Kapitel 2

Island 1289

Tamtam taratam hallte es von den Bergen wider, in deren Tälern die kleinen Hütten der Bewohner unauffällig wie Pilze im Wald mit dem Hintergrund verschmolzen. Tamtam taratam vibrierten die Klänge der Trommeln in meinen Ohren. Klänge, die ein Ritual ankündigten: die Übergabe eines Mädchens. Je näher wir der Stelle kamen, wo das Schiff wartete, desto lauter wurden das Trommeln und der Gesang der Menschen, die sich auf das wichtigste Ereignis ihrer Gemeinschaft freuten. Tamtam taratam …

Es war früh am Morgen, der Mond hatte sich noch nicht ganz vom Nachthimmel zurückgezogen und rang mit der Sonne um den Übergang vom Dunkel zum Tag. Schattierungen von Grau bestimmten die Silhouetten von Menschen und Landschaft.

Das gesamte Dorf war mit mir und meiner Mutter aufgebrochen und zog nun in einem Pulk singend und tanzend Richtung Meer. Dort, wo Fackeln das Grau der schwindenden Nacht erhellten, erleuchteten sie vereinzelt aufgeregte Gesichter. Die Erregung schien jeden erfasst zu haben, der nun mit uns den steilen Weg vom Dorf bis zum Schiffssteg hinunterlief. Wahrscheinlich hätte auch mich die Erhabenheit dieses Augenblicks in ihren Bann gezogen, wenn ich nicht gewusst hätte, was mich dort unten am Meer erwarten würde. Ein Wendepunkt in meinem Leben stand mir bevor. Und eine qualvolle Trennung. Das war meine Bestimmung.

Als würde ihn die Aufregung um ihn herum völlig kaltlassen, japste mein Wolfshund Rocca fröhlich neben mir, die Zunge hing ihm wie ein nasser Lappen aus dem Maul. Seine klugen Augen streiften mich von Zeit zu Zeit neugierig, für ihn war es nur ein weiterer gemeinsamer Ausflug.

Mit gemischten Gefühlen winkte ich den Menschen zu, die alle gekommen waren, um meiner Mutter und mir Lebewohl zu sagen. Ich sollte stolz sein, so wie sie und meine Familie. Aber immer quälte mich der Gedanke, mich von geliebten Menschen verabschieden zu müssen. Mein Herz war schwer, als ich zum letzten Mal den Weg vom Dorf hinunter zum Bootssteg lief, wo das Schiff auf uns wartete. Jeder einzelne Stein und jeder Halm dieses Weges waren mir so vertraut, und an der Hand meiner Mutter sog ich jedes noch so kleine Detail wie ein Schwamm in mich auf, um es für immer in meiner Erinnerung zu behalten. Ich konnte kaum mithalten mit ihren entschlossenen Schritten.

Die Kälte war spürbar an diesem Frühlingsmorgen; obwohl die Tage schon wärmer wurden, war die Nacht noch bitterkalt. Der Nordwind wehte mir hart ins Gesicht und trieb mir die Tränen in die Augen. Oder war es doch der Abschiedsschmerz?

Meine Mutter drückte meine Hand. Sie schien zu spüren, dass ich Angst hatte, und lächelte mir aufmunternd zu, während wir zusammen die letzten Meter auf dem vom Wetter gegerbten Holz bis zum Schiffssteg liefen. Meine Beine waren müde von dem langen Weg, daher wurde Mutter ein wenig langsamer. Oder war es doch nur, damit sie noch einmal die Gesichter derer sehen konnte, die ihr lieb geworden waren?

Der Blick zurück war imposant: Eine dichte Traube an Menschen stand gegen die eisigen Winde in dicke Felle gehüllt am Saum des Meeres. Sie schrien und jauchzten, und viele besangen auch die Götter, die meine Mutter und mich auf unserer Reise beschützen sollten. Das tanzende Feuer zahlreicher Fackeln verwandelte die Szenerie in ein wildes und beeindruckendes Spektakel. Selbst der Nebel, der majestätisch über dem Wasser hing und sich mit dem Rauch mischte, schien unserer Reise zu huldigen.

