Ich wusste nicht, wovon ich aufwachte, ob von dem Licht der ersten Sonnenstrahlen oder dem Schaukeln der Wellen. Meine Hände und Füße waren taub vor Kälte, mein Kopf brummte. Die Zunge war angeschwollen, die Lippen fühlten sich rissig an. Ich war schon die zweite Nacht hilflos auf der Wasseroberfläche getrieben, ohne Trinkwasser und ohne Nahrung. Vielleicht wäre es besser gewesen, mit meiner Mutter den Tod im Schlund des Meeres zu finden, als qualvoll auf einer Holzkiste treibend zu sterben. Aber ich hatte Angst vor dem Tod und noch mehr davor, das meiner Mutter gegebene Versprechen zu brechen.
»Nein«, krächzte ich mühsam, »nein, ich werde nicht sterben, ich werde leben …«
Meine Augen hatten keine Tränen mehr, sie waren trocken und verschwollen. Mühsam blinzelte ich. Als ich meine Lippen vorsichtig ableckte, schmeckte ich den salzigen Geschmack der See, der sofort den grausamen Durst verstärkte.
Tag und Nacht schienen eins geworden zu sein, das Zeitgefühl war mir verlorengegangen. Um mich herum sah ich nur Wasser, endloses tiefschwarzes Wasser, als wäre die restliche Erde geradezu verschluckt worden von dieser nicht enden wollenden Masse. Dazu schnürten mir die Gedanken an den Tod meiner Mutter die Kehle zu. Ich sah ständig ihr Gesicht mit den traurigen Augen vor mir, eingebrannt in mein Gedächtnis. Das letzte Bild von ihr, einsam in den Wellen treibend, blieb, selbst wenn ich meine Augen schloss. Sie hatte tapfer um mich gekämpft, mich gerettet, aber ihr Leben dafür gegeben. Wo sie jetzt wohl war?
Nach dem Glauben unserer Väter würde sie nach dem Tod eine neue Welt betreten und dort ihren Rang einnehmen, den sie sich während ihres Lebens verdient hatte. Ich hoffte, dass sie dort, wo sie sich jetzt befand, glücklich war. Vielleicht schaute sie ja gerade auf mich herunter? Die Vorstellung gab mir neue Kraft. Sie durfte mich so nicht sehen, wie ich mit meinem Schicksal haderte, womöglich noch den Kampf verlor. Wenn sie mich sehen konnte, konnte sie mich denn dann auch hören?
»Ich vermisse dich!« Verzweifelt suchte ich nach einem Lebenszeichen, nach ihrem Gesicht, dem Gesicht einer Göttin. Aber ich erkannte kaum noch etwas in meiner Nähe, meine Sicht war verschwommen, die Augen brannten inzwischen wie Feuer, und ich presste sie gegen den Schmerz fest zusammen. »Mama …«, schluchzte ich immer wieder, und meine Stimme erstarb in einem trockenen Krächzen. Ich legte kraftlos den Kopf auf das Holz und dämmerte ein.
»Hohoo«, drang es an meine Ohren, »hooohooo!« Orientierungslos hob ich den Kopf und öffnete mühsam die Augen. Ein Schatten fiel auf mich. Ein großer Schatten. Es war ein Schiff, ich hörte das Knarzen des Holzes und das Schlagen der Wellen gegen den Rumpf. Jetzt waren auch mehrere Stimmen auszumachen, die mir aufgeregt etwas zuriefen. Ich konnte sie nicht verstehen, es war eine andere Sprache oder ein Dialekt. Unser Volk hatte nicht viel Kontakt zu anderen Stämmen, aber manchmal kamen Reisende durch unser Dorf und verkauften allerlei. Wir Kinder begegneten ihnen aufgeregt und neugierig, daher kannte ich den einen oder anderen Zungenschlag.
Aber die Sprache, die jetzt an mein Ohr drang, klang seltsam melodisch, kehlig mit hohen und tieferen Tönen, und ich hatte sie noch nie gehört. Die Fremden zogen meine Holzkiste mit einem Enterhaken näher. Einer der Männer war über Bord geklettert, packte mich geschickt um die Taille und ließ sich von den anderen nach oben ziehen. Er legte mich wie einen nassen Sack mit dem Gesicht nach unten auf ein Fass, das ranzig roch. Meine Arme und Beine hingen taub herunter. Durst!, wollte ich schreien, ich brauche etwas zu trinken! Aber ich bekam keinen Laut heraus.
Mein Retter lächelte und sprach ein paar Worte dieser kehligen, melodischen Sprache. Ich schüttelte schwach den Kopf, ich verstand ihn nicht. Er setzte mich auf wie eine Puppe und fing an, Hände und Füße zu massieren. Dabei unterhielt er sich mit den anderen Seeleuten, die allesamt auffallend dunkle Haut und dunkle Haare hatten. Die Augen waren ebenfalls dunkel, fast schwarz. Aber dann waren die einzelnen Gesichter wieder so unterschiedlich, als hätte sich jemand bemüht, möglichst viele unterschiedliche Typen an diesem kleinen Ort zusammenzubringen. Mein Lebensretter war groß und schlank, er hatte ein jugendliches, freundliches Gesicht, wäre da die Narbe nicht gewesen, die von seiner Schläfe bis zum Ohransatz eine hässliche Geschwulst hinterließ und in einem gestutzten Ohr endete. Diese Wunde war sicher einmal sehr schmerzhaft gewesen.
Er spürte wohl, wie ich ihn musterte, denn er lächelte etwas schief. Langsam kehrte wieder Leben in meine Gliedmaßen zurück, die Schmerzen zeigten mir, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Die Tränen schossen in meine Augen, und ich hielt verkrampft die Luft an. Nein, ich würde nicht schreien!
Neben ihm stand ein kleiner, dicker Mann mit lichtem Haarkranz auf und rannte los, um eine Decke zu holen. Sie stank nach Urin und war zerrissen, aber ich nahm sie dankbar an. Der Dicke grinste jetzt schmierig und zeigte ein Gebiss, das nur noch aus ein paar schwarzen Zähnen bestand. Er sprach mit meinem Retter, und der Mimik nach berieten sie wohl, was sie mit mir anstellen sollten, denn immer wieder fiel sein dunkler Blick abschätzend auf mich.
