Kapitel zweiundvierzig

31. Oktober 2004, 04:20 – keine zwei Stunden bis zur Ebbe

»Mit anderen Worten: Der Killer hat jetzt eine Pistole?«, flüstert Conor.

»Gut möglich«, antwortet Rose.

»Na großartig. Und was nun?«, fragt er. Sie zuckt mit den Achseln. »Wir verbarrikadieren uns hier drinnen und warten?«

»Warten auf was? Wir haben keine Möglichkeit, Hilfe zu holen. Es wird niemand kommen, um uns zu retten!«, sage ich und bin allmählich so hysterisch, wie ich klinge.

Rose ignoriert mich und vergewissert sich noch einmal, dass alle drei Türen der Bibliothek abgeschlossen sind – die zum Wohnzimmer, die zum Musikzimmer und die Haupttür zum Flur.

Trixie wirkt erschöpft und ein wenig weggetreten. Sie hat die Augen halb geschlossen. Ich rufe mir wieder ins Gedächtnis, dass ihr Schlaftabletten verabreicht und Insulin gespritzt wurde und dass sie in dieser Nacht Zeuge wurde, wie jemand ihre Mutter, ihre Großeltern und ihre Urgroßmutter ermordet hat. Es ist erstaunlich, dass sie so lange durchgehalten hat. Doch jetzt bekommt sie weiche Knie, ihr knicken die Beine ein, und sie sackt an der Wand herunter, bevor ich sie auffangen kann. Ich setze mich neben sie auf den Boden und will ihre Hand nehmen, doch Trixie zieht sie weg. Sie ballt die Fäuste und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich an ihrer Stelle würde wahrscheinlich auch niemandem mehr trauen, der noch übrig ist.

An drei von vier Wänden in der Bibliothek sind die Regale vollgestopft mit Nanas Büchern, doch die am hinteren Ende, die mit dem alten Schiebefenster, nannte sie immer ihre »Ruhmeswand«. Mich beschleicht der Verdacht, dass Rose nur deshalb an diesem Wochenende hier schlafen wollte, weil die meisten Trophäen von ihren Ruhmestaten künden. Dort hängt ein Foto von Rose – der Intelligenten – mit einem Preis, den sie an der Schule bekommen hat, neben anderen Preisen und Auszeichnungen für die beste dies und die beste das, und nicht zuletzt ein Foto von ihr mit Doktorhut und Talar an der Uni Cambridge. Nana ist auf Rose immer so stolz gewesen, weil sie studiert und ihre Träume verwirklicht hat. Ganz im Unterschied zu Lily, die sie als unambitioniert beschrieb. Wie sollen deine Träume wahr werden, wenn du keine hast?, fragte sie oft. Trotzdem hat sie einen Zeitungsausschnitt gerahmt und an die Wand gehängt, der berichtet, dass Lily mit zehn Jahren einen Schönheitswettbewerb gewonnen hat – vielleicht nur, um meine Mutter glücklich zu machen. Es ist wichtig, die kleinen Erfolge im Leben zu feiern. Wie die meisten Dinge müssen sie ans Licht, damit etwas Größeres daraus erwachsen kann.

Dann hängt da noch ein gerahmtes Foto von Dad, wie er in der Royal Albert Hall in London sein Orchester dirigiert. Daneben ist ein Kinderfoto von mir, auf dem ich im Musikzimmer hier in Seaglass neben meinem Vater sitze. Ich halte meine Urkunde zur Klavierstufe fünf hoch, und wir grinsen beide übers ganze Gesicht. Auch ein Gedicht, das ich mit elf geschrieben habe, hat Nana eingerahmt, vielleicht weil Schreiben ihre Leidenschaft war und sie sich heimlich wünschte, dass jemand in der Familie in ihre Fußstapfen tritt.