Mein Vater, der bisher stumm hinter uns gegangen war, kam nun auf mich zu, nahm mich in die Arme und drückte mich fest an seine Brust. Das dicke Fell, das er wie eine Decke um seine Schultern geworfen hatte, kitzelte mich an der Nase. Nie werde ich seinen vertrauten Geruch nach Leder, Rauch und Fischtran vergessen, während ich seine Liebkosung mit einer Intensität genoss, die aus der Gewissheit entstand, dass es das letzte Mal sein würde. Das letzte Mal, bevor ich erwachsen sein würde.

Er hielt mich nun etwas von sich und sah mir ernst ins Gesicht. Seine hellen blauen Augen unter den scharf gezogenen schwarzen Brauen musterten mich liebevoll. Lange blonde Haare umspielten sein von der eisigen Luft gerötetes Gesicht. Helle Bartstoppeln glitzerten auf seinen Wangen und umrahmten sein Lächeln wie die Sterne den Mond.

»Ich bin sehr stolz auf dich, Enja. Das ganze Dorf ist stolz auf dich, und wir sind sicher, dass du uns keine Schande machen wirst. Egal, was passiert, die Götter, deine Familie und unser ganzes Volk stehen dir bei, vergiss das nicht!«

Mein Herz machte einen Satz, und ich musste schlucken, bevor ich antworten konnte. »Ich werde dich stolz machen, Papa«, presste ich dann hervor, »so wie alle anderen Mädchen ihre Väter vor mir.«

Er küsste mich noch einmal auf die Stirn, bevor er mich abrupt losließ. Vielleicht wollte er nicht, dass ich seine Tränen sah, aber ich bemerkte sie dennoch. Ich hätte niemals ein Wort darüber verloren.

Meine Schwester Jalla drückte sich in ihrem Lederkleid mit dem bestickten Fellkragen, das dem meinen ganz ähnlich war, an mich. Sie war den ganzen Weg stumm geblieben. Unter Tränen reichte sie mir nun einen Strauß Blumen, schniefte und hickste, drehte sich um und verschwand hinter den unzähligen Beinen der umstehenden Leute, deren Füße in Schaffellen steckten, die von Lederschnüren zusammengehalten wurden. Jalla war die Einzige, die nicht verstand, was hier geschah, und die deshalb auch nicht auf mich stolz sein konnte. Sie war nur unendlich traurig, konnte es in ihrer stillen Art aber nicht ausdrücken. Es versetzte mir einen Stich ins Herz, und ich wollte ihr gerade hinterherlaufen, als mein Vater mich entschlossen wieder Richtung Schiffssteg schob. Es war so weit.

Majestätisch lag unser Schiff im Wasser. Am Bug fletschte ein mächtiger Drachen aus geschnitztem Holz die Zähne und drohte jedem, der es wagte, sich zu nähern. Ich hatte immer Angst vor diesem Dämon gehabt, der mich an ein versteinertes Untier erinnerte, das auf dem Wasser ritt und jeden Moment lebendig werden konnte. Ängstlich schielte ich zu dem Holzkopf, als wir den Bug passierten, und folgte meiner Mutter in ihrem langen, im Wind flatternden Fellmantel den schmalen Weg über den Steg.

Mama hob mich ohne Anstrengung über die Reling des Schiffs auf die rauen Holzplanken und folgte mir mit einem großen Schritt. Dann drehte sie mich von sich weg, damit ich zurück zum Ufer blicken konnte, ihre Hände ruhten auf meinen Schultern.

»Schau nur, wie sie sich freuen! Eine Auserwählte aus unserem Dorf. Das bist du, meine Tochter«, sagte sie stolz zu mir.

Ein Schauer ging durch mich hindurch. In der Tat, ich war die Auserwählte. Eine wilde Entschlossenheit verdrängte für einen Moment meine traurigen Gedanken wie ein kalter Schauer, der mir fast die Luft nahm. Dieser Stolz und die festen Hände meiner Mutter hielten mich davon ab, wieder zurück über die Reling des Schiffes zu springen, das sich nun unter dem Gebrüll der Menschen vom Ufer wegbewegte. Der Drachenkopf schien sich wie von Geisterhand in Richtung offenes Meer zu bewegen.

