Der Tag von Zahras Abreise war begleitet von einem stürmischen Nordostwind, der den Sand aus der Wüste durch die Luft peitschte und die Menschen, die sich draußen aufhielten, zwang, sich mit Tüchern Nase und Mund zu verdecken. Das Gefolge des reichen Kaufmanns, der Zahra im Austausch gegen Goldmünzen, Kamele und jede Menge Seide nun sein Eigen nennen durfte, stand im Innenhof des Palastes. Die Fransen der Kamelhalfter und ‑decken wehten auf und ab und drehten mit den Tüchern und Schals der wartenden Gruppe Pirouetten wie tanzende Derwische.
Zahra stand mit mir am Eingang des Palastes, die Augen rot von den vergossenen Tränen. Ich hielt sie an der Hand und versuchte, sie zu trösten, so gut es ging. Der Schleier vor ihrem Gesicht verbarg ihren Seelenzustand. Auch wir restlichen Mädchen waren mit diesem seidigen Stoff geschützt vor neugierigen Blicken, konnten aber so dem Zeremoniell unauffällig folgen.
Unser großer und gütiger Herr Fahrudin Abd al Qadir ließ es sich nicht nehmen, Zahra persönlich an den Kaufmann zu übergeben. Sie war in ein wunderschönes Seidenkleid gehüllt, welches reich mit Perlen bestickt und mit goldenen Fäden eingefasst war. Als Zeichen ihres gehobenen Standes als Haremsdienerin trug sie jede Menge Goldschmuck an den Handgelenken, im Ohr und sogar an der Nase. Dazu hatten wir ihr zusätzliche Löcher stechen müssen. Mit ihrer hellen Haut und den seidigen schwarzen Haaren war Zahra an diesem Tag schön wie eine arabische Prinzessin.
Stundenlang haben wir sie gewaschen, enthaart, geschminkt und angezogen, bevor sie sich den kritischen Blicken Fahrudins stellte. Noch ohne Schleier begutachtete er sie von allen Seiten, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und wir sahen ihn erleichtert immer wieder anerkennend nicken. Er übergab Zahra sodann die birnenbauchige Barbat, eine kleine Laute, die sie als Einzige von uns in perfekter Manier spielen konnte. Es war sein Abschiedsgeschenk, und sie fiel sofort vor ihm auf die Knie und küsste seine Finger. Das war wirklich sehr großzügig und zeigte seine immense Wertschätzung.
Insgeheim vermutete ich, dass Zahra Fahrudins bisher bestbezahltes Mädchen war, denn ich hatte noch nie gesehen, dass eine seiner Schülerinnen ein Geschenk bekam. Die Kleider, den Schmuck und jegliches Zubehör stellten die Käufer, und je reicher diese waren, desto feiner und aufwendiger waren die Beigaben. Zahra hatte sich alles redlich verdient. Sie war eine Schönheit mit vielen weiblichen Vorzügen, die Männer sehr schätzten. Ihr Preis war hoch.
Ihr neuer Herr war etwas älter, wie ich unter meinem Schleier erkannte. Er ging höflich mit ihr um, nahm sie an seine Hand und führte sie die staubverwehten Stufen den Palast hinab, in dem wir nun schon einige Jahre leben und lernen durften. Wehmut und ein wenig Stolz durchzogen meine Brust. Ich würde sie nie wiedersehen, aber – und dessen war ich mir sicher – sie würde gut behandelt werden, besser, als es viele andere Sklavinnen erwarten konnten. Vielleicht würde er sie sogar eines Tages als Lieblingsfrau anerkennen. Ihr Leben lag nun in der Hand dieses Mannes.
Da wir niemals vor die Mauern des Palastes gehen durften, nutzte ich die Gelegenheit und warf einen neugierigen Blick auf meine Umgebung. Ich bewegte mich an den Rand der Gruppe, die sich um das Paar geschart hatte. Zahra wurde auf eines der hässlichen Tiere gehoben, die Kamele genannt wurden. Die Schleier wirbelten um sie herum und machten es unmöglich, ihren Gesichtsausdruck zu sehen. Kurz funkelte der Edelstein, der in der Mitte ihres Sklavenkreuzes aufgeklebt war, in der Sonne, bevor der helle Schleier wieder das ganze Gesicht bedeckte. Nein, sie lächelte nicht. Keines der Mädchen lächelte, und die Schwermut des Abschieds lag drückend in der Luft. Ein letztes Mal drehte sie ihren Kopf in meine Richtung. Ein kleines Nicken, und wir wussten beide: Es war ein Abschied für immer.
