Ich hatte einmal einen wunderschönen Schmetterling entdeckt und meinen Vater gefragt, warum er seine Augen auf den Flügeln habe. Daraufhin lachte er sehr, nahm mich auf seine Schultern und ging ein paar Schritte bis zum Rand des kleinen Berges, der vor unserem Haus lag. Die schroffen Felsen waren an der Spitze immer noch mit Schnee bedeckt, aber die Pflanzen hatten sich schon ihren Platz auf der Oberfläche erkämpft, und die Blumen leuchteten mit den Bienen und Schmetterlingen um die Wette. Vater zeigte auf den Schnee, der in der Schmelze als tosender Bach zu Tal stürzte, und erklärte geduldig, dass bestimmte Tiere sich der Farbe ihrer Umgebung anpassen würden. So sei der Eisbär weiß wie der Schnee um ihn herum, und der Kalmar im weiten Meer färbe sich, sobald er sich im Sand verstecke, so fleckig wie der Meeresboden. So würden sie von ihrer Beute nicht wahrgenommen und könnten zuschlagen, wenn es keiner erwarte. Tiere, die selbst zur Beute würden, schützten sich, indem sie die Farbe ihrer Umgebung annähmen oder sogar vortäuschten, ein Tier zu sein, das sie gar nicht waren. Der Schmetterling, der nun wieder vor uns her tanzte, schütze sich, indem er große Augen auf seinen Flügeln trage und Vögel damit irritiere.
In meiner Kammer war es bis auf Jasemins gleichmäßige Atemzüge völlig still. Von draußen kam höchstens das Gekreische eines Äffchens, das mit einem Artgenossen um Futter stritt, sonst drang kaum ein Laut durch das kleine Fenster, das mit einem engen Netz aus Flachs abgedeckt war. Ein paar Sterne waren durch die Maschen zu sehen, dort in der klaren Nacht, die schon fortgeschritten war.
Ich lag in meinen Schlafkissen, die ich mit Jasemin teilte, und meine Gedanken rasten. Ihr schmaler Körper drehte sich unruhig von einer Seite zur anderen. Vielleicht spürte sie diese innere Unruhe, die uns Menschen vor einem besonderen Ereignis ergreift. Sie hatte Angst vor meiner Flucht, das wusste ich, trotzdem würde sie alles tun, um mir zu helfen.
Ich war sehr stolz auf sie und hatte eine richtige Freundin in ihr gefunden. Während ich ihr beruhigend die Hand auf den Arm legte und sie sanft streichelte, versuchte ich, nicht an den morgigen Tag zu denken. Meister Abdallah hatte heute allen Mädchen nach dem Unterricht ehrfürchtig von einem hohen Besuch erzählt, der unseretwegen aus der großen Stadt Bagdad komme: einem Großwesir, der für den Sohn seines Sultans Haremsdienerinnen suchte.
»Der gute Ruf des Hauses Fahrudin und die Tatsache, dass hier besonders schöne junge Frauen mit hellen Haaren zum Verkauf stehen«, hatte Abdallah stolz verkündet und seine Falkennase mit einem bedeutungsvollen Blick ein paar Sekunden auf mir ruhen lassen, »ließ nun den schon in seinen besten Jahren stehenden Großwesir auf direktem Wege zu uns in den Palast eilen. Er lässt für seinen Herrn und dessen jungen Sohn Chalil diese und weitere Frauen zur Begutachtung nach Bagdad holen.«
Mein Herz hatte einen Sprung gemacht. War das meine Chance?
Meister Abdallahs Augen hatten vor Freude in seinen tiefen Augenhöhlen gefunkelt. Diese Nachricht hatte verständlicherweise jeden in Fahrudins Palast in helle Aufregung versetzt, denn ein so bedeutender Mann wie der Großwesir würde nicht nur ein Mädchen, sondern gleich mehrere kaufen. Eine ganze Delegation, so hatten wir erfahren, sei schon auf dem Weg nach Muza. Selbst Fahrudin war gut gelaunt und wurde mit wehendem Kaftan durch den Palast rauschend gesehen. Vermutlich hatte er noch schnell Platz in seiner Schatzkammer schaffen müssen für die zu erwartenden Goldmünzen.
