Es tut mir wirklich leid, James!«
Das schlechte Gewissen war ihm nur allzu deutlich anzuhören. Hugh Douglas ließ seinen Rappen noch einmal neben dem Fuchs seines großen Bruders traben und versuchte, James’ eisigen Blick zu ignorieren.
»Ich war eingeschlafen. Mein Gott, ich lag die ganze Nacht wach, und nach den endlosen Stunden wurde ich eben müde! Ich hätte …«
»Schluss«, knurrte sein Bruder, »ich werde darüber nicht mehr reden, es war eine lange und glücklose Nacht. Belassen wir es dabei.« Ungeduldig presste er die Fersen in die Flanken seines Pferdes, das zum Galopp ansetzte.
James musste sich zusammennehmen, um seinen jüngeren Bruder nicht seine geballte Wut spüren zu lassen. Mit seinen gerade mal sechzehn Sommern war Hugh zwar alt genug, um bei den Attacken auf die Engländer mitzumachen, aber eben noch nicht so erfahren wie die Männer um ihn herum.
Sie hatten fast die ganze Nacht auf der Lauer gelegen, bis endlich der Trupp Engländer auf die Lichtung im Wald zuritt, auf der sie in den Bäumen gewartet hatten. Die Stelle war perfekt für einen Hinterhalt. Hätten die Engländer die Lichtung erst einmal halb überquert, hätten sie dem Trupp von vorn und hinten gleichzeitig eine vorzügliche Angriffsfläche geboten. Aber dieser Idiot von Bruder musste ausgerechnet dann vom Baum fallen, als die Feinde die Lichtung noch nicht erreicht hatten. Er war eingeschlafen und vom Baum gepurzelt wie ein kleines Kind aus seinem Bettchen.
James konnte es nicht fassen. Er knirschte mit den Zähnen. Sein Bruder und die Gefährten hatten Mühe, ihm zu folgen. Der Wind zerrte an seinen Haaren, die ihm wild ins Gesicht hingen.
»Wie bringe ich das nur Vater bei?«, murmelte er kopfschüttelnd zu sich selbst. Dann sollte sich sein Bruder eben selbst vor ihn stellen und es ihm beichten. Er wusste jetzt schon, wie Vater reagieren würde. William Douglas’ Tobsucht war legendär, nicht selten endeten seine Wutanfälle mit ausgeschlagenen Zähnen und gebrochenen Nasen. Die meisten nahmen daher Reißaus, wenn die dunklen Wolken des Grolls über seinem Gesicht aufzogen. Vielleicht könnte er das Unvermeidliche irgendwie abfedern, indem er von den zwei Toten erzählte, aber zu viele der Engländer waren entkommen. Nein, ein Erfolg war das nicht. Und dazu kam, dass er seinen kleinen Bruder vor dem Tod hatte bewahren müssen. Gott bewahre, Hugh war denen ja wie ein Opferlamm vor die Füße gefallen … Sein kleiner Bruder war schon immer ein hübscher Junge gewesen, von allen gemocht und verhätschelt. Seinen Anblick, mit den zerzausten dunklen Haaren und dem perplexen Ausdruck im Gesicht, als er ohne Orientierung auf seinem Hosenboden saß – die Engländer keine hundert Meter entfernt –, würde er nie vergessen. James verdrehte einmal mehr die Augen, als er an die Szene dachte, die sich zu seinem Entsetzen direkt vor seinen Augen abgespielt hatte.
James hatte sofort reagiert: Er war ebenfalls vom Baum gesprungen und mit ihm seine überraschten Gefolgsleute. Dabei hatte er einen Kampfschrei losgelassen, der selbst die Vögel vor Schreck verstummen ließ, und sich mit seinen Mannen den Engländern entgegengeworfen. Leider hatten sie nur zwei der Soldaten erwischt. Alle anderen hatten rechtzeitig fliehen können.
»Er muss noch viel lernen, und aus seinen Fehlern lernt man am schnellsten«, hörte er eine Stimme hinter sich. Von seiner Wut unbeeindruckt hatte sich Lachlan McKay, sein Vormann und bester Freund, von hinten genähert. Seine Stute, ein gutes Stück kleiner als James’ großrahmiger Wallach, mühte sich ab, Schritt zu halten. Frustriert zügelte James sein Pferd ein wenig, um ihn aufreiten zu lassen.