Mein Blick streifte zum letzten Mal die vom frühen Morgenlicht erhellten Gesichter der Menschen aus der vordersten Reihe. Verzweifelt versuchte ich, das Bild meines Vaters, wie er ganz vorn stand, für immer in mich aufzunehmen. Sein Haar tanzte im Wind, sein Gesicht glänzte von all den vergossenen Tränen.

»Nie werde ich dich vergessen, Papa.«

Erst als die schwarze Masse der Insel die Silhouetten der Menschen verschlungen hatte und nur noch als schwacher Umriss aus dem Meer ragte, merkte ich, dass auch mir Tränen über das Gesicht liefen. Zärtlich wischte Mama sie mit ihrem Ärmel von meinen Wangen und nahm mich in die Arme.

»Es wird alles gut«, murmelte sie, »wenn du uns eines Tages im Jenseits wiedersiehst, wirst du den Göttern gleich sein. Du allein hast mit deiner Bestimmung die Macht dazu.«

Ich drückte mich schluchzend in den Schoß meiner Mutter, die mich sanft wiegte und über mein Haar streichelte.

* * *

»Enja!« Ein Ellbogen rammte sich schmerzhaft in meine Rippe. »Wach auf, du dämliches Mädchen, du träumst ja mit offenen Augen!«

Ich blinzelte, drehte meinen Kopf zu der zischenden Stimme und sah in große dunkle Augen in einem sommersprossigen Gesicht, das von braunen Locken umrahmt wurde. Ein besorgter Blick musterte mich.

»Alles in Ordnung?«, flüsterte die Stimme noch einmal.

»Ja, natürlich«, stammelte ich noch etwas benommen. »Ich war gerade mit meinen Gedanken woanders.«

»Das habe ich bemerkt«, sagte Jasemin spöttisch. »Du hattest einen ganz glasigen Blick. Psst, Meister Abdallah hat dich auch schon gesehen, er wird dich sicher …«

Jasemin hielt mitten im Satz inne. Besagter Meister hatte seinen falkenartigen Blick gerade zu mir geworfen, als sie sich herüberneigte. Meister Abdallah war ein hagerer Mann; sein grob gestreifter Kaftan hing an ihm wie ein Betttuch an der Leine, und seine Nase glich einem Schnabel, scharfkantig wie der eines Falken. Die Augen passten dazu. Sie lagen tief in den Augenhöhlen und funkelten mich gerade wütend an. Seinen Kopf bedeckte ein gewickelter blauer Turban, dessen Ende er lose über die Schulter gelegt hatte. Er verschränkte die Arme, sah mich streng an und neigte ehrwürdig seinen Kopf.

»Störst du mit deinem Geplapper schon wieder meinen Unterricht, Enja? Woher nimmst du nur dieses Selbstbewusstsein? Als ob deine Worte wichtiger wären als meine! Komm her zu mir, sofort!«

Seine Worte klangen wie eine Drohung, gefährlich leise. Wie ich es hasste, von ihm gemaßregelt zu werden! Aber was blieb mir anderes übrig, ich wollte nicht auch noch wegen Verweigerung bestraft werden. So löste ich mich aus meinem Schneidersitz und trat vor ihn. Ich reichte ihm gerade mal bis zur Brust, aber ich erwiderte trotzig seinen lauernden Blick.

Er genoss es sichtlich, seine Macht vor den anderen Kindern zu zeigen. Als strenger Lehrer war er Widerspruch nicht gewohnt, und jetzt ließ er mich dafür schmoren.

Langsam blickte er von den am Boden hockenden Kindern zurück zu mir und ließ mich meine Unwürdigkeit spüren. Der kleine Raum war angenehm kühl, er lag im Schatten einer großen Palme, und die offenen Schlitze im Gemäuer ließen einen Luftzug herein.

Trotzdem stand mir der Schweiß auf der Stirn. Mir war klar, was jetzt kommen würde, und ich bereitete mich innerlich auf seinen Angriff vor. Ich war seinem Unterricht nicht gefolgt, und er hatte es bemerkt. Was würde er sich einfallen lassen, um mich zu bestrafen? Seine Hand legte sich schwer auf meine rechte Schulter und drückte sie fest nach unten; er wollte mich bewusst klein machen.