Eine große Delegation bedeutete auch eine große Anzahl an Soldaten, Kamelen und Pferden, und wo viele Menschen waren, verlor man rasch den Überblick. Noch in dem kleinen Unterrichtsraum erkannte ich meine Chance. Mein Blick, der sich mit dem Jasemins kreuzte, sagte wohl einiges aus, denn sie lächelte mich an, nickte kaum merklich, wissend um diese besondere Gelegenheit.
Im Harem des Sultans, so hatte uns Abdallah erklärt, gab es Hauptfrauen und Nebenfrauen ausschließlich muslimischer Herkunft. Die Nachkommen des Sultans durften nur aus der direkten Blutlinie nobler Familien entstammen, die diesen Kriterien entsprachen. Die Haremsdienerinnen und Bediensteten dagegen durften Sklavinnen nordischer Herkunft sein. Jasemin und die anderen Mädchen würden hier ihre Bestimmung finden und das einflussreichste Haus der arabischen Welt ihr neues Zuhause nennen.
Es hieß, der Sultan Qualawun habe bis zu achthundert Frauen in seinem Harem. Sein Sohn Chalil war wohl gerade dabei, sich seinen eigenen Harem aufzubauen. Anscheinend hatte er seine Vorliebe für helle Haare entdeckt, was meine Chance erhöhte, erwählt zu werden. Fahrudin würde fünf seiner schönsten Mädchen nach Bagdad senden. Je heller die Haare, desto großzügiger sei der Großwesir bei der Bezahlung.
Meister Abdallah rieb sich bei dieser Nachricht unbewusst die Hände, sein Stolz sprach aus jedem seiner Worte, und er benannte auch zielstrebig die fünf Mädchen, die am nächsten Tag mit dem Großwesir ziehen würden. Er schaute mir nicht in die Augen, als er auf mich und Jasemin zeigte, aber mir war klar, dass er mir hier eine Chance gab, meinem Schicksal, von Fahrudin an einen unrühmlichen Mann verkauft zu werden, zu entrinnen. Es war sein letzter Gefallen, den er mir tat, aber auch der endgültige Abschied.
Ich mochte Meister Abdallah nicht besonders, aber ich war ihm dankbar, dass er mich gehen ließ, und schloss ihn daher neben meiner Familie und Jasemin in mein Abendgebet mit ein.
Wir würden also eine Reise antreten, Jasemin und ich, die uns hoffentlich eine Möglichkeit eröffnen würde, diesem Palast und der Unterdrückung durch Fahrudin zu entkommen. Wir würden einige Tage auf Pferden oder Kamelen verbringen, und ich hoffte, dass dies die Gelegenheit war, um für immer die Freiheit zu erlangen.
Jasemin hatte sich mit meiner Hand auf ihrem Arm etwas beruhigt. Sie schien in einen ruhigen, tiefen und traumlosen Schlaf gefallen zu sein. Als mein aufgeregt pochendes Herz endlich in einen langsameren Rhythmus fiel, schlief auch ich ein.
* * *
Es war so, wie ich es mir vorgestellt hatte: Die Gesandtschaft des Sultans Qualawun al‑Mansur Saif ad‑Din Qalawun al‑Alfi bestand aus dreiundsechzig Kamelen, zweihundertzwanzig Pferden und entsprechend vielen Soldaten, die bis an die Zähne bewaffnet waren. Natürlich, wir befanden uns in einem unruhigen Land.
Meister Abdallah hatte uns im Unterricht erzählt, dass die Araber mithilfe der Mamelucken die Kreuzfahrer aus dem Heiligen Land zurücktreiben und Stück für Stück die Städte im Libanon an der Levanteküste zurückerobern würden. Für ihn sei Sultan Qualawun ein großer Held, denn er hatte Tripolis eingenommen, eine wichtige strategische Festung im Libanon, wenn auch mit hohen menschlichen Verlusten. Er wurde gar nicht müde der Lobpreisung dieses Helden. Für meinen Geschmack war der Tod der vielen Menschen verwerflich, aber der Sultan war immerhin von göttlicher Abstammung. Es hieß, er sei gefürchtet für seine Reizbarkeit und erschlage selbst seine eigenen Leute, nur um seine Wut an jemandem auszulassen. Aber wer wusste denn schon, ob das stimmte?
Mir war der Erfolg des Sultans weniger wichtig. Sein Gefolge war auf jeden Fall so groß, dass ich meine Pläne umsetzen konnte, und meine Aufregung wuchs beständig, als wir für die Reise vorbereitet wurden.