»Erzähl das mal unserem Vater«, entgegnete er ungehalten. »Ich hoffe, er hat schon gefrühstückt, wenn wir zurückkommen, sonst wird Hugh heute Morgen sein erster Appetithappen.«
Dabei schaute er Lachlan grimmig an. Dessen Augen waren nach vorn auf den Weg gerichtet. Auf einmal wirkte er angespannt und zügelte sein Pferd. James tat instinktiv das Gleiche. Lachlan deutete stumm auf einen Punkt vor ihnen, wo der Weg durch einen herabgestürzten Felsbrocken verengt wurde. Dunkle Gestalten lagen verteilt davor auf dem Boden, Pferde und Menschen.
»Englische Soldaten?«, fragte James und sprach aus, was Lachlan dachte.
»Wenn ich die Farben richtig sehe, ja. Aber wer außer uns sollte Engländer umbringen und noch dazu hier, auf unserem Land?«, merkte der an.
»Ist uns da einer zuvorgekommen?«, tönte Hughs helle Stimme von hinten. Er war mit dem Rest seiner Leute hinter ihnen zum Stehen gekommen.
»Wer macht denn so eine Sauerei und räumt hinterher nicht auf?«
Das wilde Grinsen seines Bruders erinnerte James an seine eigene unbeschwerte Zeit, bevor er als Anwärter auf das väterliche Erbe zu Aufgaben herangezogen worden war, die ihn schnell reifer machten, als es ihm lieb war. Er nickte Hugh über die Schulter zu.
»Wir werden es herausfinden!«
Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Diese Soldaten waren zu weit von der Hauptstrecke abgewichen, als dass sie zufällig überfallen worden wären. Jemand hatte die Gruppe abgepasst. Und wer sollte das tun, wenn nicht ein Douglas?
Langsam und die Augen stets auf die Umgebung gerichtet, setzte sich James’ Trupp in Bewegung. Sie ließen die Pferde stehen und näherten sich vorsichtig. Keiner der englischen Soldaten hatte überlebt. Einer lehnte ein wenig abseits mit dem Rücken an einem Baum im Schatten. Lachlan ging mit ein paar Mann um den Felsen herum und sah sich dort genauer um.
Die Toten waren alle Soldaten des Königs. Sie waren offenbar alle mit sauberen, gezielten Schwerthieben getötet worden. Hatten sie gegen Räuber gekämpft? Oder gegen ihre eigenen Leute? Für James war klar, dass diese Gruppe hier eine Delegation war, die Edward nach Schottland geschickt hatte, um die einzelnen Garnisonen mit Pferden und Proviant aus den umliegenden Dörfern zu versorgen. Ihm gefiel es ganz und gar nicht, dass sie auf seinem Land unterwegs waren.
»Was ist hier passiert?«, fragte er mehr zu sich selbst.
Aber Hugh hörte ihn. »Sie kamen aus dem Süden«, mutmaßte er und zeigte auf den Felsbrocken. »Der Felsen ist ein idealer Ort, um eine Attacke auf eine größere Gruppe auszuführen. Es müssen mehrere gewesen sein, die angegriffen haben, aber von denen wurde anscheinend keiner verwundet. Die Gliedmaßen wurden komplett abgetrennt. Sie wurden wohl von gut ausgebildeten Männern getötet, und die Waffen müssen sehr scharf gewesen sein.«
»Gut erkannt, Hugh.« James staunte über die Beobachtungsgabe des Jungen. Seine Wut war zunächst einmal verraucht. »Aber warum haben sie ihre Spuren nicht verwischt, die Waffen eingesammelt oder zumindest die Pferde mitgenommen?«, grübelte er und deutete dabei auf die englischen Pferde, die in der Nähe friedlich grasten.
Hugh rieb sich das Kinn, das den ersten Bartflaum zeigte, auf den er so stolz war. »Vielleicht wurden sie gestört?« Die Ernsthaftigkeit in seinem Gesicht zeigte James, dass er einmal ein bedachter Mann werden würde, wenn er seine jugendlichen Flausen überwunden hatte.