»Sag mir, Enja«, in seiner leisen Stimme erkannte ich seinen Ärger, »wie übersetzt du ›nicht reden, wenn der Lehrer spricht‹ in Farsi?«

Ich dachte kurz nach und sprach die persischen Worte dann selbstsicher aus. Sein Gesicht ließ nicht erkennen, was er dachte und ob ich einen Fehler gemacht hatte, er musterte mich nur mit seinen dunklen Augen, seufzte und setzte dann noch einmal an.

»Du passt nicht auf, aber du verstehst mich trotzdem.« Das war keine Frage, es war eine Feststellung.

»Wie meinen Sie das?«

»Übersetze!«, zischte er ungeduldig.

Ich schluckte ungläubig, folgte aber seinem Befehl. Sein Gesicht zuckte. Verkniff er sich etwa ein Grinsen? Auf Persisch fragte er mich, wieso ich scheinbar mühelos die fremde Sprache spreche.

»Ich weiß es nicht, Meister. Es … es ist einfach da drin«, sagte ich zögernd und zeigte plötzlich doch verlegen mit einem Finger auf meine Stirn. »Und es ist plötzlich da.«

Selbst ich erkannte, wie dumm das klingen musste, und schaute verschämt auf den Boden. Meine nackten Zehen gruben sich in den festgetretenen Boden. Die anderen Kinder fingen an zu kichern, und auch Jasemin gehörte zu diesen Verrätern.

»Komm heute nach dem Abendmahl in meinen Studierraum. Ich muss mit dir sprechen.«

Sein ausgestreckter Arm verwies mich auf meinen Platz. Nur zu gerne ließ ich mich wieder neben Jasemin nieder, die sich die Hand vor den Mund hielt, um keine Geräusche von sich zu geben. Ihre Wangen waren gerötet, aber ihr Blick war stur nach unten gerichtet.

Meister Abdallah blickte mich nachdenklich an und schnippte mit den Fingern. »Ruhe!«

Keine Minute später referierte er über das Persische, wohl inspiriert von unserem kleinen Wortgefecht, seine Schülerinnen folgten ihm nun aufmerksam. Meister Abdallah war in der Tat ein strenger Lehrer. War er schlecht gelaunt, gab es auch schon mal einen Hieb mit dem Stock. Aber war er gut gelaunt, machte sein Unterricht sogar Spaß; und gute Laune hatte er, wenn seine Schülerinnen keine Fehler machten. So erhielt ich diesmal keine Strafe, denn ich hatte alles richtig gemacht. Seltsam nur, dass er mich später allein sprechen wollte.

Während also sechzehn Mädchen aufmerksam seinem Unterricht folgten und fleißig arabische Zahlen in Farsi übten, drifteten meine Gedanken zum wiederholten Male zurück zu dem Schiff auf offener See. Und zu meiner Mutter.

* * *

Wir befanden uns nun schon seit Stunden auf dem Wasser, das kein Ende zu haben schien. Weit und breit war kein Festland zu sehen, nur das endlose Meer mit seiner unfassbaren Tiefe. Ich erinnere mich noch genau an meine Mutter, wie sie stolz am Schiffsbug stand, direkt neben dem Drachenkopf. Ihre Haare waren zu einem Zopf geflochten, wie glatte weiße Seidenfäden, die zu einem Kunstwerk verschlungen waren. Ein paar Strähnen hatte der Wind herausgezupft und zerrte an ihnen. Die Frühlingssonne wärmte unsere Gesichter ein wenig, aber der Wind frischte noch mehr auf. Das Gesicht meiner Mutter war der Sonne zugewandt. Ich musterte ihre hohen Wangenknochen, ihr ebenmäßiges Gesicht mit der langen, geraden Nase. Hinter den geschlossenen Lidern verbargen sich tiefblaue Augen, die den meinen so ähnlich waren. Sie war eine Schönheit, eine Göttin. Jedenfalls nannte mein Vater sie so, und er musste wissen, wie eine Göttin aussah.