Was ich über Leute denke,

die trinken und ohne Bedenken

andere Leute kränken,

die sich zwar nicht beklagen,

aber irgendwann fragen,

was sie in dem Tod, den wir als Leben verstehen,

noch Lebenswertes sehen.

Wer so gern klatscht und tratscht

und anderen Angst einjagt,

der nehme sich in Acht.

Das Gerede fällt mit Macht

auf einen zurück, dass es kracht.

Denn wer sich so bettet,

darauf sei gewettet,

der schaufelt sich das eigene Grab,

auch wenn er’s nicht glauben mag.

Zugegeben, es ist ziemlich düster, andererseits war ich damals ein Kind, das mit einem Todesurteil leben musste. Vielleicht hätte ich ein sonnigeres Gemüt gehabt, hätte ich damals gewusst, dass ich heute immer noch da bin.

Aber ich wusste nicht, dass ich in einer Familie von Lügnern lebte.

Meine Mutter belog mich – wie alle anderen auch – darüber, wie lange ich noch zu leben hätte. Der Arzt, der sie im Krankenhaus zum Weinen gebracht hatte, hatte ihr keine schlechte Nachricht über meine Lebenserwartung mitgeteilt. Das Gegenteil war der Fall. Dank des medizinischen Fortschritts ging dieser Arzt davon aus, dass ich noch viel länger leben konnte, als alle bis dahin geglaubt hatten. Und er hatte recht. Mein Todesurteil war dank der Wissenschaft praktisch aufgehoben. Ich brauchte nur noch eine weitere, eine letzte OP . Aber das hat mir meine Mutter damals nicht erzählt. Anfänglich hat sie es niemandem erzählt. Und sie hat auch die Einverständniserklärung nicht unterschrieben. Es war, als wollte sie mich für immer mit gebrochenem Herzen sehen.

Einige Geheimnisse sollte man wirklich für sich behalten.

Mehr Ruhmestaten von mir sucht man vergeblich an der Wand. Vielleicht habe ich es in den Augen einiger Familienmitglieder zu nichts gebracht – für Menschen, die ihr Leben lang nach den Sternen gegriffen haben, ist es vermutlich nicht viel wert, sich um Menschen in einem Altenpflegeheim zu kümmern. Aber ich wollte immer mit den Füßen auf dem Teppich bleiben und die Sterne am Himmel funkeln sehen, wo sie hingehören. Ich bin stolz auf das, was ich tue. Ich helfe Menschen, die sich selbst nicht mehr helfen können, und bin für sie da, wenn es am wichtigsten ist.

Den Rest der Bibliothekswand schmücken gerahmte Buchcover von Nanas Lieblingsgeschichten, darunter Daisy Darkers kleines Geheimnis . Nana hatte auch Conors ersten Leitartikel auf der Titelseite der Cornish Times gerahmt und aufgehängt.

Sein Vater verschwand am Tag nach der Strandparty an Halloween 1988, und für eine Weile ließ Nana Conor bei sich in Seaglass wohnen. Der Start in Conors Journalistenkarriere war eher holprig. Er schien mehr Zeit mit Teekochen als mit dem Schreiben von Beiträgen zu verbringen, und so gewährte ihm Nana eins ihrer seltenen Interviews, das es sofort auf die Titelseite schaffte. Dann rahmte sie den Artikel, um ihm zu zeigen, dass sie ihn zur Familie zählte und stolz auf ihn war.