Der Jüngere stutzte einen Moment und fixierte meine Kette. Er nahm den am Lederband hängenden Stein in seine Hand und drehte ihn vorsichtig. So etwas wie Enttäuschung war in seinem Blick zu lesen, und er ließ das Amulett kopfschüttelnd wieder fallen. Der kleine Dicke bellte etwas, das für mich aggressiv klang, und verzog verächtlich das aufgedunsene Gesicht. Seine Augen lagen in den tiefen Schatten seiner Augenhöhlen und funkelten gefährlich. Gleich darauf verfinsterte sich das Gesicht des Jüngeren, er entgegnete etwas, und ich zog instinktiv meine Beine an.
»Ich habe Durst.«
Es war ein verzweifelter Versuch, die Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken, denn meine Kehle tat so weh. Sie verstummten gleichzeitig und blickten mich beide an, als hätten sie vergessen, dass ich noch da war, aber sie verstanden mich nicht.
»Trinken«, wiederholte ich und unterstrich meine Worte mit einer eindeutigen Geste.
Sofort reichte mir der Dicke seinen Lederbeutel mit Wasser. Es schmeckte abgestanden und leicht salzig, aber es war das Beste, was ich je getrunken hatte! Interessiert beobachteten mich die beiden Männer, wie ich gierig den Lederbeutel entleerte. Dann schüttete ich mir etwas davon in die hohle Hand und wusch mir das Gesicht. Dankend gab ich den Beutel wieder zurück und fuhr mir mit dem Ärmel über die Augen.
Erst jetzt fiel mir auf, dass die Männer schlecht gekleidet waren, die dreckigen Tücher um ihren Leib nur mit einem Gürtel zusammengehalten. Darin steckte ein großer Dolch mit einer gebogenen Klinge. Die Männer trugen weite Hosen, die in Lederschuhen mündeten, speckig und verschlissen.
Bewaffnete Männer sind immer gefährlich, hatte mein Vater gesagt, daher war ich auf der Hut. Doch insgeheim wusste ich, dass ich den beiden völlig ausgeliefert war. Was, wenn sie mich wieder über Bord werfen würden, weil ich ohne Wert für sie war?
Die übrigen Männer schienen sich wieder mit ihren Aufgaben zu beschäftigen. Ich legte den Kopf zurück. Es war ein großes Schiff mit zwei Masten und vielen Segeln. Ich fragte mich, wohin sie mich brachten. Was hatten sie mit mir vor?
Keiner der Männer machte Anstalten, mir etwas anzutun, im Gegenteil: Sie steckten mir noch ein Stück Brot zu, das so hart und trocken war wie die Nüsse, die Mama immer mit dem Stein aufklopfte. Aber ich war dankbar, auch wenn es eine Weile dauerte, es im Mund aufzuweichen. Ein wenig später brachte mir einer der Bootsjungen noch eine Suppe, in der ich das Brot einweichen konnte. Es war für mich wie ein Festmahl.
Mein Lederkleid, von meiner Mutter in vielen Stunden Arbeit reich bestickt, war immer noch nass, und im frischen Fahrtwind fing ich trotz der Decke an, wieder auszukühlen, und zitterte. Der Bootsjunge, gerade mal einen Kopf größer als ich, sah das und brachte mich unter Deck in eine dunkle Kammer. Dort lag nur Stroh auf dem Boden und ein paar Fetzen Stoff, aber es war wenigstens warm und trocken. Es roch unangenehm scharf und modrig und erinnerte mich an verfaulte Fische im Brackwasser. Daher achtete ich sorgfältig darauf, dass ich mich nicht versehentlich auf einen toten Fisch oder dessen Überreste setzte.
Der junge Mann hängte eine Öllampe an einen Haken an der Decke und musterte mich verstohlen. Wir waren allein in der Kammer, und er sprach mich leise in dieser kehligen Sprache an. Ich schüttelte den Kopf, damit er wusste, dass ich ihn nicht verstand. Ohne mich aus den Augen zu lassen, kam er zu mir und kniete sich vor mich hin, sein Gesicht war ernst und fast ausdruckslos. Zögernd nahm er eine Haarsträhne aus meinem verklebten Haar und betrachtete sie neugierig. Sie war weiß, wie das Haar meiner Mutter, im Gegensatz zu seinem pechschwarzen Haar schien meines fast zu leuchten. Auch die beiden Männer an Deck hatten mein Haar neugierig inspiziert. Ich entzog ihm schüchtern die Strähne, und ein kleines Lächeln zeigte sich in seinem Mundwinkel. Er war hager, aber sein Gesicht hatte etwas Unschuldiges, und seine Augen blinzelten neugierig wie die eines Kindes. Sicher war er noch nicht lange an Bord dieses Schiffes mit seinen unheimlichen Gestalten.
Der schlaksige Junge fragte mich etwas, das klang wie »amrad baida«, und deutete auf mein Haar. Ich zuckte mit den Schultern, er rieb seine Finger aneinander. Es war das Zeichen für Reichtum bei uns, bei ihm auch?
Ich schüttelte den Kopf, ich hatte nichts bei mir. Er sah mich nur mitleidig an, stand hastig auf und zog sich an die rückwärtige Wand der Kammer zurück, als er hörte, wie die beiden Männer, die sich zuerst um mich gekümmert hatten, wieder zurückkamen. Sie hatten einen kleinen Krug mitgebracht, dazu ein Tuch, das sie nun neben mir ausrollten, und ein kleines, mit einem Holzpfropf verschlossenes und kunstvoll bemaltes Gefäß. Ich nahm es und drehte es in meinen Händen, so etwas Feines hatte ich noch nie gesehen. Es war kein Ton und auch kein Holz, und die Bemalung war so filigran und zart …
Vielleicht bringen sie mich zu meinem Volk zurück?, schoss es mir auf einmal durch den Kopf. Wenn ich mich doch nur verständlich machen könnte! Ich versuchte es mit ein paar wenigen Worten und Gesten, aber die beiden Männer sahen sich nur an und zuckten mit den Schultern. Mein Blick fiel wieder auf das kleine Gefäß in meiner Hand. Was wollten sie nur von mir?
