Kapitel neununddreißig
31. Oktober 2004, 04:00 Uhr – zwei Stunden bis zur Ebbe
Die Uhren draußen in der Eingangsdiele schlagen vier, und niemand sagt ein Wort. Meine Erinnerungen an jene Nacht sind nicht auf dem Bildschirm zu sehen. In dem Video sind nur ein paar Teenager festgehalten, die im Jahr 1988 um ein Lagerfeuer am Strand sitzen. Aber es ist eine Nacht, die meine beiden Schwestern, Conor und ich lieber vergessen würden. Wir haben nie wirklich darüber gesprochen, was passiert ist, nachdem ich Conor und Lily zusammen erwischt hatte. Und keiner von ihnen hat mir je vergeben, was als Nächstes passierte, auch wenn ich nichts dafürkonnte.
»Ich will das nicht sehen«, sagt Conor. Er geht zum Videorekorder und holt die Kassette heraus. »Es sind nur noch zwei Stunden, bis wir hier wegkönnen – noch weniger, wenn es uns nichts ausmacht, nasse Füße zu bekommen. Ich wäre also dafür, einfach hier in Ruhe zu sitzen und abzuwarten. Kein Heimkino mehr. Keine weiteren Ausflüge in die traurige Vergangenheit der Familie Darker.«
Er geht zum Kamin und wirft die Videokassette ins Feuer. Als sie nicht sofort brennt, legt er noch ein Scheit auf. Doch es ist kein Brennholz, das er in der Hand hält, sondern ein weiteres himmelblaues Stuhlbein mit weißen Wolken darauf. Jemand hat den Stuhl zerlegt, den Nana einst für Conor angemalt hat, und die Reste als Brennmaterial bereitgelegt. Er dreht sich um und starrt uns alle an.
»Ich habe keine Ahnung, wer von euch für das alles verantwortlich ist, aber ich spiele nicht länger mit. Es ist krank, was hier heute Nacht passiert, einfach nur krank. Bis hierher und nicht weiter.«
»Wie kommst du darauf, dass du hier das Sagen hast?«, fragt Rose.
»Einer muss es ja tun. Schon Trixie zuliebe. Oder wie soll das arme Kind in dieser Familie erwachsen werden? Ich würde Lily keine großen Chancen einräumen, jemals zur Mutter des Jahres gekürt zu werden.«
Ich bin von Conors Ausbruch schockiert, und wie’s aussieht, bin ich nicht die Einzige. Vor allem aber verblüfft es mich, dass Lily nicht reagiert. Es passt einfach nicht zu ihr, den Mund zu halten. Sie starrt immer noch auf den Fernsehbildschirm, obwohl da nichts mehr zu sehen ist. Auch Rose findet das seltsam.
»Lily?«, sagt sie.
Trixie, die neben mir gesessen hat, geht zu Lily hinüber und tippt sie sacht auf die Schulter. »Mum?«
Lilys Kopf sinkt herab, als wäre sie eingeschlafen. Dabei dreht sich ihr Gesicht in einem unnatürlichen Winkel in unsere Richtung, und sie sieht ein wenig blass aus, wie ein Aquarell von ihr, bei dem der Künstler auf halbem Wege die Lust verloren oder die Farben verwässert hat.
»Lily!«, brüllt Rose, als unsere Schwester seitlich aufs Sofa kippt. Sie schubst Trixie aus dem Weg und beugt sich über ihre Schwester, um ihre Vitalzeichen zu überprüfen. »Mein Gott! Sie atmet nicht.«
»Mum?«, kreischt Trixie und versucht, näher heranzukommen.
Im Nu wird es im Raum sehr laut.
»Untersteh dich, vor meiner Nase zu sterben!«, brüllt Rose und beginnt mit Wiederbelebungsmaßnahmen.
Als ob die Worte in Trixies Kopf detonieren, hält sie sich die Ohren zu, und Conor zieht sie weg.
»Da sind komische Flecken an Lilys Hals«, sage ich, um mich irgendwie nützlich zu machen.
»Sind das Blutergüsse?«, fragt Conor, der sie ebenfalls bemerkt.
Rose schüttelt den Kopf. »Nein. Sieht mir eher nach … Verbrennungen aus. Komm schon, Lily. Falls du mich hören kannst: Du musst unbedingt atmen.«
Wir Übrigen sehen ihr mit stummem Entsetzen dabei zu, wie sie ihre Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung fortsetzt. Trixie weint, ich auch, und während ich meine Nichte zu trösten versuche, kann ich nicht begreifen, was da gerade vor meinen Augen passiert.
Schließlich hört Rose auf und schüttelt den Kopf. »Es ist zu spät«, flüstert sie, und ihr laufen die Tränen übers Gesicht. »Sie ist tot.«
»Bist du sicher?«, fragt Conor.
»Natürlich bin ich sicher, verflucht noch mal.«
Wir alle starren schweigend auf Lily, während das Feuer knistert und die Videokassette von jener schrecklichen Nacht verbrennt. Rose nimmt eine Wolldecke vom Sofa und bedeckt damit Lilys Leichnam. Obwohl sie mit Sicherheit keinem von uns entgangen sind, verliert niemand ein Wort über die zwei Gegenstände, die ihr an die Hände gebunden und immer noch zu sehen sind. Wir waren mit ihr im selben Zimmer und haben nichts bemerkt.
In einer Hand hält Lily einen Handspiegel und in der anderen eine Flasche Parfum – beide mit roten Schleifen festgebunden.