Die Gruppe mit etwa sechs Kamelen und gleich vielen Männern setzte sich in Bewegung; das war die Gelegenheit, auf die ich lange gewartet hatte. Im Schutz der Palastwache, die den Weg aus dem Innenhof säumte, lief ich neben den Kamelen her, winkend, als wollte ich Zahra noch bis zum Tor begleiten. Als die Gruppe es durchquerte, schlüpfte ich an den verdutzten Wachen vorbei und rannte die belebte Straße in die andere Richtung davon. Ich hörte, wie hinter mir einige Rufe laut wurden, aber ich hoffte, dass ich schneller ein Versteck finden würde, als die Palastwache einen Suchtrupp organisieren konnte. So hatte ich es mir ausgemalt. Abgelenkt von den vielen Gästen achtete sicher keiner auf ein kleines Mädchen, das in dem Pulk einfach untertauchte.
Dies stellte sich aber als Irrtum heraus, denn ein paar berittene Wachen hatten mich sehr wohl bemerkt. Bevor ich ein Versteck in den windigen Gassen finden konnte, hatte mich einer der Wachmänner eingeholt und mühelos vor sich auf den Sattel gezogen.
Es war der erste Fluchtversuch seit meiner Begegnung mit dem Wasserbecken gewesen, und mir war klar, dass mich wieder die gleiche Tortur erwarten würde wie beim letzten Mal, als ich ungehorsam gewesen war. Tatsächlich brachten mich Fahrudins Schergen sofort zu einem Wasserbassin. Stumpf starrte ich hinein, es war bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Mit Grausen erinnerte ich mich an das qualvolle Procedere bei meinem letzten Ungehorsam, nur hatte ich diesmal keine Angst.
Mit leisen Schritten war der Nubier neben mich getreten. Mein Blick fiel auf sein gleichgültiges, maskenhaftes Gesicht, dessen Augen so leblos wirkten, als wären sie aus Glas. Mit eisernem Willen bereitete ich mich auf das vor, was mich gleich erwarten würde. Nach dem letzten Mal war mir klar geworden, dass es nur der Anfang eines Prozesses gewesen war, in dessen Verlauf mein Wille gebrochen werden sollte. Es war für mich der Anfang meines Kampfes gegen eine höhere Gewalt gewesen, die mich in eine bestimmte Rolle zwang, die ich auf keinen Fall besetzen wollte. Der Schmerz und die Scham der Folter hatten mir die Erkenntnis gebracht, lieber zu leiden und vielleicht dabei zu sterben, als weiterhin als Sklavin unter Fahrudin Abd al Qadir zu dienen.
Da ich wusste, dass uns Mädchen nur Schmerzen zugefügt werden durften, die an den Körpern keine sichtbaren Spuren hinterließen, fielen Peitschenhiebe oder Faustschläge von vornherein aus. Mit viel Übung hatte ich eine Technik entwickelt, die es mir erlaubte, länger als gewöhnlich den Atem anzuhalten. Mein Vater hatte sie mir einmal gezeigt, um tief ins Meer zu tauchen. Ich pumpte mit kurzen Atemzügen mehr Luft in die Lungen als nötig und ließ es dann kontrolliert wieder ab. Unter Wasser hatte dies nicht nur den Vorteil, dass ich tiefer als mit normaler Atmung kam, sondern auch dass der Druck auf den Brustkorb mit der abfließenden Luft weniger wurde. Hier, in Fahrudins Haus, übte ich jeden Abend wie damals mit meinem Vater, den Atem so gezielt anzuhalten, dass ich möglichst lange ohne Krämpfe im Wasserbecken überleben konnte.
Auch diesmal hielt mich der Nubier so lange unter Wasser, bis meine gespielten Zuckungen ihn zu der Überzeugung brachten, dass ich kurz vor dem Ertrinken war. Am eigenen Leib hatte ich gelernt, wie sich der menschliche Körper in solch einer Situation verhielt, und wusste nun auch, wann ich zu krampfen, zu husten und zu erschlaffen hatte. Da sie mich immer allein zurückließen, fiel es auch niemandem auf, dass ich mich regelmäßig viel zu rasch von den Attacken erholte. Zur Wahrung des Scheins wartete ich stets noch ein wenig, bevor ich mich triefend in mein Zimmer zurückwagte.