* * *
In dem Moment, in dem der lange Tross nach Bagdad aufbrach, konnte man meinen, die Wüste selbst setzte sich in Bewegung. Reiter für Reiter, Kamel für Kamel säumte die Zufahrt des Palastes und zog unter viel Geschrei von Markttreibenden, Neugierigen und Fahrudins Leuten in Richtung Norden. Die farbenprächtigen Gewänder der Leibwache des Großwesirs, die bunten Tücher und Geschirre der Pferde und Kamele waren wie die Farbtupfer in einem sandfarbenen Mosaik.
Jasemin und ich waren unter großem Jubel zusammen in eine der Sänften gebracht worden, die man auf die Rücken der Kamele geschnallt hatte. Wir konnten nebeneinandersitzen und waren vor Sonne, Wind und neugierigen Blicken geschützt, die uns von allen Seiten zugeworfen wurden. Wir waren gewandet in Seide, Gold und Edelsteine und flanierten aus dem Palast, als wären wir bereits des Sultans Bräute.
»Sieh nur, die Leute lassen alles liegen und stehen und schauen der Karawane zu!« Jasemins Begeisterung kannte keine Grenzen. Immer wieder schob sie den kleinen Vorhang zur Seite, der unsere Sänfte links und rechts bedeckte. Mit vor Aufregung geröteten Wangen zeigte sie hierhin und dorthin und freute sich wie ein kleines Kind. Es war ein großer Tag.
Unser Kamel wurde von einem großgewachsenen Eunuchen begleitet, der uns ab und zu auch mal ein Lächeln schenkte. Er gehörte zu den Leuten des Sultans, die uns wohlbehalten nach Bagdad bringen sollten. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Anders als mein bisheriger Folterknecht schien er aber ein sanfteres Gemüt zu besitzen. Mir kam ein schüchternes Lächeln über die Lippen, als sich unsere Blicke trafen.
Nach Bagdad waren es drei Tagesritte entlang an ewigen Dünen, Oasen und Felsen. Vorbei an Landschaften, die ebenso gefährlich wie schön waren, und ich lernte die Genügsamkeit der Kamele schätzen. Kaum ein anderes Tier würde die lange Reise mit so wenig Pausen und Wasser überstehen. Die Pferde waren immer weit schwerfälliger unterwegs, brauchten mehr Rast und kamen mit ihren Hufen mühsamer im Sand voran. Tatsächlich verloren wir in der Hitze zwei Pferde, die eigentlich als Geschenk für den Sultan gedacht waren. Wir Frauen wurden vor den Blicken der Männer geschützt, aber über unseren Eunuchen, den wir Babo nennen durften, erfuhr ich doch einiges von unserer Reise.
»Morgen früh werden wir noch zwei Stunden reiten, dann sehen wir die Tore der großen Stadt. Der Palast des Sultans liegt auf dem Hügel, der die Stadt überblickt. Sie werden uns schon von Weitem sehen, aber der langsame Schritt unserer Pferde wird uns noch länger durch die Straßen der Stadt tragen.« Seine Stimme war leise und erfüllt von einem Respekt, der von vielen Jahren der Unterwerfung zeugte.
»Wirst du uns in den Palast begleiten, Babo?« Ich war neugierig, ob er bei uns bliebe.
»Ich übergebe Euch dem Haremsdiener, er wird Euch dann in Empfang nehmen.«
Damit drehte er sich um und richtete unser Lager. Es würde für Jasemin und mich die letzte gemeinsame Nacht werden, und ich konnte ihrem Gesicht ansehen, dass sie den gleichen Gedanken hatte. Morgen würde ich sie verlassen, mein Plan stand fest. Immer und immer wieder hatten wir im Geiste durchgespielt, was wir tun mussten.
Wir hielten uns in dieser Nacht aneinander fest. Ein letztes Mal wisperten wir uns zu, dass wir einander wiedersehen würden, und ein letztes Mal beteten wir zusammen für unsere beiden Schicksale.