Ich kauerte noch immer auf dem Stroh, als der Dicke hinter mich trat, mir das Gefäß abnahm, es vorsichtig zur Seite auf den Boden stellte und mir dann beide Arme nach hinten bog. Ich wehrte mich nur kurz, denn er war viel zu stark, und es tat mir weh, sobald ich mich gegen ihn stemmte. Geschickt band er einen Strick um meine Handgelenke und legte mich flach auf den Boden. Meinen Hinterkopf presste er mit einer Hand auf das Stroh, mit der anderen hielt er meinen Mund zu.
Ich fing in meiner Verzweiflung an zu zappeln und mich zu wehren, aber er hielt mich fest. Der Langhaarige mit der Narbe im Gesicht grinste schief. Es sah aus, als würde er sich an meiner Hilflosigkeit ergötzen. Diese beiden Männer würden mir weh tun, dessen war ich mir plötzlich sicher, und ich bot meine ganze Kraft auf, mich von ihm loszureißen. Doch der großgewachsene Jüngere kniete sich nun auf den Boden, legte sein langes Bein quer über meinen Oberschenkel und umklammerte mich. Ohnmächtige Wut schoss in meinen Bauch: Was hatten sie vor, warum behandelten sie mich so?
Sie sprachen kein Wort, es war, als hätten sie das schon einige Male gemacht. Mit dieser Erkenntnis wurde mir kalt vor Furcht. Mein Herz klopfte vor Anstrengung oder Angst, ich konnte es nicht sagen. Durch die Nase bekam ich kaum genug Luft, und ich atmete hektisch. Die Hand über meinem Mund roch nach fauligem Gras, scharf und widerlich. Ich biss hinein, und der Dicke grunzte ärgerlich auf, nahm einen der Stofffetzen, die neben mir lagen, und stopfte ein Stück in meinen Mund. Ich würgte und versuchte zu schreien, aber brachte nur ein jämmerliches Wimmern hervor. Sie fesselten mir nun auch noch die Beine und warteten dann gemächlich, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte. Wütend schnaufte ich durch die Nase, während mir die Tränen über die Wangen liefen.
Das Narbengesicht, das auf einem Knie neben mir kauerte, fragte mich etwas mit diesen abgehackten Worten. Dem Ton nach zu schließen klang es wie »Weiter jetzt?«, und ich starrte ihn angsterfüllt an. Er grinste und wickelte etwas aus hellem Stoff neben der Wasserkaraffe. Es war ein Stück dünnes Metall, vorn spitz zulaufend. Er öffnete das zarte Gefäß, steckte den Metallstift hinein und zog ihn wieder heraus. Eine dunkle Flüssigkeit tropfte von der Spitze. Die Hände des Dicken umfassten jetzt wieder die Seiten meines Gesichts. Sein fauliger Atem war direkt über mir, und ich konnte zusehen, wie sich die dunkle Metallspitze meiner Stirn näherte. Dann presste ich die Augen zu und hielt den Atem an …
Der Schmerz war fürchterlich. Die metallene Spitze stach mir in die Haut zwischen meinen Augen. Es fühlte sich an, als würde er eine Linie ziehen. Zwischendurch hörte ich, wie das Gefäß leise klirrte, während er den Stift immer wieder in die Flüssigkeit eintauchte und die Metallspitze am Rand vorsichtig abklopfte. Anscheinend war er zufrieden, denn er wischte nun mit einem nassen Tuch die schmerzende Stelle an meiner Stirn ab und betrachtete sein Werk näher. Dabei öffnete ich die Augen und sah ihn irritiert an. Mit Entsetzen erkannte ich, dass er den Stift wieder eintauchte und, oh, bei allen Göttern … Ich versuchte trotz des Knebels zu schreien, aber brachte nur ein dumpfes Heulen hervor.
Narbengesicht ließ sich von meiner Panik nicht beirren. Der Griff an meinen Kopf wurde nur stärker, und ich hörte schnell auf, mich zu wehren. Mein Kopf pochte schon von dem Druck und meinen vergeblichen Anstrengungen. Er stach nun links von der bereits gestochenen Linie wieder ein und zog quälend langsam senkrecht zur ersten eine weitere Linie.
Stich, Stich, Stich, dann eintauchen. Stich, Stich, Stich, eintauchen. Als er nun wieder das nasse Tuch über meine Stirn wischte, nahm er auch gleich den Schweiß mit, der sich dort gebildet hatte. Der gnadenlose Griff löste sich von meinem Kopf, und ich erlaubte mir die Hoffnung, dass es vorbei wäre. Was hatten sie mir angetan? Wäre Mutter hier gewesen, hätte sie die beiden mit ihren Flüchen in die Flucht geschlagen.
Ich vermisste sie so …
Anscheinend zufrieden mit ihrem Werk, packten sie die Utensilien wieder zusammen und erhoben sich. Mit seinen schmutzigen Fingern tätschelte der Dicke mir noch die Wange, und ich hätte sie am liebsten weggeschlagen, aber meine Hände waren immer noch auf den Rücken gefesselt. Sie hatten mir den Fetzen Stoff aus dem Mund genommen und lösten nur die Fußfesseln. Ich sollte mir offenbar nicht ins Gesicht greifen können. Dann ließen sie mich allein in meiner Verwirrung und meinem Schmerz. Mein Kopf pochte und hämmerte immer noch, die zwei Linien zwischen meinen Augen brannten und pulsierten. Es dauerte lange, bis ich erschöpft einschlafen konnte.
* * *
Muza im Jahre 1293
Der Unterricht endete an diesem Nachmittag früher als gewöhnlich. Die Hitze war selbst in unseren abgedunkelten Studienraum vorgedrungen und ließ uns schnell müde werden. Meister Abdallah schickte uns daher mit ein paar Aufgaben zurück in unsere Räume, denn auch er gähnte. Ein dicker Schweißfilm glänzte auf seiner dunklen, faltigen Haut.