Sie wandte ihr Gesicht zu mir herum, und die Lippen verzogen sich zu einem unsicheren Lächeln, das ihr eigenes Unwohlsein kaum überspielte. »Scheint, als würden wir eine raue Nacht erleben, das Wetter schlägt in ein paar Stunden um. Versuche am besten, dich gleich hinzulegen. Wer weiß, ob wir heute Nacht viel Schlaf bekommen werden.«

Sie streckte die Arme aus, und ich drängte mich an sie. Lächelnd zog sie mich unter ihren Fellmantel aus dem warmen Pelz eines Eisbären, den mein Vater eigenhändig erlegt hatte. Ich kuschelte mich an sie. Ihre Nähe und Wärme gaben mir ein wohliges Gefühl. »Darf ich bei dir schlafen?«

»Natürlich, mein Liebes. Komm, wir legen uns hier neben die Kiste, da sind wir vor dem Wind geschützt.«

Die große Holzkiste auf dem Deck enthielt wohl Seile und Ruder. Sie schützte uns vor dem Wind, aber trotzdem konnten wir hier die Wärme der Sonnenstrahlen genießen. Ich schmiegte mich unter dem Mantel an Mama und beobachtete unter dem Saum heraus die Männer auf dem Schiff, die ihrer Arbeit nachgingen. Leise und ohne laute Worte verrichteten sie ihre Aufgaben, knüpften Taue, Netze und Ketten, banden lose Kisten und Fässer fest, als würden sie sich für einen starken Sturm vorbereiten.

Ich ließ meinen Blick schweifen bis hinaus auf den Horizont, rings um uns herum wippten Schaumkronen im endlosen Wasser. Papa hatte gesagt, wir würden einige Tage lang unterwegs sein. Bis ich mein endgültiges Ziel erreicht hätte, würden Wochen vergehen. Was wohl aus meiner Schwester Jalla werden sollte, wenn ich nicht mehr da war? Würde sie mich vermissen oder schon bald vergessen haben? Papa hatte mir von den anderen Mädchen erzählt, die in den Jahren zuvor den gleichen Weg angetreten hatten wie ich jetzt. Sie würden den Göttern nun beistehen im Kampf um den Vulkan Hekla, der von Zeit zu Zeit sein großes Maul öffnete, um alles zu verschlingen, was sich ihm in den Weg stellte. Menschen, Tiere, Häuser und sogar ganze Dörfer. Niemand hatte mir erklärt, was ich auf dem Weg zu den Göttern tun musste, aber mein Vater hatte mich stolz angesehen und mir versichert, dass ich als Auserwählte ohne Schmerzen in den Olymp der Götter aufgenommen würde. Eine große Ehre, die nur wenigen Mädchen in unserem Stamm zuteilwurde.

Meine Hand krallte sich in die Wollweste meiner Mutter, mein Kopf lag seitlich auf ihrer Brust, und die Welt um mich herum wurde unwichtig. Ihren warmen Fellmantel hatte sie schützend um mich gelegt, um, so gut es ging, die kalten Winde von mir fernzuhalten.

Mit dem gleichmäßigen Schaukeln der Wellen und begleitet von dem knarzigen Schlaflied der Schiffsbohlen glitt ich in einen tiefen Schlaf.

Meine Mutter zuckte zusammen, und ein Schrei entfuhr ihr. Sofort war ich hellwach. Ein Blitz war in einen der Masten eingeschlagen. Das Krachen dröhnte laut in meinen Ohren. Der Mast splitterte und schlug mit gewaltigem Lärm auf die Schiffsbohlen. Seile, Segel und Holzteile flogen durch die Luft. Die Männer konnten sich durch einen Sprung auf die Seite retten, doch alles geschah rasend schnell.

Geistesgegenwärtig riss mich meine Mutter mit sich, bevor auch unser Schlafplatz von den herabstürzenden Holzteilen getroffen wurde. Um uns herum herrschte Chaos. Immer wieder blitzte es grell über uns. Erschrocken krallte ich mich in das Bein meiner Mutter, das in ein weiches Leder gewickelt war. Ungläubig starrte ich auf die gespenstische Szenerie: Gleißendes Licht erhellte die Oberfläche des Decks und ließ die Verwüstung erahnen. Wie Knochen ragten die verkohlten Splitter des Hauptmastes aus dem Schiffsboden. Um uns herum schäumte und zischte das Meer, der Wind peitschte den Regen fast waagerecht über das Deck.

