inzwischen war er siebzehn und konnte sich wehren. Nancy beendete ihre Beziehung mit Mr. Kennedy, und ich glaube, alles, was danach passierte, brach ihr endgültig das Herz – oder was noch davon übrig war. Wenige Monate später ging Conor ganz von zu Hause weg, und wir sahen seinen Vater nie wieder.

»Sind das deine Stiefel?«, fragt Rose und sieht dabei zur Haustür.

Conor und ich folgen beide ihrem Blick zu einem Paar großer, dreckverschmierter Männerstiefel in der Diele. Ich bin mir sicher, dass sie eben noch nicht da waren.

Er schüttelt den Kopf. »Nein.«

Wir drei treten näher heran und sehen, dass Erde an den Sohlen klebt und dass diese sich bewegt. Die Stiefel wimmeln von Würmern.