»Vergiss nicht, nach dem Abendmahl zu mir zu kommen, Enja.« Seine Stimme war zurückhaltend, und sein Blick verriet nichts. Er drehte sich um und lief mit seinen Papierrollen unter dem Arm und einem wehenden Kaftan den schattigen Gang hinunter. Jasemin stupste mich von hinten an und lachte leise.
»Vielleicht gibt er dir noch ein paar Stunden Farsi?«
»Ich denke nicht, dass ich etwas falsch gemacht habe«, entgegnete ich trotzig, aber sicher war ich mir nicht.
Wir überquerten den von der Sonne beschienenen Platz etwas schneller, denn die Steine unter unseren nackten Füßen waren heiß von der Nachmittagshitze.
»Gehen wir hinunter in die Therme? Jetzt, wo es noch so warm ist, schlafen die meisten, da können wir uns ungestört ausbreiten.«
Jasemin sah mich erwartungsvoll an. Sie zog ihre Stirn kraus, und die eingestochenen schwarzen Linien zwischen ihren Augen verzogen sich. Ich nickte, hakte mich lächelnd bei ihr unter, und wir bewegten uns gut gelaunt Richtung Therme. Dieser Bereich des Palastes war tief in den Katakomben angelegt und glänzte mit einem in den Felsen gehauenen Becken heißen Wassers. Dort konnten sich die Bewohner, Frauen und Männer getrennt, waschen und entspannen. Öllampen erhellten diesen Bereich und spiegelten sich in den Becken, die Lichtquellen multiplizierten sich so zu einem faszinierenden Spiel tanzender kleiner Leuchtpunkte.
Jasemin hatte das gleiche Kreuz auf der Stirn wie ich, eine lang gezogene senkrechte Linie mit einer kurzen Querlinie, die die lange Linie kreuzte, genau zwischen den Augen. Es sah aus wie das umgekehrte Zeichen Christi, wie uns der muealam alquran, der Koranlehrer, gesagt hatte. Es war das Zeichen für das gefallene Kreuz der Christen, eingestochen in die Stirn und für jeden das sichtbare Zeichen meiner Unterwerfung. Ich war eine Leibeigene, gehörte einem anderen Menschen mit Leib und Seele und war so viel oder so wenig wert wie ein Stück Vieh.
Damals auf der langen Reise an Bord des Schiffes hatte ich die Sprache der Araber so gut gelernt, dass die Seeleute mir die Bedeutung dieses Zeichens erklären konnten und was ich zu erwarten hatte. Die beiden Männer, die mich aus dem Meer gefischt hatten, waren Menschenhändler und machten mich mit diesem Zeichen zu einer Sklavin. Über einen so seltenen und lukrativen Fang wie mich rieben sie sich die Hände, denn helles Haar war besonders gefragt unter den Sklavenhändlern. Ich würde sicher an einen Mann verkauft, so sagten sie, der einen hohen Preis bezahlen und mich bestimmt gut behandeln würde. Vielleicht sagten sie das auch nur, um mich zu beruhigen. Jedenfalls waren die beiden fest davon überzeugt, dass ich eine fette Beute war, und gaben mir reichlich zu essen und zu trinken. Sie selbst tranken großzügig von der Flüssigkeit aus einem Tonkrug, der in wenigen Stunden zu einer größeren Heiterkeit führte als die Aussicht auf einen guten Handel.
Sie erklärten mir auf dieser Reise auch, wie das Land hieß, aus dem sie kamen und in das ich mit ihnen zurückkehren würde. Sie nannten sich selbst earabiin. Sie stammten aus einem Land weit im Süden, dort, wo die Sonne unterging, es hieß in ihrer Sprache ’ardu alearab. Mein Vater hatte mir einmal erzählt, dass es Länder gebe, die sehr heiß seien und in denen die Menschen einen anderen Gott anbeteten. Dieser Gott gebe ihnen kein Wasser, daher müssten sie sehr leiden. Wir dagegen hatten für Wasser einen eigenen Gott und für das Feuer und für …
»Sieh nur, Zahra hatte die gleiche Idee«, rief Jasemin plötzlich, und ich erspähte unsere Freundin, die auch die Treppen hinunterlief, um in die unterirdischen Baderäume zu gelangen. Die nackten, zierlichen Füße klatschten dabei rhythmisch auf dem Boden.
»Zahra!«, riefen wir beide gleichzeitig, und das blasse Mädchen mit pechschwarzem Haar blieb stehen und blickte erwartungsvoll auf der Treppe zurück. Sie lächelte uns schüchtern zu. Sie war sehr zierlich und größer als Jasemin. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie wirklich war, aber sie wirkte schon viel weiblicher als ich. Zumindest wölbte sich ihr seidener Jilbab an Stellen, die bei mir noch völlig flach waren. Und auch ihr Schamhaar war schon gewachsen, das konnte ich im Bad immer gut sehen, ohne dass es auffiel. Jasemins und mein Körper waren dagegen noch viel kindlicher.
Kichernd liefen wir in unseren wehenden Seidenkleidern die letzten Stufen hinunter zu den Frauenkammern. Auf dem Weg löste ich schon ungeduldig den zarten Schleier, der mein Haar bedeckte. Vorbei an den endlosen Öllampen, die das in den Naturstein gehauene Gewölbe erhellten. Es war angenehm temperiert hier unten, die Hitze konnte bis in diese Tiefe nicht vordringen. Tatsächlich waren um diese Zeit noch keine Badenden hier, und wir konnten uns ungestört ausziehen und in das Wasser tauchen, das durch unterirdische Quellen angenehm warm war. Was für ein Unterschied zu dem kalten Wasser in meiner Heimat! Meine Erinnerung daran war noch sehr lebendig und das Gefühl von Eis und Schnee unter meinen nackten Füßen nicht vergessen. Als Kinder quiekten wir vor Vergnügen, wenn wir uns Schneebälle zuwarfen. Hier dagegen war alles sehr warm, sogar das Wasser. Die einzige Erfrischung empfanden wir dann, wenn wir uns nackt auf die glatten Steine der Thermentreppe legten, um uns auszuruhen, da das Wasser auf der Haut für Kühlung sorgte. Es war ein echter Luxus, vorgesehen für die Damen des Hauses und für die Mädchen, die das Privileg hatten, hier Unterricht zu erhalten.