Nach dem ersten Vorfall hatte ich seinerzeit noch stundenlang in Jasemins Armen gelegen und bitterlich geweint. Als ich mich etwas beruhigt hatte, schniefte ich, wischte mir die geschwollenen Augen und die Nase mit meinem Handrücken ab und erklärte meiner überraschten Freundin: »Ich werde ab heute aufhören zu weinen. Ich bin nicht schwach, mein Wille ist stark, und die Götter werden mir helfen, von hier wegzukommen.«
Erschrocken über meine Worte und meinen plötzlichen Sinneswandel riss Jasemin die Augen weit auf, schaute sich wachsam um und zischte: »Enja, du darfst deine Götter nicht nennen! Hast du denn schon alles vergessen, haben sie dir nicht schon genug wehgetan?«
Trotzig richtete ich mich in unseren Kissen auf, auf denen wir beide saßen, und ballte meine Fäuste. »Sie werden mir nicht ihren Willen aufzwingen«, schniefte ich trotzig, »sie werden mich nicht brechen.«
Jasemins braune Augen musterten mich im Fackelschein der kleinen Öllampe. »Du meinst das ernst, nicht wahr?« Sie drehte sich ein wenig von mir weg und betrachtete unsere Beine, die wir nebeneinander auf dem Schlafteppich ausgestreckt hatten. Als wäre das, was sie sagen wollte, ein großes Geheimnis, raunte sie mir ins Ohr: »Ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass du nicht hierhergehörst. Dein Blick ist viel zu direkt. Deine Schultern und deine ganze Haltung sind zu stolz, um dich zu unterwerfen. Nach außen bist du ein wunderschönes Mädchen. Du hast makellos weiße Haut. Dein Haar ist so fein und glatt wie Seide, es schimmert wie Silber, wenn die Sonne sich darin fängt, und deine Augen sind blau wie das Meer, wo das Licht die Tiefe erhellt. Aber die Augenbrauen und Wimpern sind so schwarz wie die Nacht und doch so fein, als hätte ein Meister sie gemalt. Deine hohen Wangenknochen verleihen deinem Antlitz etwas Edles. Ich habe noch keinen Menschen wie dich kennengelernt. Dein Aussehen ist so einzigartig wie dein Charakter.« Jasemin nahm meine Hand und drückte sie mir auf mein Herz. Ihre Stimme war verschwörerisch: »Kannst du es hören? Dort schlägt das Herz einer Löwin, dort fließt das Blut einer Kriegerin, stolz und stark! Du gehörst nicht hierher, du musst fliehen, sobald sich eine Möglichkeit ergibt.«
Ihre Worte hallten in meiner Brust wider, während ich nach einer weiteren Folter in Abdallahs Wasserbecken klatschnass und zitternd auf dem harten Steinboden kniete und versuchte, meinen Herzschlag in den Griff zu bekommen. Sie hatten mich einmal mehr gefoltert und meinen Ungehorsam bestraft. Aber damit war es nun genug. Sie würden mir kein weiteres Mal wehtun, in diesem Moment schien ich meine Angst besiegt zu haben.
Jasemin hatte damals ausgesprochen, was ich fühlte, und mir bestätigt, was ich immer vermutet hatte. Still hatte ich meine Freundin umarmt, die so mutig war, diese Worte in jener Nacht auszusprechen, und einen Plan gefasst: Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich mein Schicksal in die eigene Hand. Jasemin erschauerte sichtlich, als sie begriff, was sie da gerade gesagt hatte. Sie bekam förmlich Angst vor ihrem eigenen Mut.
Zitternd sprach sie die Worte, die ich nie vergessen würde: »Ich werde dir helfen, Enja, auch wenn es bedeutet, dass ich noch einmal bestraft werde, aber ich werde dir bei deiner Flucht helfen.« Ihr Flüstern war ganz nah an meinem Ohr.
Ich nahm meinen Kopf etwas zurück und wisperte ihr zu: »Ich werde einen Weg hier herausfinden. Niemand wird es schaffen, mich zu brechen … und eines Tages werde ich dich zu mir holen, und wir werden frei sein, frei wie der Wind!«
Wir hielten uns noch lange fest in dieser Nacht. Zwei Mädchen, so unterschiedlich und doch bereit, alles zu riskieren, um einander zu helfen. Ich hoffte inständig, dass ich mein Versprechen würde halten können. Die Götter würden mir sicher helfen …