* * *
Dass Bagdad eine große Stadt war, war uns schon zu Ohren gekommen, aber dieser Ort übertraf alles, was ich bisher gesehen hatte. Die Karawane kam am Kamm einer der größeren Dünen zum Stehen und erlaubte uns über die flimmernden Sandflächen einen Blick auf die Mauern und mächtigen Wehranlagen dieser Stadt. Unser Meister Abdallah hatte jedes Mal regelrecht zu schwärmen angefangen, wenn er von dieser faszinierenden Stadt gesprochen hatte, und wir Mädchen hatten ehrfürchtig an seinen Lippen gehangen. Jetzt sah ich sie zum ersten Mal mit meinen eigenen Augen, und mein Herz tat vor Aufregung einen Sprung. Hart umkämpft, war Bagdad die Pulsader des ostarabischen Reiches und mit ihrem ehrgeizigen Sultan eine blühende Metropole. Selten haben sich in einer Stadt so viele Religionen angesiedelt: Juden, Moslems und Christen und mit der Gemeinschaft auch ein gewisser Wohlstand. Dies war für mich der erste Eindruck dieser pulsierenden Stadt, die mein Zuhause werden sollte. Nur anders, als der Sultan es sich wohl vorgestellt hatte …
Hinter den Vorhängen unserer Sänfte begann ich mich für meine Flucht vorzubereiten. Ich zog eine einfache Pumphose an, den sogenannten Sirwal, den wir von Dienern des Palastes erbetteln konnten, und die typische Weste, die vorn geknöpft wurde. Beides war aus dem hellen Baumwollstoff, aus dem die meisten Kleidungsstücke des einfachen Volkes gemacht waren. Nicht neu, aber doch wenigstens sauber. Ich schlüpfte in Hose und Weste und befreite mich von all dem Gold und den Edelsteinen, die ich an mir trug. Jasemin stopfte alles zusammen mit meinen Seidenkleidern unter die Kissen auf meiner Seite. Ein breiter Gürtel vervollständigte meine Verkleidung.
Nun kam der Teil, der mir am schwersten fiel: Mit einem scharfen Dolch, den Jasemin aus ihren vom Schleier befreiten Haaren zog, schnitt sie meine langen Haare in kurze fransige Stufen. Mit einem Seufzen schob sie die Strähnen unter die Kissen. Dann hielt sie mir den Topf mit der Erde hin, die wir gemeinsam gesammelt hatten. Damit beschmierte ich mein Gesicht und meine Haare, bis ich wie eines der Straßenkinder aussah, die immer vor unserem Palast herumlungerten. Selbst die sonst so gepflegten Füße beschmutzten wir mit Erde. Meine Haare waren jetzt matt, die zarte Gesichtshaut bedeckt mit rötlichem Schmutz, und dort, wo das tätowierte Kreuz zu sehen gewesen war, prangte nun ein Dreckklumpen. Jasemin nickte anerkennend.
»Sie werden dich für einen Straßenjungen halten, keine Frage.« Stolz schwang in ihrer Stimme mit und ein wenig Sorge um mich.
»Wirst du mich wirklich eines Tages von hier wegholen?«
Sie schaute mich mit ihren wunderschönen braunen Augen an, die sich mit Tränen füllten. Dennoch schwang Hoffnung in ihrer Stimme mit.
Sanft strich ich ihr über das offene, lockige Haar, das in dem diffusen Licht der Sänfte viel dunkler wirkte, als es normalerweise war.
»Natürlich, ich halte meine Versprechen«, bekräftigte ich und fühlte mich wie die große Schwester, die Jasemin nie gehabt hatte. Aber der Knoten in meinem Hals wollte sich nicht lösen. Ein wenig Angst schwang doch mit. Dazu Stolz und eine seltsame Erregung, die sich in meinem Rücken ausbreitete, mein Herz zum Klopfen brachte und meinen Magen flattern ließ.
Der Lärm auf der Straße verkündete unsere baldige Ankunft. Selbst die Tiere wurden ein wenig schneller, als es durch die Straßen Bagdads hoch zum Palast ging. Ich drückte Jasemin noch einmal fest und mit einem stummen Versprechen an mich und schob dann vorsichtig den Vorhang auf die Seite. Vor uns lagen die prunkvollen Tore des Palastes, die noch geschlossen waren. Sämtliche Tiere kamen zum Stillstand, um zu warten, bis jeweils eines nach dem anderen durch den rechten Flügel geführt wurde. Erst jetzt öffnete sich das große rechte Tor, ich sah es aus der Entfernung. Es würde noch einige Zeit dauern, bis wir dieses Nadelöhr passiert hatten. Außerdem waren viele Menschen hier, um die Ankunft der Karawane zu erwarten. Babo stand auf Jasemins Seite des Kamels und hielt es fest.