Vielleicht hatte ich damals ja Glück gehabt, hierhergekommen zu sein. Bei meiner Ankunft im Hafen dieser riesigen Stadt, die die Seeleute Muza nannten, hatte es nicht gut für mich ausgesehen.
Es war an diesem Tag so heiß und stickig gewesen, dass die Luft flimmerte. Mein Lederkleid tauschte der narbige Abadin, der jüngere meiner beiden Peiniger, bei der Ankunft gegen ein gerade geschnittenes Kapuzenkleid aus einfachem Leinen. Sie nahmen mir die Schuhe, und der heiße, sandige Dreck der Hafenmole war unangenehm an den bloßen Füßen. Meine festen Stiefel hatten die Männer vermutlich teuer für Proviant verkauft. Nach Wochen ohne festes Land unter den Füßen waren aber selbst der Sand und Dreck eine willkommene Abwechslung.
Abadin und der dicke Burak, die mir in den Wochen unserer Seereise irgendwann ihre Namen genannt hatten, brachten mich an einen Ort in der Hafenstadt Muza, der wie ein Marktplatz aussah. In der von Lehmhäusern umbauten Mitte des plattgetretenen Sandplatzes befand sich eine Art Podest aus grobem Holz, auf dem einige Kinder in mehr oder weniger guter Verfassung saßen, standen oder lagen. Sie starrten mich stumpf an, als ich mit den beiden Männern eintraf, die Gesichter ausgemergelt und apathisch. Sie waren der Hitze und der prallen Sonne ausgesetzt. Unangenehm schlug mir der Geruch von Schweiß und Urin in der wabernden Luft entgegen. Mein eigener Schweiß rann meinen Rücken und die Beine hinunter. Sah ich etwa auch so jämmerlich aus? Ich hoffte es nicht. Zumindest fühlte ich mich nicht so, denn ich hatte von meinen Missetätern zu essen und ausreichend zu trinken bekommen.
Ein Sklavenhändler, der sich behäbig im Schatten sitzend mit einem Strohfächer Luft zufächelte, stand auf und begrüßte die beiden mit einer unterwürfigen Verbeugung. Sein Kaftan war dreckig und klebte verschwitzt an seinem Körper. Sein Gesicht zuckte eigenartig, was mich irritierte, und der Widerwillen stand mir sicher ins Gesicht geschrieben. Erst nach langer und lauter Verhandlung mit ausladender Gestik wechselte ich dann wohl für ein Säckchen voll Münzen oder Edelsteine den Besitzer. Um einen Blick auf das Säckchen zu erhaschen, reckte ich meinen Hals, aber so laut die Verhandlung vonstattengegangen war, so unauffällig erfolgte die Übergabe.
Erst als der schmierig und zufrieden lächelnde Händler mich weg von den beiden auf das Podest geführt und meine Hände wie die der anderen Kinder an eine Leine gefesselt hatte, wurde mir klar, dass ich jetzt verkauft werden sollte. Das Gefühl, zu einem Gegenstand geworden zu sein, der von einer Hand in die nächste wanderte, ließ mich zutiefst beschämt zusammensinken. So wie all die anderen Menschen an dieser Leine. Abadin und Burak trollten sich und klopften sich gegenseitig auf die Schulter, zufrieden und mit vollen Taschen, um in der nächsten Absteige das erworbene Feste in Flüssiges umzuwandeln. Ihrem zufriedenen Grinsen nach hatten sie mehr bekommen als erhofft, und in dieser lebendigen Hafenstadt fanden sie sicher jede Menge Möglichkeiten, um ihr Vermögen auszugeben.
Wie um uns hoffnungslose Kinder zu verspotten, schien die Stadt um diese Zeit in lähmender Stille zu verharren, die Mittagshitze brachte den Sand in den Straßen zum Glühen und die Luft zum Flimmern. Nur wenige Menschen waren in dem Glutofen unterwegs, und das auch nur, wenn es unbedingt notwendig war. Ich hatte meinen Blick umherschweifen lassen, um mich wenigstens etwas von dem Anblick der traurigen Gestalten um mich herum abzulenken. Nach den vielen Wochen unter Deck war ich glücklicherweise noch kräftig genug, um selbst zu essen. Ein paar der mageren und zerlumpten Kinder hier waren dazu schon nicht mehr in der Lage. Sie standen wie Stoffpuppen ohne Lebensgeister an dem Seil aufgereiht, und die wenigen Menschen, die uns auf dem Marktplatz neugierige Blicke zuwarfen, rümpften nur argwöhnisch die Nase. Zum Schutz gegen die starke Sonne zog ich meine Kapuze über den Kopf und kauerte mich möglichst unauffällig hin. Vielleicht wollte mich ja gar keiner haben? Unsinn, redete ich mir selbst ein, dann hätte der Händler wohl nicht so viel für mich bezahlt. Dessen auffälliges Zucken im Gesicht hatte sich noch verschlimmert, jedes Mal, wenn er mir ins Gesicht sah. Hatte er meine beiden Häscher vielleicht sogar übers Ohr gehauen?
Am späten Nachmittag, ich hatte sogar ein wenig gedöst, spendeten uns die Lehmhäuser kühlenden Schatten. Die Geschäfte und das Markttreiben erwachten wieder zum Leben. Stimmen, Musik und Gelächter drangen an mein Ohr und zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Stadt hatte sich mit Reisenden aus allen Ecken des Orients, mit Seeleuten und den Händlern, die ihre Waren feilboten, gefüllt. Selbst ein paar der anderen Kinder schreckten aus ihrer Apathie hoch, um zu sehen, was um sie herum passierte.