Das Schiff bekam in diesem Moment eine schwere Schlagseite und ließ uns beide taumelnd an der Reling Halt suchen. Strömender Regen peitschte den Seeleuten das Haar wie nasse Algen ins Gesicht, als sie unter großer Kraftanstrengung versuchten, den Mast ins Wasser zu zerren. Hastig zertrennten sie die Takelage, die ihn und die Segel immer noch mit dem Schiff verband. Doch der größere Teil hing noch auf Deck, und der Mast bewegte sich kaum von der Stelle. Erstmals spürte ich so etwas wie Angst unter den erfahrenen Männern, die Lässigkeit und Ruhe war einer verzweifelten Hektik gewichen.

Meine Mutter hielt mich vor sich fest. Wir waren an der Reling entlang immer weiter Richtung Heck zurückgewichen und spürten das Schiff unter uns schlingern und röhren. Verzweifelt klammerten wir uns an allem fest, was nicht davongespült werden konnte. Der umgeknickte Mast brachte den Rumpf in eine gefährliche Schieflage, und wir hielten uns am hinteren Ende des Schiffsrands fest, um nicht über die Reling zu fallen. Wasser schwappte schwer über den Bug des Schiffes hinweg, jedes Mal, wenn es in ein Wellental hineintauchte. Der Zähne fletschende Dämonenkopf kämpfte gegen eine Wasserwand, die uns in unserer Hilflosigkeit zischend und gurgelnd zu verhöhnen und nach Opfern zu verlangen schien. Würden wir die nächsten sein?

Schließlich spürte ich, wie Mamas Schal sich um meine Brust wickelte; geschickt band sie mich damit an ihren eigenen Körper, um sicherzugehen, dass ich nicht über Bord geschwemmt wurde.

»Ich lasse dich nicht allein, mein Kleines«, flüsterte sie mit fester Stimme in mein Ohr, als hätte sie meine Gedanken erraten. Aber ich sah, dass ihre Finger zitterten. »Die Götter werden dich beschützen, du bist …«

Ein lautes Krachen übertönte ihre Stimme, und ein gewaltiges Blitzarsenal erleuchtete den Horizont. Hinter mir spürte ich den Körper meiner Mutter zusammenfahren. Sie hatte es also auch gesehen … Das, was ich im Aufzucken des weißen Lichtes bemerkt hatte, erschien mir riesiger als alles, was ich je zuvor gesehen hatte. Direkt vor uns ragte eine schwarze Wand auf, mehrere Schiffe hoch, und kam drohend auf uns zu. Wie ein Berg, der sich in Bewegung gesetzt hatte, um uns zu zermalmen.

Hinter mir entfuhr Mutter ein erschrockenes: »Bei allen Göttern, was ist das!«

Und auf einmal stand die Zeit still.

Wir starrten die schwarze Riesenwelle an, ohne zu begreifen, was passieren würde. Selbst die Seeleute hielten in ihren Bemühungen inne, das Schiff wieder klarzumachen. Sie fixierten einfach nur bewegungslos diese wogende Wand, die sich vor unserem Bug auftürmte, denn sie wussten, es gab keine Chance, dem zu entrinnen.

Wie in Zeitlupe sah ich jenes Wasserungetüm unser Schiff von vorn hochdrücken und an der Wellenwand entlang in die Senkrechte heben. Der Holzrumpf ratterte und ächzte unter dieser Belastung. Der zerstörte Mast polterte rumpelnd an uns vorbei in die Tiefe und mit ihm ein paar verlorene Seeleute. Das Brüllen der Männer verlor sich im Lärm, das Schreien meiner Mutter konnte ich nur hören, weil sie mich so fest an sich drückte. Ich sah noch den Drachenkopf standhaft den Wellenkamm brechen, dann drehte sich das Schiff gurgelnd auf den Rücken, und das schwarze Wasser umfing mich und alle, die mein Schicksal teilten, mit seinen eisigen Armen.

Es war auf einmal still. Sehr still. Das Donnern, Bersten und Krachen von Metall und Holz wurde erstickt von den Lauten unter Wasser. Ich konnte ein dumpfes Brodeln hören und spürte, wie meine Mutter kräftig um sich schlug und ruderte. Ich glaubte, die Schreie der Seeleute zu hören. Aber war das möglich?

