Kapitel dreiundvierzig
3 1. Oktober 2004, 04:55 – etwas über eine Stunde bis zur Ebbe
Als ich mich zu Conor umdrehe, stelle ich fest, dass alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen ist. Er sieht erst Rose, dann mich und dann wieder Trixie an.
»Ich wusste nichts davon«, flüstert er. »Ich war betrunken. Ich dachte, sie nähme die Pille. Wenn ich es gewusst hätte … Wieso hat sie es mir nicht gesagt?« Ich sehe Rose an und wüsste zu gern, ob auch sie nachgerechnet hat. Etwas stimmt nicht an ihrem Gesichtsausdruck. Sie wirkt nicht sehr überrascht. »Ich wollte immer einmal ein besserer Vater sein als meiner«, sagt Conor mehr zu sich selbst als zu uns und wendet sich ab. Wenn ich mich nicht täusche, weint er.
Er spricht nie darüber, was mit seinem Dad passiert ist, keiner von uns tut das.
Schicksalsschläge hinterlassen unsichtbare emotionale Blutergüsse, die genauso schmerzhaft sein können wie die physischen. In seiner Kindheit und Jugend hat Conor mehr als genug von beidem eingesteckt. Über Mr. Kennedys Verschwinden weiß ich nur, dass die Polizei damals am Tag nach der Halloween-Strandparty seinen Wagen an der höchsten Stelle der Klippen fand und er nie wieder gesehen wurde. Auf dem Armaturenbrett fanden sie einen Brief, der aber nicht viel Sinn ergab:
Meine tote Frau hat mein Herz mit ins Grab genommen, und die Familie Darker hat mir meinen Sohn genommen.
Es tut mir leid, zu was für einem Mann mich das Leben und der Tod gemacht haben.
Es gibt nichts mehr, was mich hier noch hält.
Conor war achtzehn, als es passierte, und danach war er nie wieder derselbe. Es gab eine Beerdigung für seinen Vater – natürlich war ich nicht dabei, denn wie immer haben sie mich nicht mitgenommen –, aber der Sarg muss leer gewesen sein, denn die Polizei hat die Leiche nie gefunden.
Conor dreht sich wieder zu Trixie um und macht ein paarmal den Mund auf und zu wie ein Goldfisch. Die Worte, die er sagen will, trauen sich wohl nicht heraus. Er schüttelt den Kopf und starrt zur Decke.
»Ich weiß zwar nicht, was hier vorgeht, aber jetzt ist Schluss damit.«
Conor nimmt Rose den Schlüssel aus der Hand und marschiert zur Tür, bleibt dann aber plötzlich stehen. Er starrt die Klinke an, als hätte er es mit einem sehr komplizierten Mechanismus zu tun, mit dem er sich nicht auskennt. Schließlich öffnet er die Tür so langsam und lautlos, wie er kann.
»Schließt euch wieder ein«, flüstert er, bevor er den Schlüssel von innen ins Schloss schiebt und die Tür hinter sich zuzieht.
Trixie fängt wieder an zu weinen, und Rose eilt an ihre Seite.
»Alles wird gut«, sagt Rose und nimmt Trixie etwas linkisch in die Arme, als wollte sie ihre Nichte gleichzeitig auf Abstand halten.
Trixie sieht sie an, bevor sie sich mit dem Pyjamaärmel die Tränen abwischt. Dann schüttelt sie energisch den Kopf. »Ich glaube dir nicht.«
Ich glaube Rose auch nicht. Ich bin mir nicht mehr sicher, wem ich überhaupt noch trauen soll. Ich habe nur noch Angst – vor dem, was ich weiß, und dem, was ich nicht weiß. Die Panik, die in mir aufsteigt, errichtet in meinem Gehirn immer mehr Blockaden, bis ich keinen Ausweg mehr sehe.
Seaglass ist ein äußerst hellhöriges altes Haus. Wenn niemand etwas sagt, wenn es nicht regnet und nicht stürmt, wenn der Fernseher nicht läuft und keine Musik spielt, die alles übertönt, kann man das kleinste Knarren und Ächzen hören. Mit dem unablässigen Meeresrauschen im Hintergrund fühlt man sich oft wie auf einem alten Schiff, das jeden Moment sinken könnte. Seaglass hat dünne Wände, die gerne lauschen, und ausgetretene Dielen, die gerne petzen. Dieses Haus war noch nie gut darin, Geheimnisse für sich zu behalten. Der Regen draußen hat aufgehört, und der heulende Wind ist verstummt, doch nun wünsche ich mir, es wäre anders. Jetzt ist es zu still hier drinnen. Wir können Dinge hören, die ich lieber nicht hören will, und damit meine ich nicht nur das Ticken der achtzig Uhren in der Eingangsdiele.
Rose, Trixie und ich horchen auf Conors Schritte im Flur. Wir hören, wie er die Treppe hinaufgeht und im Obergeschoss weiterläuft, bis er offenbar genau über unseren Köpfen stehen bleibt. Ich führe mir die Lage der Räume vor Augen und weiß, dass er in Lilys Zimmer sein muss. Wir hören, wie er in den Flur zurückkehrt, um wahrscheinlich in das nächste Zimmer zu schauen, vielleicht meins. Mit jedem Raum, den er inspiziert, wiederholen sich die Geräusche über uns – bedächtige Schritte, die systematisch das Obergeschoss abgehen, bevor sie wieder direkt über uns am oberen Treppenabsatz innehalten.
»Hier ist niemand«, sagt Conor, kaum laut genug, dass wir seine Worte verstehen können. »Vielleicht haben wir es uns nur eingebildet, oder es waren die Geräusche, die ein altes Haus bei Unwetter macht?«
Im nächsten Moment hören wir ein dumpfes Poltern, als würde jemand die Treppe herunterfallen.
Dann einen lauten, dumpfen Aufprall.
Direkt draußen vor der Tür zur Bibliothek.
Einige Sekunden lang herrscht absolute Stille. Rose, Trixie und ich starren erst einander und dann die verschlossene Tür an, voller Angst, was wir auf der anderen Seite finden werden.
»Hast du daran gedacht abzuschließen?«, flüstert Trixie mit angstverzerrtem Gesicht.
Rose stürzt zur Tür, und ihre Hände zittern so heftig, dass sie Mühe hat, den Schlüssel im Schloss umzudrehen. Dann knipst sie das Licht aus. Unseren Augen bleibt nicht viel Zeit, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, aber im Mondlicht, das durchs Fenster scheint, können wir uns wenigstens gegenseitig umrisshaft erkennen. Die Uhren im Flur fangen an, fünf zu schlagen, und Trixie hält sich die Ohren zu. Ich muss daran denken, wie meine Schwestern und ich in unserer Kindheit mit geschlossenen Augen die Sekunden abgezählt haben, wenn wir Angst hatten.
Eins Mississippi … zwei Mississippi … drei Mississippi …
Das machten wir nicht nur, wenn es draußen stürmte.
Eins Mississippi … zwei Mississippi …
Manchmal machten wir es auch, um uns von dem abzulenken, was drinnen im Haus passierte.
Eins Mississippi …
So wie jetzt.
Als die Uhren verstummen, kehrt wieder vollkommene Stille ein. Wir sitzen im Dunkeln. Aus Angst und wegen der Kälte schmiegen wir uns aneinander. Dann hören wir wieder Schritte.
Jemand kommt die Treppe herunter.