Verstohlen beobachtete ich die Leute, die an uns vorbeieilten. Manche blieben stehen und schauten interessiert, andere deuteten auf diesen oder jenen, scheuten sich auch nicht, die armen Gestalten anzufassen. Gut, dass meine Mutter mich so nicht sehen konnte. Sie hätte wohl geweint. Der Gedanke an sie ließ mich meine Augen schließen. Es sollte niemand sehen, dass ich traurig war. Ich vermisste sie schmerzlich, meinen Vater und Jalla, ja, sogar das Wolfshundewelpen, das sie so verwöhnte. Heiß wallten die Tränen unter meinen Augenlidern hervor und liefen mir über die Wangen, ich musste krampfhaft schlucken.
Bisher war ich niemandem aufgefallen, denn ich hatte mein Gesicht tief unter meiner Kapuze vergraben. Aber ein älterer Herr in einem weißen, mit Goldfäden durchwebten Kaftan und einem mit glitzernden Edelsteinen bestickten Turban musterte mit scharfen Augen die lange Reihe zerlumpter Gestalten. Irgendwann deutete er dann sehr bestimmt auf mich, und der Sklavenhändler grinste zu mir herüber, nickte geflissentlich und huschte dann rasch zu mir. Mit einer schnellen Handbewegung zog er mir meine Kapuze vom Kopf und ließ mich aufstehen.
Die Miene des Turbanträgers hellte sich auf, als er mein Haar sah. Er stieg die Treppe zu uns empor und blieb leicht angewidert vor mir stehen. Vermutlich war ihm der Gestank lästig, denn seine Nase war leicht gerümpft. Er hatte ein strenges Gesicht mit einem kleinen dunklen Spitzbart, sein Mund war verkniffen. Erst als er mich genauestens musterte, bewegte sich sein Mundwinkel ein wenig nach oben – zu einem Lächeln? Wenn es ein Lächeln war, dann blieben seine Augen seltsam unbeweglich und kalt, das machte mir Angst.
Mit seiner Rechten wendete er mein Gesicht von links nach rechts. Schlanke, braune Hände entblößten meine Zähne, und er wickelte mein Haar um seine Finger. Ich hatte es nach unserer Ankunft im Hafen waschen und kämmen dürfen, und es lag nun glänzend wie Seide in seiner Handfläche. Als er sich mir näherte, nahm ich einen angenehmen, etwas süßlichen Geruch nach Gewürzen wahr. Anscheinend gab es in diesem Land auch reiche Menschen, denn seine Hände waren sauber und gepflegt. Sicher hatte er noch nie damit arbeiten müssen. Auf sein anerkennendes Nicken hin leuchtete schließlich das Gesicht des Sklaventreibers auf, und seine schwarzen Augen funkelten erwartungsvoll.
Der gutgekleidete Fremde ließ meine Fesseln lösen und mich zu meiner Schande meinen Kaftan ausziehen. Dabei musterte er mich mit durchdringenden Blicken, als würde er einen Edelstein auf seine Echtheit prüfen. Immer wieder blieb sein Blick an meinem Haar hängen, das in der Sonne glänzte wie Silber, und machte ein paar Schritte um mich herum, wobei er dann und wann nickte. Irgendwann ließ er mich meinen Kaftan wieder anziehen, meine Hände aber blieben frei. Jetzt war die Zeit für die Verhandlung über meinen Preis gekommen. Irgendwann gelangten sie wohl zu einem Konsens, und der Fremde reichte dem Händler wortlos ein paar Goldmünzen, die dieser mit vielen Verbeugungen annahm. Anschließend fasste mich der reiche Mann mit den feingliedrigen Händen am Handgelenk und führte mich die Treppe hinunter. An ein und demselben Tag hatte ich gleich zweimal meinen Besitzer gewechselt. Ich war erleichtert, dass ich diesem hoffnungslosen Ort entfliehen konnte, aber dafür wusste ich nicht, wohin es jetzt gehen würde. Nur so viel war mir klar: Der Fremde war mir weit lieber als der Sklavenhändler.
Forsch schob er mich durch die dicht stehenden Menschen zu einer Gruppe Männer in langen Gewändern und mit bunten Kopftüchern, die in einer Seitenstraße auf ihn warteten. Dort stieß ich zum ersten Mal auf das hässlichste Pferd, das ich je gesehen hatte. Es war riesig, hatte zwei Höcker auf dem Rücken und zotteliges Fell. Der Kopf hing an einem seltsam gebogenen Hals mit hängenden Lippen. Ich blieb vor Schreck stehen, aber sofort hoben mich starke Arme hoch und setzten mich auf die Kreatur.
Es fühlte sich an, als wäre ich wieder auf dem verunglückten Schiff bei schwerem Seegang. Die Männer in ihren weißen Kaftanen lachten nur über mich. Ängstlich krallte ich mich in die Decken, die zwischen den beiden Höckern befestigt waren, und konzentrierte mich darauf, nicht von diesem Höllentier zu fallen.
Einer der Männer band mein Tier an andere ebenso hässliche Pferde. Sie waren schwer beladen mit den unterschiedlichsten Waren. Dann verließen wir die Stadt. Sollte ich eine Arbeitssklavin werden, wie so viele andere Kinder? Oder würden sie versuchen, meine Familie ausfindig zu machen, um Lösegeld zu erpressen? Der Gedanke stach mir in diesem Moment wie ein Messer in meine Brust. Alles, was ich besaß, war meine Erinnerung, die Gesichter meiner Mutter und meiner Familie und der ovale Stein, den ich um den Hals trug und der so wertlos für meine Häscher war, dass ich ihn weiterhin tragen durfte. Ich ritt mit diesen fremdartigen Menschen einer ungewissen Zukunft entgegen, immer weiter von zu Hause weg.
Auf unserem Weg gaben sie mir reichlich aus ihren Wasserschläuchen zu trinken, die wohl aus dem Leder von Ziegen gemacht waren, denn ich kannte den Geruch, der von ihnen ausging. Es war ein vertrauter Duft in einer völlig fremden Welt, und ich musste das Verlangen unterdrücken, einfach draufloszukichern. Meine Nervosität, Anspannung, Angst, all diese Gefühle lösten sich mit dem vertrauten Geruch von Ziegenleder auf. War ich denn schon verrückt geworden vor Heimweh?
