Kapitel fünfzig
31. Oktober 2004, 06:55 – Ebbe
Trauer ist wie ein tropfender Wasserhahn, der sich nie ganz zudrehen lässt. Der Kummer sammelt sich an, bis man so randvoll ist, dass einem nichts anderes übrig bleibt, als ihn überfließen zu lassen, bis er jeden anderen Gedanken und jedes andere Gefühl ertränkt hat.
»Sie ist tot«, sagt Trixie mit Tränen in den Augen. »Wieso hat sie das getan?«
Die achtzig Uhren draußen in der Eingangsdiele ticken lauter als je zuvor.
»Weil ihre Zeit gekommen war«, sage ich leise. »Ich glaube, sie hatte von Anfang an vor, sich das Leben zu nehmen, wenn das alles vorüber ist. Mit dem, was sie getan hat, hätte sie niemals leben können. Ich verstehe jetzt, was sie angetrieben hat, aber ich begreife immer noch nicht, wieso du mitgemacht hast.«
Trixie setzt sich auf ihrem sternenübersäten Stuhl an den Tisch, und sie kommt mir plötzlich wieder so klein vor – wie das Kind von früher und nicht wie die heranwachsende Frau, die sie mittlerweile ist.
»Erinnerst du dich, wie es war, als ihnen allen klar wurde, dass du einen Herzfehler hast?«, fragt Trixie in ruhigem Ton. »Wie sie dich behandelt haben? Also, bei mir war es genau dasselbe. Meine Mutter erlaubte mir nicht mehr, mich mit Freunden zu treffen, sie packte mich in Watte, und jedes Mal, wenn sie mich ansah, stand ihr eine Mischung aus Mitleid und Abscheu ins Gesicht geschrieben. Nicht Liebe. Meine Mutter und Nancy hielten es für richtig, meinen Herzfehler vor allen anderen geheim zu halten – als wäre es ein schmutziges Geheimnis, für das man sich schämen muss. Selbst die übrige Familie durfte es nicht erfahren. Mal ehrlich, sie waren wirklich schreckliche Menschen. Sie alle. Sieh nur, was sie dir angetan haben. Die Ärzte schätzen, ich werde ungefähr zwanzig Jahre alt, fünfundzwanzig mit etwas Glück. Und ich will doch nur das eine: Einfach die Jahre, die mir noch bleiben, leben . Ich werde bald sechzehn, ich kann von der Schule gehen und um die Welt reisen. Ich möchte einfach nur so lange leben, wie ich kann. Das verstehst du doch, oder? Die Einzigen in dieser Familie, die mich je geliebt haben, waren immer nur Nana und du. Und du bist ein Geist. Nana konnte den anderen nicht verzeihen, was sie mit dir gemacht haben. Ich auch nicht. Wir haben sie umgebracht, damit du und ich frei sein können. Du solltest nicht mehr hier sein, das ist nicht richtig. Nana glaubte, deine Seele hinge vielleicht hier fest, weil du an Halloween gestorben bist. Deshalb haben wir es heute getan.«
Ich starre sie an und finde keine Worte.
»Was Nana eben gesagt hat, stimmt – du bist nicht älter geworden«, fährt Trixie fort. »Ich weiß, dass du dich nicht im Spiegel sehen kannst, aber du siehst wahrscheinlich, dass du immer noch dieselben Sachen trägst wie in jener Nacht: den Jeansrock, die gestreifte Strumpfhose, die Schuhe mit den Gänseblümchen. Du bist immer noch ein dreizehnjähriges Mädchen. Auch wenn du meine Tante bist, bin ich inzwischen zwei Jahre älter als du.«
Ich kann ihr nicht länger folgen. Ich bin in einem Albtraum gefangen, in dem ich schon seit Jahren tot bin. Poppins winselt jetzt wieder, und ich würde es ihr am liebsten gleichtun.
»Ich denke, ich lass dich mal ein Weilchen allein und drehe mit Poppins eine Runde«, sagt Trixie, als wäre dies ein ganz normaler Tag. »Ich kann mir gut vorstellen, dass das alles ein bisschen viel auf einmal für dich ist. Vielleicht denkst du über das nach, was Nana eben gesagt hat. Ich finde ihre Theorie darüber, wieso du noch hier bist, gar nicht so verrückt, wie sie klingt. Und falls sie damit tatsächlich richtigliegt, gibt es vielleicht einen Weg, wie du da rauskommst.«
»Wie meinst du das?«
»Sie fand, dass du deine eigene Geschichte schreiben sollst. Überleg mal: Deine eigenen Worte zu gebrauchen ist das Einzige, was du noch kannst. Der Tod ist nicht so wie im Film, zumindest nicht für dich. Ich habe dich nie durch Wände gehen sehen oder auch nur durch eine Tür, wenn sie dir nicht jemand geöffnet hat. Aber du kannst Scrabble -Buchstaben legen und auf einer Tastatur schreiben. Und Nana hat gesehen, dass du dich bei deiner Ankunft mit der Stechuhr eingestempelt hast. Das heißt, sie hat gesehen, dass die Karte wie von Zauberhand durch die Luft in die Uhr schwebte und in dein Fach zurückflog. Nana war ganz aus dem Häuschen. Ich glaube, wenn sie das nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wäre sie nicht fähig gewesen, das hier durchzuziehen. Es war für sie, als wolltest du ihr zeigen, dass du noch da bist.«
Trixie tritt in den Flur.
