Kapitel einundvierzig
3 1. Oktober 2004, 04:15 – keine zwei Stunden bis zur Ebbe
»Wir müssen aus diesem Haus raus und von der Insel verschwinden«, flüstert Rose.
»Und wie? Willst du bis zur Küste schwimmen?«, flüstert Conor zurück.
»Wenn es sein muss. Es ist also doch noch jemand anders hier in Seaglass. Wir haben ihn gerade oben herumlaufen hören! Ich habe jedenfalls nicht die Absicht, nur darauf zu warten, dass der Nächste von uns stirbt.«
Jetzt ist es oben wieder still, als hätten wir uns die Schritte nur eingebildet.
»Vielleicht war das wieder Poppins? Schließlich hat sie uns in dieser Nacht schon einmal einen Schrecken eingejagt«, sage ich.
Als sie ihren Namen hört, kommt Poppins hinter dem Sofa hervor, wo sie gerne schläft. Sie blickt in meine Richtung und wedelt mit dem Schwanz. Die Hündin liebt mich, trotz allem, was passiert ist, bis auf den heutigen Tag. Tiere können nicht hassen oder nachtragend sein.
»Wenigstens haben wir eine Schusswaffe zu unserer Verteidigung«, sagt Conor.
»Stimmt«, sage ich, doch Rose wird kreidebleich.
»Was ist?«, fragt Conor.
Rose schüttelt den Kopf. »Ich … ich hab die Pistole in der Bibliothek gelassen, als ich mir was Trockenes angezogen habe. Ich hatte sie in der Jackentasche. Sie ist nicht hier.«
»Na toll«, murmelt Conor.
»Ich hab sie auf den Stuhl gelegt und dann meine nassen Sachen ausgezogen. Ich muss sie daraufgelegt und dann einfach … einfach vergessen haben. Du hast an die Tür geklopft, als ich noch nicht ganz fertig war, und mich abgelenkt.«
»Mein Fehler, natürlich«, sagt Conor.
»Jedenfalls sollten wir schleunigst von hier verschwinden. Wenn wir in diesem Zimmer bleiben, sind wir leichte Beute. Nanas Bibliothek ist kleiner und sicherer. Wir können uns da einschließen, und ich kann die Pistole wieder an mich nehmen. Wir müssen hier raus. Alle. Jetzt«, sagt Rose.
Sie zieht den Generalschlüssel aus der Tasche und schließt die kleine Tür auf, die das Wohnzimmer mit der Bibliothek verbindet. Alle Räume im Erdgeschoss haben diese Verbindungstüren, die Lily damals samt und sonders geöffnet hat, um – Runde um Runde – mit ihren Rollschuhen durchs Haus zu sausen. Doch ich kann mich nicht erinnern, seit unserer Kindheit auch nur eine dieser Verbindungstüren offen gesehen zu haben. Ich staune nur darüber, wie Rose noch so schnell und klar denken und so umsichtig handeln kann.
»Vielleicht weiß derjenige, der da draußen rumläuft, ja nichts von diesen Türen«, flüstert sie.
»Oder vielleicht doch«, erwidert Conor. »Es muss jemand sein, der sich hier verdammt gut auskennt. Wie sollte er sonst die ganze Nacht in Seaglass herumschleichen, ohne einmal gesehen zu werden?«
Wir bleiben alle einen Moment stehen, als bekämen wir unsere Gedanken nur zu fassen, wenn wir stillhalten.
»Im Sturm wären die Geräusche von jemandem, der im Haus herumschleicht, sicher untergegangen. Und wer soll das sein? Nana hat doch äußerst zurückgezogen gelebt«, flüstere ich.
Rose nickt. »Soweit ich mich erinnere, hat Nana viele Jahre lang nur die Leute eingeladen, die für sie zur Familie gehörten.«
»Was ist mit ihrem Agenten?«, fragt Conor.
»Die Scrabble -Verbindung …«, denkt Rose laut nach. »Wieso meinst du, dass ein Mann hinter alldem steckt?«
»Wegen deines Dads. Frank war ein großer, kräftig gebauter Kerl … Seine Leiche vom Musikzimmer in die Besenkammer zu schleifen kann nicht so einfach gewesen sein. Ich glaube, selbst ich hätte damit Mühe gehabt. Schon vergessen, wie schwer es war, Nancy ins Haus zu tragen? Und die war ein Fliegengewicht.«
»Du hast einen ziemlich morbiden Sinn für Logik«, sagt Rose. »Ich weiß, du hast eine Theorie über Nanas Agenten, aber vergiss nicht, dass sie seit Jahren kein neues Buch mehr geschrieben hat. Ich weiß nicht mal, ob sie überhaupt noch in Kontakt sind.«
»Er war gestern hier. Ich habe seine Karte in seinem Fach neben der Stechuhr gesehen. Entweder hat er vergessen, sich auszustempeln, oder er ist nie gegangen«, flüstere ich und wünschte mir, ich hätte es früher erwähnt. Ich bin ihm nur dieses eine Mal begegnet und fand ihn überaus liebenswürdig.
In der Etage über uns sind erneut die Schritte zu hören, und entsetzt sehen wir alle auf.
»Schnell, macht schon, in die Bibliothek«, sagt Rose. »Du auch, Poppins«, fügt sie hinzu, und der alte Hund steht auf und trottet hinter uns her.
Kaum sind wir alle drinnen, schließt Rose die Türen ab und sperrt uns in dem kleinen Raum ein. Conor fängt an, auf und ab zu laufen. und Trixie steht allein am Fenster in der Ecke. Sie sieht so klein aus in ihrem rosa Pyjama. Trixie mag fünfzehn Jahre alt sein, aber sie ist immer noch ein Kind, das gerade seine Mutter verloren hat. Ich eile zu ihr, doch sie nimmt kaum Notiz davon, und ich bezweifle, dass sie je über das alles hier hinwegkommen wird. Vermutlich wird das keiner von uns.
Rose macht sich daran, ihre Sachen in ihre Tasche zu werfen, und trifft dabei beinahe Poppins mit einem nassen Pullover. Dann hält sie ruckartig inne.
»Was hast du?«, frage ich. Sie dreht sich zu uns allen um. »Meine Pistole war eben noch hier auf diesem Stuhl.«
»Und?«, fragt Conor.
»Und jetzt ist sie weg.«