Vorsichtig sah ich mich auf meinem schwankenden Reittier um. Die Männer, die den reichen Edelmann begleiteten, waren so dunkel im Gesicht, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Immer wieder lächelten sie mir mit ihren strahlend weißen Zähnen aufmunternd zu, nahmen mir den Wasserschlauch wieder ab und steckten mir eine dunkle Frucht zu, die herrlich süß schmeckte. Sie nannten sie datiln, und ich beschloss, dass ich dort, wo solche Früchte wachsen würden, sicher auch leben könnte. Es war mein verzweifelter Versuch, mich mit meinem Schicksal abzufinden. Genug zu essen und zu trinken zu haben, machte vieles leichter.
* * *
Das Wasserbecken in der kleinen Schwimmgrotte war am Rand mit einer Bank aus Marmor ausgestattet. Hierhin hatten wir drei uns zurückgezogen. Die Unterkörper im warmen Wasser, wuschen sich Zahra und Jasemin die Seife mit einem weichen Schwamm ab, wie er hier im Meer wuchs. Das hatten sie mir zumindest erzählt, als ich nach dem seltsamen Gegenstand gefragt hatte. Es war ein herrliches Gefühl auf der Haut und in Verbindung mit den Seifen und Ölen, die in kleinen Karaffen abgefüllt waren, eine Wohltat für meine Sinne. Wir wuschen uns gegenseitig das Haar, massierten es mit blumig riechendem Öl, bis es zart wie Seide war, und kämmten es dann mit einem Elfenbeinkamm. Selbst Jasemins widerspenstige Locken gaben unter dieser liebevollen Behandlung nach. Zahra hatte sich hinter mir mit dem Kamm geduldig an meinem Haar abgemüht und war gerade dabei, es zu einem Knoten am Oberkopf zu flechten, als es neugierig aus ihr herausplatzte: »Wo kommst du eigentlich her, Enja?« Und als wäre es ihr peinlich, danach gefragt zu haben, setzte sie entschuldigend und hastig nach: »So eine Farbe wie bei deinem Haar habe ich vorher noch nie gesehen. Blondes Haar kenne ich von den römischen Sklaven, aber dein Haar ist weiß wie die Mähne eines Falben, nur viel weicher und zart wie Seide.«
Ich empfand großen Stolz auf mein Haar, war es doch das gleiche wie das meiner Mutter, das Haar einer Göttin. Aber diesen Umstand behielt ich für mich.
»Ich weiß nicht, woher ich komme. Ich war zu klein, um je gefragt zu haben; ich weiß nur, dass es sehr kalt war, wo ich lebte. Der Boden taute kaum auf im Sommer, bevor der Winter wiederkam«, brachte ich etwas kleinlaut vor. Gut, dass Zahra mein Gesicht nicht sehen konnte.
»Brrr, das ist doch sicher furchtbar, immer zu frieren, oder nicht?«, kam es von Jasemin, die vor mir im Wasser saß und meinen Blick suchte. Dabei rümpfte sie ihre Nase wieder so, dass sich das Sklavenkreuz auf der Stirn in Wellen legte.
»Wir haben nie richtig gefroren, wir waren die Kälte gewohnt und hatten warme Kleider an.« Meine Hände drückten den Schwamm, und Luftblasen bildeten sich unter Wasser, dort, wo die Löcher waren. Ein Stich ging in meine Brust, als ich an meine Familie dachte. Hatten Vater und Jalla jemals erfahren, was passiert war? Oder glaubten sie uns nach wie vor am Ziel unserer Reise? Sicher wurde das Schiff vermisst, seine Leute wären ja irgendwann zurückgekehrt.
»Ehrlich gesagt, ist es mir hier in diesem Land zu heiß, ich schwitze ständig, und die Sonne blendet tagsüber meine Augen. Ich muss mich immer im Schatten halten und von Kopf bis Fuß bedecken, sonst werde ich rot wie ein Krebs im heißen Wasser!«, lachte ich gequält. War ich wirklich so anders als die anderen Mädchen? Nicht nur vom Aussehen her, auch in meinen Gedanken?
Zahra hatte meine Haare jetzt geflochten und sah mich über die Schulter amüsiert an. »Die Frauen hier sind sowieso alle von Kopf bis Fuß eingehüllt, warum sollte das bei dir anders sein?«
Verärgert blickte ich ihr ins grinsende Gesicht. »Bei meinem Volk laufen die Frauen auch von Kopf bis Fuß verhüllt herum, aber wegen der Kälte!«
Da lachten die beiden lauthals los, und ich wunderte mich, ob ich etwas Lustiges gesagt hatte. Jasemin hielt sich den Bauch.
»Warum beschwerst du dich dann, dass du dich hier verhüllen musst?«
»Weil ich in dieser Hitze schmelze wie Schnee in der Sonne und gerne mal nackt im Meer schwimmen würde, wie die Jungs im Wasserbecken in der Stadt!« Meine Stimme war laut, verärgert.
Die beiden glucksenden Mädchen verstummten. »Du willst nackt in der Pferdeschwemme baden? Mit den Jungen?« Das Entsetzen stand in Zahras Gesicht geschrieben.
Ich grinste, als ich merkte, dass ich nun ihre volle Aufmerksamkeit hatte. »Ja, und dann mit den Pferden im Galopp über die Dünen jagen!« Meine Hände machten einen großen Bogen, ich war in meinem Element. Sie würden mich jetzt sicher nicht mehr auslachen.
»Allah möge dir dein überhebliches Geschwätz verzeihen!«, rief Jasemin aus, die Hand vor dem Mund. Oh, sie klang jetzt schon wie Meister Abdallah!
»Das meinst du doch nicht im Ernst!«, sagte auch Zahra.
Ihr Entsetzen feuerte mich nur weiter an. »Und ich nehme mir den größten und schnellsten Hengst und reite mit den Männern um die Wette …« Dabei warf ich den Schwamm weit von mir, und er landete mit einem Klatschen an der Wand der Grotte.
