Kapitel achtundvierzig

31. Oktober 2004, 06:40 – Ebbe

Alle, die du kennst, sind ein bisschen gut und ein bisschen schlecht, das ist nur menschlich.

Nana hat das immer gesagt, und ich glaube, sie hatte recht.

»Geht’s wieder?«, fragt Trixie. »Ich seh dir an, dass du dich in diesen Gedanken verloren hast, die du eigentlich lieber vergessen würdest. Aber jetzt wird alles gut, du wirst sehen.«

Ich weiß zwar nicht, was ich ihr antworten soll, aber gut geht es mir definitiv nicht. Mehr als einmal haben mir meine eigenen Erinnerungen ein Schnippchen geschlagen, aber so verwirrt wie jetzt habe ich mich noch nie gefühlt. Ich komme mir vor, als hätte ich gerade eine Szene aus meiner Vergangenheit gesehen, die vor einer neuen Kulisse aufgeführt wurde. Sie wirkte deplatziert, als hätte sie jemand anders dort hinterlassen, weshalb die Erinnerung von vorn bis hinten falsch erschien. Ich habe alles darangesetzt, diese Erinnerung gegen eine andere zu tauschen, sie zurückzugeben, denn ich will mich einfach nicht daran erinnern, was in jener Nacht wirklich passiert ist. Und schließlich habe ich die Fiktion schon immer den Fakten vorgezogen.

»Sie haben mich umgebracht. Rose, Lily und Conor haben mich umgebracht«, flüstere ich.

»Ja. Diese Unterhaltung hatten wir schon sehr oft. Aber aus irgendeinem Grund vergisst du es immer wieder«, sagt Trixie.

Nach jeder Tragödie gibt es surreale Momente, in denen man vergisst, was passiert ist. Das Gehirn versucht gerne, Dateien zu löschen, die man nicht verarbeiten kann. Wenn man sich dann doch erinnert, durchlebt man die schmerzhafte Situation noch einmal. Und ich habe dann das Gefühl, als ob ich falle. Dabei vergesse ich es nicht wirklich, ich ziehe es nur vor, mich nicht zu erinnern.

»Wieso bin ich immer noch hier, wenn ich in jener Nacht gestorben bin? Und wie kommt es, dass du mich sehen und hören kannst?«

»Ich bin keine Expertin, was das Leben nach dem Tod betrifft, aber ich vermute mal, dass es damit zu tun hat.«

Als ich aufblicke, sehe ich, dass Trixie die obersten Knöpfe ihrer Bluse geöffnet hat. Ich starre auf die rosafarbene senkrechte Narbe in der Mitte ihrer Brust, fast genau wie meine.

»Auch ich bin mit einem gebrochenen Herzen auf die Welt gekommen«, sagt Trixie, und ihr treten Tränen in die Augen. »Sie vermuten, es ist erblich. Aber von meinem Herzfehler wussten sie nichts, bis ich zehn war. Ich war in der Schule, als es passierte. Mrs. Milton, ein Drachen von Sportlehrerin, ließ uns an einem echt heißen Tag einen Geländelauf machen, erst um den Sportplatz und anschließend durch den Wald. Nach der ersten Etappe sagte ich ihr, dass mir komisch sei. Ich versuchte, ihr zu erklären, dass ich Schmerzen in der Brust habe und nicht richtig Luft bekomme. Aber Mrs. Milton gehört zu den Frauen, die nur sehen, was sie sehen wollen, und nur hören, was sie hören wollen. Sie zwang mich weiterzulaufen, auch als ich ihr erneut sagte, wie elend ich mich fühlte. Um keinen zu enttäuschen, bin ich weitergerannt. Irgendwo im Wald bin ich dann zusammengebrochen, und es dauerte ein paar Minuten, bis mich eins der anderen Mädchen fand. Sie dachten, ich wäre von der Hitze in Ohnmacht gefallen, aber dann blieb mein Herz stehen. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie ich zwei Tage später mit dieser Narbe auf der Brust im Krankenhaus aufwache und sehe, wie du am Fußende meines Betts sitzt und über mir wachst. An dem Tag im Wald bin ich gestorben. Ich war nur für ein paar Minuten tot, bevor der Krankenwagen eintraf, aber ich glaube, deshalb habe ich dich da zum ersten Mal gesehen. Seit dem Tag kann ich dich sehen und hören.«

Es fühlt sich immer noch so an, als ob ich unaufhaltsam fallen und mich niemals jemand auffangen würde.

»Kann mich sonst noch jemand sehen?«, frage ich.