Meine Sinne waren ganz auf mein bevorstehendes Abenteuer gerichtet, als ich auf einmal Jasemins Hand auf meiner Schulter spürte. Ich drehte mich zu ihr und sah in ihr aufgewühltes Gesicht. Sie drückte mir den Dolch in die Hand, mit dem sie meine Haare geschnitten hatte.
»Behalte ihn, er wird dich immer an mich erinnern und dir vielleicht auch einmal gute Dienste leisten. Ich werde ihn wohl kaum noch brauchen …«
Ich betrachtete den Dolch in meiner Hand und sah erst jetzt, wie schön er gearbeitet war. Es war der typische Dolch, wie er von Frauen gerne versteckt im Rock oder im Gürtel getragen wurde. Er war klein und schmal, extrem spitz und so scharf, dass er einem Mann auch zum Rasieren dienen konnte. Dieser besondere Dolch steckte in einem kleinen silbernen Schaft mit wunderschönen Gravuren, besetzt mit winzig kleinen Edelsteinen, die farbig schimmerten.
»Das kann ich nicht annehmen, Jasemin!«, entgegnete ich berührt und streckte ihr den Dolch wieder entgegen. »Er ist mehr wert als alles, was ich jemals in meinem Leben besessen habe.«
Jasemin lächelte traurig. »Es ist das Vermächtnis meiner Mutter. Ich hatte ihn stets gut versteckt bei mir getragen, meist in meinem Haar, weil er aussieht wie eine Haarnadel. Sie werden ihn mir wegnehmen, denn ich darf dort, wo ich hinkomme, nichts mehr besitzen.« Ihre Stimme war eindringlich. »Bitte nimm ihn mit und verwahre ihn für mich, denn du bist die Einzige, die seinen wahren Wert zu schätzen weiß.«
Gerührt nahm ich den winzigen Dolch an mich und steckte ihn in meinen Gürtel.
»Er wird mich immer an dich erinnern, Jasemin. Er steht für das Band unserer Freundschaft, und wenn ich dich eines Tages wiedersehe, dann gebe ich ihn dir zurück«, versprach ich mit fester Stimme und blickte wieder nach draußen, um ihren traurigen Augen auszuweichen. Es fiel mir schwer, mich auf meine Flucht zu konzentrieren, während mir eine Träne die Wange herunterlief.
Es musste jetzt schnell gehen. Noch waren alle Blicke nach vorn gerichtet. Ich kletterte daher, so flink es ging, auf der anderen Seite aus der Sänfte heraus und hing nun mit den Armen an dem Holzgestell, das die Sänfte in der Mitte des wackelnden Kamelrückens hielt. Vorsichtig maß ich die Entfernung bis zum Boden mit den Augen. Wir hatten ein großes Kamel erwischt, und ich traute mich nicht so recht zu springen. Daher kletterte ich ein Stück an der Satteldecke mit den verknoteten bunten Bändern herab und ließ mich leichtfüßig von der Kordel in den Staub der sandigen Straße fallen. Sofort kauerte ich mich auf den Boden, um keine Blicke auf mich zu ziehen. Langsam rutschte ich seitwärts an zwei Fässer heran, die am Wegesrand gelagert waren. Zeitgleich wurde unser Kamel von Babo wieder ein paar Schritte vorwärts geführt, und ich wäre beinahe von dem darauffolgenden Kamel getreten worden, hätte mich der danebenlaufende Eunuch nicht mit dem Fuß aus dem Weg geschoben.
»Geh aus dem Weg, Junge«, rief er dabei, »du wirst sonst noch zertrampelt!« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Erleichtert über meine gelungene Tarnung richtete ich mich auf und rannte, so schnell mich meine Beine trugen. Mit klopfendem Herzen und zitternden Knien lief ich weg vom Palast und den staubigen Weg entlang in die Stadt, die mich so verheißungsvoll aufnahm. Mein Vater hatte recht gehabt: Der Kalmar hatte sich erfolgreich seiner Umgebung angepasst. Schmutzig wie alle Straßenkinder dieser Stadt tauchte ich unter im heißen und staubigen Gewühl der belebten Straße. Aufgeregt blieb ich stehen und blickte zur Karawane zurück. Meine Brust hob und senkte sich unter meinen schweren Atemzügen. Niemand hatte meine Flucht bemerkt, ich konnte mein Glück kaum fassen! Ab jetzt war ich ein kleiner Junge, der soeben seine Freiheit zurückbekommen hatte. Eine Freiheit, die ich nie wieder aufgeben würde.