Kapitel sechsundvierzig
3 1. Oktober 2004, 06:10 – Ebbe
Ich kann nicht fassen, dass Trixie Rose erschossen hat, dabei habe ich sie mit der Waffe in der Hand gesehen, bevor sie die Treppe hochgerannt ist. Ich verstehe überhaupt nichts mehr, aber ich habe Angst und bin noch verwirrter als zuvor. Ich versuche, mich zu erinnern, wie ich mit fünfzehn war, doch ich begreife nicht, was um Himmels willen in diesem Moment im Kopf meiner Nichte vorgeht. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Eine Person, die ich so gut zu kennen glaubte, dass sie mein eigenes Kind hätte sein können, ist mir auf einmal völlig fremd. Und gefährlich ist sie obendrein.
Auf meinem Weg nach oben ist es im Haus gespenstisch still. Ich nehme immer nur eine Stufe auf einmal, auch wenn die Treppe nicht knarrt. Ich finde Trixie in ihrem Zimmer, doch sie hat sich nicht, wie ich vermutet hatte, weinend in eine Ecke zurückgezogen. Vielmehr sucht meine Nichte in ihrem kleinen pinkfarbenen Koffer nach etwas.
»Hallo, Tante Daisy«, sagt sie und blickt auf, als ich den Raum betrete.
»Was tust du da?«, frage ich.
»Ich zieh mich an«, antwortet sie, als hätte ich eine alberne Frage gestellt. »Ich kann schließlich nicht den ganzen Tag im Pyjama bleiben, wo es so viel zu tun gibt.«
Dabei weint sie immer noch. Ich frage mich, ob sie an einer Form von posttraumatischem Stress leidet. Vielleicht hat sie Rose aus Versehen erschossen, und es war ein Unfall, schließlich hatten wir alle so schreckliche Angst. Dann fallen mir die Schlaftabletten wieder ein, und mir kommt der Gedanke, dass es vielleicht eine schreckliche Reaktion auf die Pillen ist, die ihr Lily verabreicht hat.
»Deine Mum … sie hat dir in der Nacht Schlaftabletten in dein Getränk gemischt. Damit du zur Ruhe kommst …«
»Ich weiß, es ist nicht das erste Mal, dass meine eigene Mutter versucht hat, mich unter Drogen zu setzen. Ich habe den Tee nicht getrunken. Als gerade keiner von euch hingesehen hat, habe ich ihn in eine Topfpflanze gekippt«, erwidert Trixie, während sie ein paar Kleidungsstücke auffaltet und auf dem Bett bereitlegt. Direkt neben die Pistole, mit der sie Rose erschossen hat.
»Erinnerst du dich daran, was du gerade getan hast?«, frage ich sie sehr langsam.
»Du bist wirklich komisch, Tante Daisy. Ich bin nicht diejenige von uns beiden, die sich an nichts erinnern kann«, sagt sie. Ihre Tränen sind versiegt.
Eins Mississippi …
»Was soll das nun wieder heißen?«, frage ich.
»Das passiert dir andauernd … dass du vergisst, was wirklich geschehen ist«, antwortet sie mit einem seltsam mitleidigen Gesichtsausdruck.
Ich verstehe rein gar nichts.
Zwei Mississippi …
»Willst du damit sagen, du hättest nicht Rose und die übrige Familie umgebracht?«, frage ich und wünsche mir nichts sehnlicher als eine andere Erklärung.
»Natürlich nicht …«, sagt Trixie, und für einen kurzen Moment überkommt mich Erleichterung. Vielleicht ist das alles ein schlimmer Traum, aus dem ich bald erwache. Aber das ist es nicht. »Ich hätte sie unmöglich alle allein töten können, ich hatte Hilfe.«
Mir wird schwindlig und ganz seltsam.
»Was redest du da?«, frage ich. Mir reißt der Geduldsfaden. »Was hast du getan? Wieso bringst du die ganze Familie um? Und wieso dann nicht auch mich?«
Drei Mississippi …
»Hör auf, dich dumm zu stellen, Tante Daisy. Dich konnte ich nicht umbringen, du bist bereits tot.«