Kapitel vierzig

3 1. Oktober 2004, 04:10 – keine zwei Stunden bis zur Ebbe

»Vielleicht war irgendein Gift in ihrem Parfum«, sagt Rose.

»Wie bitte?«, fragt Conor. »Wie kommst du denn darauf? Und sprichst es auch noch aus?«

»Schon seit Jahrhunderten bringen sich Leute mit Parfum um. Jeder in dieser Familie weiß, dass sich Lily ständig damit einnebelt. Sieh dir diese Flecken an ihrem Hals und an ihren Handgelenken an … und die Parfumflasche wurde an ihre Hand gebunden. Man muss nicht Poirot sein, um darauf zu kommen.«

»Aber was kann man in eine Parfumflasche geben, um sie damit zu töten?«, fragt Conor in einem Ton, als ob er Rose beschuldigte.

»Keine Ahnung, ich bin Tierärztin, keine Chemikerin. Meine Schwester ist gerade gestorben. Jemand bringt meine ganze Familie um. Hör auf, mir dämliche Fragen zu stellen!«, sagt sie.

Conor verzieht das Gesicht und gibt nach. »Tut mir leid.«

Rose antwortet nicht. Für mich stand schon immer fest, dass man einen Menschen am besten kennenlernt, indem man ihm zuhört. Man muss nicht nur auf das hören, was er sagt, sondern auch auf das, was er nicht sagt. In den kleinen Satzpausen verstecken sich alle möglichen kleinen oder auch größeren Geheimnisse. In unserer lauten Welt gerät die schlichte Kunst des Zuhörens immer mehr in Vergessenheit. Ich glaube, Conor hat Rose nie wirklich vergeben, dass sie nach dem, was in jener Nacht passiert ist, mit ihm Schluss gemacht hat, und ich glaube, sie hat ihm nie vergeben, was er damals getan hat.

Ich meine nicht, dass er mit Lily geschlafen hat.

»Ich sagte, es tut mir leid«, wiederholt Conor, und Rose geht auf ihn los.

»Ach ja? Welcher Teil genau? Und wieso bist du überhaupt hier? Außer Nana hat niemand in dieser Familie seit Jahren auch nur ein Wort mit dir gesprochen. Offenbar hatte Nana immer noch etwas für dich übrig, wir anderen aber nicht. Für mich warst du gestorben, für uns alle. Wenn jemand blöd genug ist, dich gern zu haben, passieren schlimme Dinge. Du hättest nicht kommen sollen!« Rose beugt sich über Lilys Leiche und drückt sie an sich, bevor sie erneut losheult. »Du hättest nicht kommen sollen«, wiederholt sie und lässt ihren Tränen freien Lauf.

Ganz offensichtlich haben beide das Kind im Raum vergessen, das gerade seine Mutter verloren hat. Trixie zittert und schluchzt so heftig, dass sie kaum Luft bekommt. Ich tue mein Bestes, um sie zu trösten.

»Ich denke, derjenige, der diese Familie einen nach dem anderen umbringt, befindet sich in diesem Zimmer«, sagt Conor und sieht Rose dabei an. »Eine andere Möglichkeit sehe ich jetzt nicht mehr.«

»Ach, was du nicht sagst!«, kontert sie. »Und wer bitte schön sollte es gewesen sein? Etwa ich?«

»Wer sonst? Oder glaubst du, es war ein fünfzehnjähriges Kind? Vielleicht hat ja auch die liebe kleine Daisy beschlossen, sich endlich für das zu rächen, was in der Nacht damals passiert ist«, sagt Conor, und ich habe ihn noch nie so aufgewühlt gesehen.

Ich ignoriere sie beide, weil es im Moment wichtiger ist, mich um Trixie zu kümmern, als mir ihre wechselseitigen kindischen Beschuldigungen anzuhören.

»Ist ja gut«, sage ich zu meiner Nichte, die sich immer noch die Ohren zuhält.

Ich habe keine Ahnung, wie es jetzt für Trixie weitergehen soll – bei wem sie leben und wer sich um sie kümmern wird –, aber ich bin entschlossen, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um sie zu beschützen. Niemand von uns weiß, wer Trixies Vater ist. Lily hat es uns nie verraten, und manchmal frage ich mich, ob es daran liegt, dass sie es selbst nicht weiß.

»Dir passiert nichts. Komm, setz dich zu mir«, sage ich, was Trixie auch tut. »Ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert, versprochen.«

Sie nickt, ohne aufzusehen. Wahrscheinlich glaubt sie mir nicht. Nach allem, was heute Nacht geschehen ist, frage ich mich selbst, ob ich mein Versprechen halten kann, und ich mag mir kaum vorstellen, was es langfristig mit einem Kind macht, all diesen Horror mit anzusehen. Während Rose und Conor sich weiter Vorwürfe an den Kopf knallen, legt Trixie die Arme um ihre Knie und schließt die Augen, doch ich kann trotzdem sehen, wie ihr die Tränen herunterlaufen.

Ich werfe einen Blick auf das Scrabble -Brett hinter uns, auf dem unsere Namen miteinander verbunden sind, so wie alle Familien im echten Leben – selbst wenn sie wünschten, es wäre nicht so.

»Ich stimme dir zu«, sagt Rose zu Conor. »Ich glaube auch, dass derjenige, der das getan hat, in diesem Raum sein muss. Eine andere Möglichkeit gibt es jetzt nicht mehr. Und ich wette, du warst es.«

»Ich?«, antwortet Conor. »Wie in aller Welt kommst du darauf?«

»All die schrecklichen Dinge, die passiert sind, haben erst angefangen, nachdem du eingetroffen bist – unerwartet und allein, mitten in der Nacht. Angeblich mit dem Boot, das nur leider keiner von uns zu Gesicht bekommen hat. Du hättest schon die ganze Zeit hier sein und auf uns warten können, und auf die Flut, sodass wir hier festsitzen. Wenn in diesem Moment einer verdächtig ist, dann bist du es.«

Er kommt nicht dazu, etwas zu erwidern, da über uns eine Diele knarrt.

Alle erstarren und blicken mit weit aufgerissenen Augen in die Runde, als wir in dem Raum über uns Schritte hören. Sogar Trixie hört zu weinen auf und späht stumm zur Decke. Ich kann nicht einmal die Uhren in der Diele hören. Die Zeit scheint für eine Weile stillzustehen und höflich zu warten, bis wir sie eingeholt haben. Rose, Conor, Trixie und ich sehen einander mit entgeisterten Mienen an, während wir versuchen, darauf zu kommen, wer da oben ist.