»Warte!«, rufe ich ihr hinterher. »Lass mich hier nicht allein … mit denen!«
»Ich bleibe nicht lange weg, versprochen«, sagt sie und macht die Leine an Poppins’ Halsband fest. »Übrigens hast du den Kugelschreiber, den dir Nanas Agent an dem Abend geschenkt hat, bevor du gestorben bist, noch in deiner Latzhosentasche«, fügt Trixie hinzu.
Sie hat recht. Ich hole den silbernen Kugelschreiber mit den vier Farben heraus und finde auch die Visitenkarte des Agenten wieder. Ich lese seinen Namen und die Adresse seines Londoner Büros.
»Vielleicht ist es wirklich der einzige Weg, um aus diesem Leben zu entkommen, dass du deine eigene Geschichte aufschreibst. Die Wahrheit darüber zu erzählen, was passiert ist, muss womöglich noch von dir erledigt werden. Nanas Agent hat dir damals versprochen, eine Geschichte über die echte Daisy Darker zu lesen, wenn du sie schreibst, du erinnerst dich? Bin gleich wieder da, Tante Daisy. Na komm, Poppins!«
Ich ziehe mich in die Dunkelkammer meiner Gedanken zurück und versuche, ein Bild von einer Zukunft zu entwickeln, die mir verlockender erscheint, doch ich blicke nur in undurchdringliches Schwarz. Ich renne Trixie hinterher, aber sie schlägt mir die Haustür vor der Nase zu, und ich kann sie nicht öffnen. Sie hat recht; ich kann nicht durch Wände gehen. Ich donnere an die Tür, bringe aber keinen Laut heraus. Ich spähe durch das winzige runde Fenster in der Diele wie durch das Bullauge eines Schiffs, und dabei fühle ich mich tatsächlich so, als wäre ich auf einem sinkenden Schiff eingeschlossen. Trixie und Poppins verschwinden auf ihrem Weg über den Damm aus meinem Blickfeld und lassen mich zurück. Ich weiß nicht, ob ich meine Nichte jemals wieder so lieben kann wie früher. Manchmal lieben wir Monster, ohne zu wissen, dass sie genau das sind.
Und ich liebe dieses Haus. Ich wollte hier nie weg. Bis jetzt.
Die achtzig Uhren, die mich in der Diele umgeben, schlagen sieben. Der Lärm ist so ohrenbetäubend, dass ich die Treppe hinauf in mein Zimmer renne. Ich starre auf Conors Laptop, der immer noch da steht, wo er ihn zurückgelassen hat. Der Cursor blinkt auf dem Bildschirm, und das Wort, das ich letzte Nacht geschrieben habe, ist noch da: Buh!
Die Buchstaben verschwinden einer nach dem anderen und werden durch neue ersetzt: DAISY DARKER .
Als ich hingeschrieben habe, was, wie ich hoffe, der Titel meiner Geschichte wird, zittern meine Finger. Ich taste nach der Visitenkarte in meiner Tasche, ziehe sie heraus und lese wieder den Namen des Agenten.
Ich frage mich, ob ich wirklich ein Buch schreiben könnte.
Ich frage mich, ob ich wirklich die Wahrheit schreiben könnte.
Es gibt so viel, von dem wir nicht einmal wissen, dass wir es nicht wissen.
Das Wasser hat jetzt seinen tiefsten Stand erreicht, über Seaglass geht die Sonne auf und färbt den Himmel rosa und violett. Für mich war der frühe Morgen schon immer die schönste Tageszeit, die gleichsam ihr Licht auf eine neue, leere Seite wirft. Die Chance eines Neuanfangs. Die Möwen steigen auf und schreien über den Wellen in der Blacksand Bay, und als ich über das Meer hinausblicke, entdecke ich in der Ferne einen Schwarm Delfine. Das Brausen der See liefert die Hintergrundmusik zu meiner letzten Szene.
Ich will frei sein.
Ich wüsste gern, ob die Geschichte, die ich schreiben will, jemals gelesen wird.
Die achtzig Uhren unten sind wieder verstummt, und ich genieße die Stille, während ich die ersten Worte auf die leere Seite schreibe: Ich bin mit einem gebrochenen Herzen geboren.
Mein ganzes Leben lang habe ich mich in Geschichten versteckt, wenn mir die reale Welt zu laut wurde. Ob meine je gelesen wird, wird sich mit der Zeit zeigen.