Ich blieb überraschend ruhig. Die Panik von vorhin wich einem Gefühl von Gewissheit. Ich akzeptierte mein Schicksal, ließ mich schweben. Und in der Schwärze der Tiefe fühlte ich mich seltsam geborgen. Irgendwo zwischen Himmel und Erde, als hätte mich das Meer wie einen Gast freundlich empfangen. Die Kälte spürte ich kaum, ich hatte mich schon immer wohl gefühlt, wenn andere bitterlich froren. Wäre da nicht die Atemnot gewesen, das Brennen in den Lungen. Wir durchstießen die Wasseroberfläche, wild rudernd, keuchend und japsend hatte meine Mutter es geschafft, uns beide an die Oberfläche zurückzubringen. Dafür hatte sie ihr Eisbärenfell abgestreift, das jetzt in die Tiefen des Meeres sank. Dankbar sog ich die kostbare Luft ein.

»Bist du verletzt, Enja?«, japste Mama, während sie hektisch an der Wasseroberfläche ruderte.

»Nein … bitte lass mich selbst schwimmen!«

Ich war noch immer an ihr festgebunden, jetzt löste sie den Schal mit zitternden Händen und hielt mich an den Händen fest. Sie wusste, dass ich gut schwimmen konnte. Wahrscheinlich hatte sie nur Angst, dass das tobende Wasser mich ihr entreißen könnte.

Die See um uns herum wogte noch immer, wenngleich die Wellen etwas sanfter wurden. Im Licht der Blitze versuchten wir, etwas vom Schiff zu erkennen, aber nur einzelne herumtreibende Bruchstücke waren auszumachen. Die Riesenwelle musste das Schiff zerdrückt und die Männer unter sich begraben haben. Wie und warum wir überleben konnten, war mir ein Rätsel. Inzwischen spürte ich, wie die Kälte des Wassers langsam in meine Knochen zog. Sie würde uns in kürzester Zeit töten.

»Wir werden im Wasser nicht lange überleben. Halte Ausschau nach etwas Schwimmendem, vielleicht ein Stück Holz vom Schiff …« Die Stimme meiner Mutter klang mühsam, sie vibrierte vor Kälte, und vor ihrem Mund entstanden kleine Dampfwölkchen. Die Blitze waren weiter hinter den Horizont gewandert, das Donnergrollen folgte mit größerem Abstand. Die dunklen Wolken verzogen sich grummelnd mit dem Gewitter, auch die Wellen hatten sich ausgetobt und schaukelten uns nicht mehr ganz so zornig auf der aufgewühlten Oberfläche hin und her. Dafür kam hinter den Wolken der Mond hervor und wirkte über unser Schicksal erhaben. In seinem Lichtschein sahen wir weit und breit keine Menschenseele, kein Land und kein Schiff waren in Sicht.

»Werden wir sterben?« Meine Stimme war nur ein Flüstern, aber über das Klappern der Zähne hinweg konnte sie es trotzdem hören.

Sie keuchte auf, als hätte die Kälte ihr die Lungen zugefroren. »Nein, es darf nicht sein, es darf einfach nicht sein …«, kam es über ihre zitternden Lippen. Ihre wachsende Verzweiflung war in jeder Faser spürbar und brachte mich zum Weinen. Meine stolze, selbstbewusste Mutter wusste nicht mehr weiter. Ihre Hilflosigkeit wurde ein Spiegel meiner schwindenden Hoffnung. War dies das Ende? Konnte es sein, dass die Götter uns auf diese Reise geschickt hatten, um uns zu töten? War ich doch nicht die Auserwählte, oder waren sie über etwas erzürnt? Ich sah im vom Mondlicht erhellten Gesicht meiner Mutter, dass sie ähnliche Gedanken hatte, auch wenn sie versuchte, ihre Angst nicht zu zeigen. Ihre Lippen bebten. Vielleicht betete sie um ein kleines Wunder. Wie klein doch der Mensch war, wenn die Götter ihre Fäuste schwangen.

Wild ruderte ich mit meinen Armen, um mich über Wasser zu halten. Immer wieder spritzte Wasser in mein Gesicht und meine Augen, die vom Salz bereits unangenehm brannten. Durch die Anstrengung blieb aber wenigstens ein wenig Wärme in meinem Körper. Plötzlich sah ich etwas, das meine Aufmerksamkeit erregte.

