Kapitel vierundvierzig

31. Oktober 2004, 05:05 – weniger als eine Stunde bis zur Ebbe

Rose und Trixie sind starr vor Entsetzen, als die bedächtigen Schritte durch den Flur näher kommen und vor der Bibliothekstür anhalten. Die Klinke geht ganz langsam herunter, und als derjenige auf der anderen Seite merkt, dass abgeschlossen ist, rüttelt er an der Tür. Wir halten alle drei die Luft an, bis das Rütteln aufhört und im Haus Stille einkehrt. Dann wenden sich die Schritte ab, und ich höre die Tür zur Besenkammer quietschen. Keiner von uns sagt ein Wort. Ich glaube, wenn die Angst zu groß ist, verschlägt es einem die Sprache.

Die Zeit vergeht, ich kann nicht sagen, wie wenig oder wie viel. Wir hören nur, wie jemand von Zimmer zu Zimmer geht und zweimal ein schleifendes Geräusch. Dann ist es wieder still. Wir spitzen die Ohren, um etwas zu hören, irgendein Geräusch, doch da ist nur noch das stetige Ticken der achtzig Uhren in der Diele und das gelegentliche Kreischen von Seemöwen auf ihrem ersten Morgenflug.

»Ich glaube, er ist weg«, flüstert Rose und sieht Trixie an. »Die Ebbe müsste jetzt so weit sein, dass wir hinüberwaten können. Wir müssen es nur bis zur Haustür schaffen. Vielleicht sollten wir tapfer sein und nachsehen?«

»Du brauchst mit mir nicht wie mit einem Kind zu reden«, flüstert Trixie zurück, obwohl sie wie eins aussieht und auch so klingt.

»Oder wir warten besser noch ab?«, werfe ich ein. Tapferkeit war noch nie meine Stärke.

Rose ignoriert mich – so als wüsste sie etwas und ich nicht – und wirft einen letzten Blick auf die Ruhmeswand. Sie scheint das Gedicht zu lesen, das ich geschrieben habe. Und was sie dann sagt, finde ich so unbegreiflich, dass mir für einen Moment die Worte fehlen.

»Ich frage das nur dieses eine Mal. Und ich komme mir dabei absolut lächerlich vor und schäme mich dafür. Aber steckst du hinter alledem, Daisy?«

Ich starre sie lange an, dabei kann sie mir nicht einmal in die Augen sehen. Ich begreife nicht, wie sie auf einen solchen Gedanken kommt.

»Nein«, sage ich und wische mir eine Träne weg. Rose blickt zu Boden. Es scheint ihr wirklich leidzutun. Aber Worte haben keinen Kassenbon; sie sind von der Rücknahme ausgeschlossen.

»Daisy würde so etwas nie tun«, flüstert Trixie, und ich bin froh, dass mich wenigstens eine in der Familie so sieht, wie ich bin.

Rose wendet sich an sie. »Was auch immer passiert, ich möchte, dass du hinter mir bleibst. Okay?«, sagt sie.

Unsere Nichte nickt und rührt sich nicht, vor Angst wie erstarrt. Rose schleicht zur Bibliothekstür und lässt mir keine andere Wahl, als ihr zu folgen. Poppins will sich uns anschließen, doch meine Schwester scheucht sie weg.

»Nein, Poppins. Du bleibst erst mal hier. Wir müssen uns so still wie möglich verhalten.«

Die Hündin sieht Rose an, als hätte sie jedes Wort verstanden, und setzt sich wieder auf den Teppich.

Rose dreht behutsam den Schlüssel, bis es klickt und die Tür entriegelt ist, und auch jetzt zittert ihre Hand. Dann reißt sie die Tür mit einem Ruck auf, als rechnete sie damit, dass jemand dahintersteht, doch da ist niemand.

»Hinter mir bleiben, okay?«, flüstert sie über die Schulter, während sie in den Flur tritt.

