Kapitel sechsunddreißig
31. Oktober 2004, 03:55 – keine drei Stunden bis zur Ebbe
»Vielleicht sollten wir an der Stelle abbrechen«, sagt Rose in einem Ton, der ihr gar nicht ähnlich sieht. Auch sie weiß, was in jener Nacht passiert ist. Genauso wie Conor.
»Ganz meine Meinung. Heute Nacht sind mehrere Mitglieder dieser Familie gestorben, das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Heimvideos«, sagt er. Doch das ist nicht der wahre Grund, weshalb Conor es nicht sehen will.
Ich ignoriere beide, gehe zum Tisch hinüber und schaue mir das Scrabble -Brett genauer an, das Nanas Agent ihr in jenem Jahr geschenkt hat. Als ich sehe, was dort ausgelegt ist, wird mir eiskalt.
Jemand hatte unsere Namen gelegt.
»Warst du das?«, frage ich Trixie, und sie stellt sich neben mich. Wir sind mittlerweile die einzigen zwei, die hin und wieder noch Scrabble spielen. Rose kommt dazu und betrachtet stirnrunzelnd das Brett.
»Warst du das?«, fragt auch sie unsere Nichte. »Es ist wirklich wichtig, dass du die Wahrheit sagst.«
Trixie schüttelt den Kopf und sieht uns beide mit großen Kulleraugen an.
Rose fängt wieder an, im Zimmer auf und ab zu laufen. »Was sollen Nanas Agent und die Scrabble -Steine mit alldem hier zu tun haben? Auch wenn das Scrabble -Spiel von ihm kam … aber irgendjemand hat die Steine auf die Hüllen unserer alten Videos geklebt. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Was sollte er damit zu schaffen haben? Nana hat ihren Agenten geliebt.«
»Vielleicht weil sie nach dem, was 1988 passiert ist, keine Bücher mehr schreiben konnte?«, meint Conor und starrt zu Boden. »Danach hat sie nie wieder was veröffentlicht. Wenn nun er gestern Nacht ihr Atelier auf den Kopf gestellt hat, auf der Suche nach ihrem letzten Buch? Wenn ein Autor nicht mehr schreiben kann, muss das auch für den Agenten schlimm sein, oder? Schließlich war sie seine beste Klientin.«
»Eine Zeit lang war sie seine erste und einzige, soweit ich weiß«, sage ich bei der Erinnerung daran, wie sehr ich den Mann mochte.
Rose schüttelt den Kopf. »Irgendwas übersehen wir hier.«
Sie dreht sich zu Lily um, als erhoffe sie sich die Antwort von ihr. Doch Lily kehrt uns allen weiterhin den Rücken zu und starrt wie hypnotisiert auf den Bildschirm. Im Moment ist dort nur ein nächtliches Lagerfeuer an einem Strand zu sehen. Auch im Kamin knistert das Feuer wieder und sprüht Funken. Auf den Scheiten entdecke ich etwas, das wie ein brennendes Stuhlbein aussieht. Es ist blau angemalt mit weißen Wolken darauf. Als ich zu Conor hinüberblicke, sehe ich, wie eine Sekunde lang ein Lächeln um seine Lippen spielt, bevor er wieder ernst wird. Doch das hat nichts zu sagen. Manchmal wissen unsere Gesichter einfach nicht, was sie machen sollen, wenn wir Angst haben.
Als ich wieder auf den Bildschirm blicke, ist mir klar, dass zwischen Nanas Geburtstagsessen und dem Lagerfeuer am Strand etwas in dem Video fehlt – und zwar weil Lily zu der Zeit definitiv nicht die Kamera gehalten hat. Unglücklicherweise kann ich die Lücken aus dem Gedächtnis füllen.