»Nein. Außer Poppins! Sie sieht und hört dich auch. Wetten, dass sie rausgerannt ist und dich begrüßt hat, als du gestern in Seaglass ankamst? Als ich anfing, dich zu sehen, habe ich es meiner Mum erzählt, und sie ist ausgerastet. Sie glaubte mir nicht und sagte, sie wolle nie wieder deinen Namen von mir hören. Deshalb hat sie gestern Abend auch das Scrabble -Spiel umgekippt, weil ich gesagt habe, ich spiele mit dir. Manchmal habe ich so getan, als würde ich mit einer erfundenen Freundin reden, wenn sie hörte, wie ich mit dir spreche. Damit kam sie besser klar als mit der Vorstellung, dass ich mich mit ihrer toten Schwester unterhalte. Die sie von der Klippe geworfen hat.«

Ich weiß, dass sie die Wahrheit sagt. Immer wenn meine Familie an diesem Wochenende ignorierte, was ich sagte, lag es daran, dass sie mich nicht hören konnten. Und aus dem gleichen Grund hat mich auch niemand bei ihrer Ankunft zur Begrüßung umarmt. Sie konnten mich nicht sehen. Meine Familie behandelt mich seit Jahren wie ein Gespenst, weil ich eins bin. Die Erkenntnis bricht wie eine dieser Wellen über mich herein, die ich draußen vor Seaglass höre, die rings um mich und über mir zusammenschlagen, bevor sie mich in die Tiefe ziehen. Die Klarheit, die mir dieser Moment bringt, kann ich weder ignorieren noch vergessen. Ich kann verstehen, was damals und was jetzt passiert ist, aber immer noch nicht ganz akzeptieren.

»Aber wieso hast du sie umgebracht? Ich begreife nicht, wie du etwas so Schreckliches tun konntest. Du hast die ganze Nacht geweint, so als hättest du genauso viel Angst wie wir alle!«

»Hatte ich auch, und natürlich habe ich geweint. Was ich heute Nacht getan habe, war wirklich furchtbar, also war ich selbstverständlich aufgewühlt. Ich bin doch kein Monster.« Trixie blickt zu Boden. »Dir wollte ich auf keinen Fall Angst einjagen. Ich dachte wirklich, du kämst dahinter, wenn du diese Scrabble -Buchstaben an den Videokassetten siehst: SEHT MICH AN , HÖRT MICH , BEACHTET MICH , BEMERKT MICH , PASST AUF MICH AUF . Schon immer hast du dir all das von deiner Familie gewünscht. Aber sie haben dich auch vor deinem Tod nicht wirklich gesehen. Und da wir beide immer zusammen Scrabble gespielt haben, dachte ich, du kämst vielleicht drauf, dass ich es bin. Versuch, nicht allzu traurig über all das zu sein, Tante Daisy. Manche Menschen sind schon Gespenster, bevor sie tot sind.«

Ich starre sie an, und mein Blick wandert wieder zu ihrem geöffneten Köfferchen auf dem Bett. Es sind einige Dinge darin, die ich vorher nicht bemerkt habe: eine Spule mit rotem Schleifenband, ein paar Scrabble -Buchstaben – einschließlich eines Steins mit dem Buchstaben B aus Seeglas und Holz –, die fehlende Klaviertaste (b-Moll), ein Taschentuch mit einem eingestickten B, eine Halskette mit einer Hummel und ein paar ausgerissene Seiten aus The Observer’s Book of Wild Flowers von meiner Mutter (Butterblume, Bartnelke, Buschwindröschen). Jetzt ist mir klar, dass das B für Beatrice, Trixies vollen Namen, steht. Sie hat die ganze Zeit Hinweise gegeben, als wollte sie, dass jemand erkennt, dass sie hinter all dem steckt. Vielleicht wollte sie sogar, dass jemand sie aufhält.

»Was ist das denn?«, frage ich, als mein Blick auf etwas anderes im Koffer fällt.

»Das Buch da?«, fragt sie zurück und nimmt ein ziemlich zerlesenes Exemplar eines alten Romans heraus. »Das ist Und dann gab’s keines mehr von Agatha Christie, einer meiner Lieblingsromane. Möchtest du ihn dir ausleihen?«

»Nein. Und ich meinte die Blätter mit all unseren Namen darauf.«

Trixie lächelt. »Gedichte. Über jedes Familienmitglied. So wie das Kreidegedicht an der Küchenwand, das habe ich auch geschrieben. Hat es dir gefallen? Ich habe über jeden eins geschrieben, nur nicht über dich. Als falsche Fährte hab ich sogar eins über mich verfasst! Aber am Ende habe ich sie dann doch nicht benutzt. Möchtest du sie lesen?«

Ich habe das Gefühl, als stünde ein Monster vor mir, und muss den Blick abwenden.

»Du hast gesagt, du hättest Hilfe gehabt. Von wem denn?«, frage ich.

»Stimmt, das habe ich gesagt. Also, dann spannen wir dich mal nicht länger auf die Folter.«

In verblüfftem Schweigen folge ich ihr, als sie die Treppe hinuntereilt. Doch als sie an der Besenkammer vorbeiläuft, zögere ich. Die Tür ist jetzt wieder geschlossen, und Roses Leiche ist aus dem Flur verschwunden. Ich bin nicht mehr so gut darin, meine Gedanken zu kontrollieren wie früher einmal, sie kommen und gehen einfach, wie sie wollen. Doch die Gedanken, die sich jetzt in meinem Kopf bemerkbar machen, sind laut und klar und beängstigend. Ich folge Trixie in die Küche.

Noch vor einem Moment glaubte ich, meine ganze Familie wäre tot.

Doch nun sitzt ein Mitglied dort am Tisch und lächelt mir entgegen.

Und wieder einmal habe ich das Gefühl, als ob ich falle.