Die beiden Mädchen sahen mich mit großen, ungläubigen Augen an, als wäre ich aus einer verkehrten Welt, und vielleicht war ich das ja auch. Ich spürte in dem Moment, dass ich tatsächlich anders war. Ich wollte nicht so ein Leben führen wie die beiden, ich wollte mich nicht fügen in ein Schicksal, wie es uns Frauen vorgegeben war. Ich wollte weg von hier. Und das musste ich auch den beiden klarmachen.
Wir waren hier gefangen, wir wurden geschult für unsere Rolle als Sklavinnen. Wir mussten Sprachen lernen, den Koran studieren, Musikinstrumente spielen, und wir lernten, unsere Körper zu pflegen. Das Ziel war, einem Mann zu dienen und ihn zu unterhalten, in jeder Hinsicht. Ich war nun seit vier Jahren hier und lernte sehr schnell. Ich nahm alles auf wie der Schwamm, den ich gerade gegen die Wand geworfen hatte. Ich war gelehrsam und willig, sogar Schach konnte ich in kürzester Zeit besser als Meister Abdallah, der immer argwöhnischer mir gegenüber wurde, je öfter ich ihn schachmatt setzte. Aber ich dachte nicht daran, ihn gewinnen zu lassen.
Schnell hatte ich gelernt, dass nur die schönsten Mädchen zu Fahrudin Abd al Qadir kamen, unserem edlen Herrn und Besitzer. Er wählte stets jede Einzelne persönlich aus. Ich erinnere mich noch mit Schaudern an den strengen Blick des gut gekleideten Arabers in dem edlen Kaftan, der mich damals in der glühend heißen Hafenstadt von dem Händler kaufte. Seine Mädchen galten als die begehrtesten Sklavinnen unter den Stammesfürsten und Herrschern, und er wurde fürstlich bezahlt für seine Dienste. Traurig nur, dass die Mädchen uns dann, wenn Fahrudin einen ehrbaren Käufer gefunden hatte, unter vielen Tränen wieder verließen. Freundschaften waren hier immer endlich. Auch Zahra würde bald gehen: Bei der letzten Beschau war sie ausgewählt worden, und ihr zukünftiger Herr würde bald kommen, um sie abzuholen.
Ich könnte mich eigentlich glücklich schätzen, würde ich eines Tages so wie Zahra und all die Mädchen vor ihr als Gespielin eines reichen Arabers in Reichtum und Glanz leben. Und trotzdem wollte ich mich nicht fügen, wollte frei sein wie die Männer und die Bettler in der Pferdeschwemme. Ein Mädchen zu sein, bedeutete, dass mein Schicksal vorherbestimmt war. Bald würde ich eine Frau sein, einem Mann dienen und ertragen, was immer er von mir wollte.
Zahra und Jasemin sahen mich mit einer Furcht in den Augen an, die ich nur schwer deuten konnte. Sie hatten wohl Angst vor dem, was ich plante, vor dem, was ich war. Die beiden spürten in solchen Momenten meine Entschlossenheit, aber für sie gab es eben keine Alternative. Jedes Aufbegehren gegen unser Schicksal war mit rigorosen Strafen verbunden. Allein meine Gedanken waren für jedes andere Mädchen schon eine Bedrohung. Ich wusste seit Langem, dass ich hier weg und einen anderen Weg gehen musste. Kein Tag verging, an dem ich nicht an Flucht dachte, nur hatte ich noch keinen Plan. Aber definitiv ein Ziel. Vielleicht hatten die beiden Mädchen doch recht; in meiner Wut war ich manchmal unberechenbar.
Die beiden schrubbten nun mit einer kleinen Bürste ihre Rücken und sämtliche Stellen ihrer zarten Haut, um gar nicht erst irgendwo eine raue Hornhaut entstehen zu lassen. Stumm und mit trotzig verkniffenem Mund half ich den beiden bei ihren Füßen, so, wie sie es auch bei mir taten. Jasemin legte sich meinen Fuß auf ihre Knie und schrubbte mit geübten Bewegungen.
Plötzlich kam ein erstaunter Laut aus ihrem Mund, und sie hielt inne. Alle Blicke richteten sich auf meinen Fuß.
»Enja!« Sie sah mich mit großen dunklen Augen an, den Mund halb offen. »Was hast du denn für seltsame Zehen?«
»Was ist damit?«, fragte ich unsicher. Jetzt hatte sich auch Zahra herübergebeugt und begutachtete meinen Fuß von der Nähe.
Ich entzog ihn Jasemin hastig, ich wusste nicht, ob vor Scham oder vor Schreck. Beide sahen mich mit großem Erstaunen an, und Zahra sagte: »Ich habe das mal bei einem Frosch gesehen, der hat auch Haut zwischen den Zehen, aber der hatte ja auch nur drei …« Sie verstummte unsicher.
Ich sah auf meinen Fuß hinab und zog ihn an mich heran. Tatsächlich spannte sich zwischen meinen großen Zeh und dem zweiten eine dünne Haut.
»Woher wollt ihr denn wissen, dass sie bei euch nicht vielleicht fehlt? Vielleicht habt ihr keine normalen Füße«, bemerkte ich trotzig, um meine Unsicherheit zu überspielen.
»Ich habe schon viele Füße gewaschen«, bemerkte Zahra selbstbewusst, »aber so etwas habe ich noch nie gesehen!«
Das war es, der Beweis für meine Andersartigkeit, das erste Indiz, das ich auch nach außen trug und nicht nur tief in mir drin. Ein Kribbeln in meinem Rücken zeugte von meiner Angst und der Erkenntnis, doch anders zu sein als meine beiden Freundinnen. Eine Angst, die mich jetzt übermannte wie eine Welle im Meer und mit sich riss.
Ich sprang ins Wasser und entkam in den tieferen Bereich des Wasserbeckens. Ich tauchte unter und ließ warmes Wasser meine Gefühle tragen. Dieses herrliche nasse Element, dem ich mich so verbunden fühlte. Das mir schon einerseits so viel Trost gegeben und andererseits das Liebste genommen hatte, meine Mutter.