»Mama, sieh doch, dort!« Ich zeigte auf eine schemenhafte Form unweit vor uns, etwas, das im Wasser trieb. »Es schwimmt, vielleicht kann es uns tragen!«

Mit einem letzten Aufbegehren der schwindenden Kräfte gelang es uns, zu dem Gegenstand zu schwimmen, der recht stabil im Wasser lag. Es war die Holzkiste, neben der wir geschlafen hatten. Sie musste sich vom Schiff losgerissen haben, und jetzt trieb sie mit dem Boden nach oben im Meer. Meine Mutter half mir, mich auf die Holzfläche zu ziehen, und ich lag dort ausgestreckt wie ein toter Fisch, nach Gleichgewicht ringend. »Es … es ist Pl… Platz für zwei!«, rief ich zitternd und klammerte mich an dem Holzgriff der Kiste fest. Mama versuchte, sich hochzuziehen, und das Holz neigte sich gefährlich unter die Wasseroberfläche. Sie hielt sofort inne und ließ sich wieder ins Wasser gleiten. Der Untersatz wankte bedrohlich von links nach rechts. Ihre nassen Haare schimmerten silbern. Sie atmete jetzt ruhig und flach, als würde sie Kraft holen für einen neuen Versuch. Aber sie bewegte sich nicht, hielt sich nur am Rand der Kiste fest.

»Mama, du musst aus dem Wasser, je… jetzt!« Meine Stimme war dünn, zerbrechlich. Ich ahnte, was kommen würde, und kämpfte mit aller Macht gegen das Schicksal an. Grimmig schloss ich die Augen und biss die Zähne aufeinander, bis sie knirschten.

»Du kannst es schaffen, ich halte dich fest …«, presste ich heraus.

Das Wasser gluckste. Als meine Mutter sprach, war ihre Stimme leise und klang unendlich müde. Sie hatte aufgehört zu zittern. »Das Holz trägt uns nicht beide. Es wird dich retten, du wirst leben, Enja. Du bist die Auserwählte, und die Götter werden dir helfen.« Ich merkte durch meine geschwächten Sinne, wie die Kraft sie verließ. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich liebe dich, Kleines, ich werde immer bei dir sein. Hier, nimm das und trage es. Es wird dich beschützen. Es ist das Band, das uns verbindet.«

Damit zog sie sich mit einer mühevollen Bewegung die Kette mit dem Amulett vom Hals und streckte ihre Hand zitternd aus. Ich ergriff sie gerade noch, bevor sie ins Wasser fallen konnte. Es war der ovale Stein, mit dem ich immer gespielt hatte, wenn ich auf ihrem Schoß saß, ein schlichter schwarzer Stein mit einer silbernen Fassung an einem Lederband. Entschlossen legte ich ihn mir um meinen Hals, und es schien mir, als würde etwas von meiner Mutter gerade auf mich übergehen. Wärme oder Kraft? Ich konnte es nicht sagen, der Stein erschien mir wärmer als mein eigener Körper.

»Mama, bleib bei mir!« Ich bekam den Satz kaum über die Lippen, eine Welle des Entsetzens überrollte mich, raubte mir die Stimme. Im nächsten Moment ließ sie auch schon die Kiste los, trieb langsam von mir weg. Ihre letzten Worte erreichten mich nur noch als Flüstern über dem Wasser, als wäre sie bereits eins geworden mit ihrem nassen Grab: »Gib nicht auf, Enja, du trägst jetzt auch meine Kraft in dir.« Ihr Kopf war nur noch ein dunkler und immer kleiner werdender Umriss in der unendlichen Weite des Meeres.

Meine Sicht war auf einmal verschwommen von meinen Tränen, alles schien zu zerfließen. Es wurde still um mich herum, das Meer schien mich in den Schlaf wiegen zu wollen und hörte auf, an meiner Holzkiste zu zerren. Dankbar ergab ich mich einer bleiernen Müdigkeit, die mir fürs Erste meinen Schmerz nahm und mich in einen erschöpften Schlaf fallen ließ …