»Auf der anderen Seite liegen noch drei Soldaten, alle genauso mausetot wie die auf dieser Seite«, rief McKay, als er wieder um den Felsbrocken bog. »Weit und breit keiner mehr zu sehen.«
»Zehn Tote«, stellte der ältere Douglas fest und drehte sich zu der Leiche am Baum, die nur als Umriss im Schatten zu erkennen war. »Wer könnte das getan haben? Ein benachbarter Clan?« Sein Blick fiel auf das Gesicht der reglosen Person. Hatte er sie zuerst für einen jüngeren Soldaten gehalten, erkannte er nun seinen Irrtum. Sein Kinn fiel nach unten. »Verdammt, was …!« Und er lief los.
»Das ist eine Frau«, stieß er hervor, als er Sekunden später vor ihr stand. Lachlan, der neben ihm zum Stehen kam, stieß einen seiner Flüche aus, die ihm so locker von den Lippen gingen und so manchem die Schamesröte ins Gesicht trieben. James stieß ihm seinen Ellbogen in die Rippen und zischte: »Klappe, du Idiot, vielleicht lebt sie ja noch!«
»Sieht nicht so aus«, meinte Lachlan vorsichtig und musterte die Frau. »Bleich wie eine Leiche. Außerdem ist sie verwundet, schau, die Hand auf ihrem Bauch ist blutig.« Er deutete auf ihre Körpermitte. Tatsächlich schien die Hand eine Wunde zu verdecken, die Kleidung war blutgetränkt. Mittlerweile war auch Hugh zu ihnen gestoßen, beugte sich vorsichtig hinunter und fasste der Frau zaghaft an die Schulter. »Hey, Schönheit, lebst du noch?« Er grinste dabei wieder jungenhaft.
James schnaubte. »Sie wird wohl kaum nein sagen, du Idiot.« Ihm gefiel das alles nicht. Es war ihm unbehaglich, und er konnte sich keinen Reim darauf machen, was hier vorgefallen war. Die Frau sah seltsam aus: weiße, zurückgebundene Haare, edle Züge, schwarze Augenbrauen und Wimpern. Die Lippen waren blass, aber voll und sinnlich. Ungewöhnlich war vor allem ihre Kleidung. Eine schwarze Hose mit einer Tunika, darüber eine Lederweste. Sie war nicht gekleidet wie eine Frau aus den Highlands, aber auch nicht wie eine Engländerin.
Gerade als sein Blick wieder an ihrer Nase hängenblieb, über deren Wurzel ein Kreuz gemalt war, öffnete sie die Augen. James durchfuhr ein seltsamer Stich, der seine Kopfhaut prickeln ließ. Ihre Augen waren blau, ein solch leuchtendes Blau wie das der Blumen im Garten seiner Mutter. Sie waren umgeben von schwarzen Wimpern, wie der Rahmen eines Bildes. Sie fixierte ihn mit großen Pupillen, als wäre sie lange im Dunkeln gewesen, und blinzelte, um sich an das Licht zu gewöhnen.
James räusperte sich und überlegte, etwas Sinnvolles zu sagen. Er wollte sie nicht erschrecken. Wer weiß, was sie alles durchgemacht hatte.
»Mein Name ist James Douglas, Sohn von Lord William Douglas, und Ihr befindet Euch auf unserem Land«, stellte er sich förmlich vor. Innerlich verdrehte er die Augen über sich selbst.
Die Frau machte die Augen wieder zu. Nichts deutete darauf hin, dass sie ihn verstanden hatte. Hugh stupste sie noch einmal an. »He, sprich mit uns, oder verstehst du uns nicht?«
Langsam, ganz langsam neigte sich ihr Oberkörper zur Seite und drohte umzukippen, hätte Hugh sie nicht festgehalten. Ihr Kopf fiel nach vorn auf die Brust.
James sah Hugh an und hätte beinahe gelacht über die unbeholfene Art, wie er die Frau stützen wollte, aber nicht wusste, wie und wo er sie anfassen sollte. Er hatte keine Ahnung, wie schwer sie verletzt war. Dass sie immer noch lebte, sah er als gutes Zeichen. Intuitiv fasste er einen Entschluss.
»Lachlan, lass die Leichen begraben und sammle die Waffen und Pferde ein. Wir nehmen die Frau mit nach Douglas Castle, dort kann die Heilerin sich um ihre Verletzungen kümmern. Solange wir nicht wissen, wer sie ist, können wir sie hier nicht zurücklassen.«
»Und wenn es doch eine Engländerin ist?«, warf Lachlan ein.
»Dann wird sich mein Vater über eine Geisel freuen«, gab James grimmig zurück.