Ich sehe von der Bibliothek aus zu, wie sie sich Schritt für Schritt zur Besenkammer schleicht. Uns ist allen klar, dass wir das, was sich darin befindet, lieber nicht sehen wollen. Rose greift nach der Klinke, zögert einen Moment und öffnet die Tür.

Auch wenn ich von meinem Standort aus nicht sehen kann, was sie vor Augen hat, lässt ihre Körpersprache nichts Gutes ahnen.

»Bleib hier«, flüstere ich Trixie zu, und sie nickt.

Ich trete ebenfalls in den Flur, um Rose über die Schulter zu schauen, und was ich nun sehe, schockiert mich mehr als alles andere in dieser Nacht. Lilys Leiche sitzt, an die Rückwand gelehnt, auf dem Boden, und ihr Kopf hängt herunter, als würde sie in den Spiegel blicken, der ihr an die Hand gebunden ist. Nana, Dad und Nancy sind neben ihr. Und auch Conor. Es sieht so aus, als wäre sein Genick gebrochen, und er hat ein Jo-Jo um den Hals. Eine zerknüllte Zeitungsseite steckt in seinem geöffneten Mund. Als ich ihn so sehe, mache ich unwillkürlich einen Schritt zurück und wende mich ab.

»Als wäre er an seinen eigenen Worten erstickt …«, flüstert Rose.

»Wie bitte?«, frage ich.

»Das ist wohl damit gemeint, dass ihm sein eigener Zeitungsartikel im Mund steckt.«

Ich trete noch einen Schritt zurück, weil ich den Horror, den ich diese Nacht erlebt habe, keine Sekunde länger ertrage. Ich fürchte, ich muss mich übergeben. Ich haste in die Küche und beuge mich über das Waschbecken, doch nichts passiert. Dann blicke ich zur Wand auf und sehe, dass das Kreidegedicht nochmals verändert wurde.

Daisy Darkers Familie war abgrundtief finster, das war kaum bekannt.

Als eine von ihnen starb, haben alle den Blick abgewandt.

Daisy Darkers Nana war zwar alt, aber nicht weise genug.

Bei ihrem Testament witterten die Darkers Betrug.

Die meisten von ihnen sollten nichts erben,

da musste die Erblasserin sterben.

Daisy Darkers Vater reiste viel und tanzte zu seiner eigenen Musik.

Für Frau und Kind war er nie da, seine Selbstsucht brach ihm das Genick.

Daisy Darkers Mutter Nancy taugte nicht für ihre Rolle.

Zwei ihrer Kinder liebte sie, nur leider nicht alle.

Daisy Darkers älteste Schwester Rose war klug, schweigsam und schön,

und doch dazu verdammt, einsam von dieser Welt zu geh’n.

Daisy Darkers Schwester Lily war egoistisch, eitel und verwöhnt,

und hatte den Tod wie alle anderen verdient.

Daisy Darkers Nichte war ein frühreifes, altkluges Kind,

und wie jede vernachlässigte Brut schlug sie Warnungen in den Wind.

Daisy Darkers verschwiegene Geschichte, so traurig sie war, musste ans Licht.

Das gebrochene Herz war nur ihr Anfang, ihr Ende war es nicht.

Daisy Darkers Familie vergeudete Jahr um Jahr mit ihren Lügen.

In den letzten gemeinsamen Stunden, so dämmerte ihnen, würde die Wahrheit siegen.

»Wieso ist Roses Name durchgestrichen?«, flüstere ich. »Sie ist doch nicht tot.«

»Ich kann sehen, dass du atmest«, höre ich Rose im Flur zu jemandem sagen.

Ich stürze aus der Küche, bin jedoch nicht schnell genug, um zu sehen, mit wem sie redet. Als ein Schuss die Stille zerreißt, raubt mir der Schock den Atem. In namenlosem Schrecken sehe ich, wie Rose im Flur zu Boden geht, und diesmal bricht es mir nicht nur das Herz, meine ganze Welt bricht zusammen.