Conor hat sehr hart dafür gearbeitet, dahin zu kommen, wo er heute steht. In den letzten Jahren hat er mehr gearbeitet als gelebt, und ich könnte mir vorstellen, dass ein Exklusivbericht über die Ermordung der berühmten Autorin Beatrice Darker und ihrer Familie in einem exzentrischen Haus auf einer abgelegenen Insel im Meer förderlich für seine Karriere sein wird. Es war nicht leicht, den Sprung vom Lokalreporter zum Regionalfernsehen und anschließend nach London zu den überregionalen Nachrichten zu schaffen, um sich schließlich seinen Traum zu erfüllen und Kriminalreporter bei der BBC zu werden. Ich schätze mal, sein bisheriger Erfolg übertrifft sogar seine eigenen Erwartungen. Aber Erfolg ist eine Droge; je mehr die Menschen davon bekommen, desto unersättlicher werden sie. Und Conor war immer jemand, der etwas beweisen wollte, und sei es nur sich selbst. Wenn man sich allzu verbissen bemüht, mehr zu sein, als man ist, dann ist man am Ende weniger, als man sein könnte.

Der Rahmen von Conors Artikel hängt noch an der Ruhmeswand, doch der verblasste Zeitungsartikel, der zehn Jahre lang darin gewesen war, ist verschwunden. Ich bin nicht die Einzige, die es bemerkt.

»Jemand hat meine Titelseite geklaut«, sagt er und sieht näher hin.

Der Rahmen ist aber nicht leer. Rose und ich treten ebenfalls vor, um das Papier zu lesen, das den Platz des Artikels eingenommen hat. Es handelt sich um einen amtlich aussehenden getippten Brief mit gerade mal einer Handvoll Wörtern. Doch die haben es in sich.

Testbericht für Fall Nummer: DAR 2004TD

Sehr geehrte Mrs. Darker,

die eingereichten Proben wurden analysiert, und unsere Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Mutmaßlicher Vater: Conor Kennedy

Mutter: Lily Darker

Kind: Trixie Darker

Aufgrund unserer Analyse kommen wir zu dem zweifelsfreien Schluss, dass Conor Kennedy der biologische Vater von Trixie Darker ist. Weitere Auskünfte zu diesen Ergebnissen erteilen wir gerne telefonisch.

Ich starre lange auf die Worte an der Wand und versuche, sie zu verstehen. Dann fällt mir wieder ein, wie ich Conor und Lily 1988 am Strand beobachtet habe, und ich zähle eins und eins zusammen. Ich bin mir sicher, als Einzige in der Familie zu wissen, dass die beiden miteinander geschlafen haben, und fasse es nicht, wie ich so dumm sein konnte und die Puzzleteile nicht schon viel früher zusammengesetzt habe. Sicher, Lily war immer ziemlich locker in Sachen Sex, daher hatte ich geglaubt, so gut wie jeder hätte Trixies Vater sein können. Es kam mir einfach nicht in den Sinn, dass auch Conor infrage kam. Wir machen alle unsere Kompromisse zwischen dem, womit wir leben können, und dem, was wir uns für unser Leben wünschen.

Rose starrt Conor an. Ich ebenfalls. Er starrt sehr lange auf den gerahmten Brief, bevor er sich zu Trixie umsieht, die immer noch auf dem Boden sitzt und ins Leere blickt. Seit Lilys Tod hat sie kein Wort gesagt.

Eine Nichte kommt für mich einem eigenen Kind am nächsten. Die meisten Ärzte, die ich über die Jahre konsultiert habe, waren der Meinung, dass man mit meiner Erkrankung auf keinen Fall eine Schwangerschaft riskieren sollte, weil das mein Herz so stark belasten würde, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach tödlich für mich enden würde. Auf mancherlei Weise ist Trixie mein Ein und Alles. Seit ich sie das erste Mal gesehen habe, empfinde ich nichts als Liebe für dieses Kind. So, wie wir miteinander umgehen, und so sehr, wie wir uns ähneln, könnte man auf den Gedanken kommen, sie wäre tatsächlich meine Tochter. Doch als ich mich jetzt zu ihr umdrehe, starre ich sie an wie eine Fremde.

»Was guckt ihr alle so? Was steht denn da?«, fragt Trixie und runzelt die Stirn.

Niemand antwortet, weil wir wieder jemanden oben herumgehen hören. Jemanden, der dort nichts zu suchen hat.