Kopfschüttelnd machte sich Lachlan daran, die Männer zu sammeln. Er wirkte nicht begeistert, aber das war James egal. Er nahm die Frau vorsichtig in seine Arme, darauf bedacht, die Wunde nicht zu berühren.
Hugh beäugte seinen großen Bruder misstrauisch. Der Vorschlag, die bewusstlose Frau nach Hause mitzunehmen, behagte ihm nicht. Er hatte aber keine bessere Lösung und folgte seinem Bruder zu dessen Pferd, um ihm mit seiner Last aufsitzen zu helfen. Vielleicht würde ja das Auftauchen dieser geheimnisvollen Frau seinen Vater vor seinem obligatorischen Wutanfall bewahren? Es war nicht weit bis Douglas Castle, er hoffte, dass sie den Ritt bis dahin überlebte …
* * *
Lord William Douglas starrte auf seine großen, schwieligen Hände, die schon so manchen Feind das Fürchten gelehrt hatten. Am liebsten hätte er sie jetzt um den Hals seines zweiten Sohnes Hugh gelegt, der ihm mit hängendem Kopf gegenübersaß. Nur die Anwesenheit seiner jungen Frau Eleanore und ihre Hand auf seinem Oberschenkel hinderten ihn daran, dem Bengel ein für alle Mal eine Lehre zu erteilen.
Um ihn herum hatten sich die Clanmitglieder in der großen Halle, die fast dreihundert Personen fasste und im Winter sogar als Schlaflager der Krieger diente, zum Abendessen eingefunden. Der Lärmpegel hielt sich in Grenzen, denn jeder wollte etwas von der zu erwartenden Bestrafung des jungen Hugh mitbekommen. Nur das Küchenpersonal und die Mägde huschten unbeeindruckt von der in der Luft liegenden Spannung eifrig durch den Saal, um das Essen und den Most zu servieren.
Während die einfachen Clanleute auf den grob behauenen Bänken an den Holztischen saßen, hatte die Douglas-Familie mit ihren engsten Vertrauten auf der erhöhten Plattform und für alle gut sichtbar Platz genommen. Daher entgingen auch kaum jemandem Hughs rote Ohren, der dort seinem Vater gegenübersaß und stur seine Hände betrachtete.
Verdammt, wenn James nicht so schnell reagiert hätte …, durchfuhr es William Douglas in einer plötzlichen Welle aus Sorge und Wut. Seine Faust schloss sich um den Tonkrug, der vor ihm stand, und er stellte sich vor, es wäre Hughs Hals. Mit einem Knirschen gab das Gefäß nach und ließ den Rest des säuerlichen Mosts in alle Richtungen spritzen. Die Diener liefen sich gegenseitig über die Füße, um die Scherben und die Flüssigkeit zu beseitigen.
Jetzt ging es ihm etwas besser, aber seine Wut wollte einfach nicht verpuffen. Er spürte die warme Hand seiner Frau wie einen Anker auf seinem Schenkel ruhen. Sein unheilvoller Blick glitt zurück zu seinem Sohn, der nur kurz beim Bersten des Tonkrugs aufgeblickt hatte und schlucken musste. Jetzt sah er wieder pflichtbewusst auf seine Hände, die er im Schoß gefaltet hatte. Sein Vater schaffte es tatsächlich, seinen Ton zu mäßigen, und bewahrte mit Mühe seine Fassung. Trotzdem klang seine Stimme bedrohlich, als er sagte: »Verschwinde, Hugh, bevor ich vergesse, dass du mein Sohn bist. Du wirst die nächsten Monate im Stall schlafen, die Pferde misten und darüber nachdenken, ob du wirklich ein Krieger werden willst oder ob du nicht besser als Priester enden möchtest wie dein Cousin.«
Hugh wurde blass. Sein Vater hielt ihn also für ungeeignet, um für ihn zu kämpfen. Das war härter als jede körperliche Züchtigung, denn sie verletzte seinen Stolz. Er hatte mit allem gerechnet, Schreien, Schlägen, aber nicht mit diesem Vorwurf. Es tat weh. Schwer schluckte er seine Scham herunter, stand langsam auf und blickte seinem Vater in die Augen.
»Bitte verzeiht mir, Vater, ich habe einen großen Fehler gemacht. Ich habe mich und unsere Leute in Gefahr gebracht. Aber ich werde nicht ins Kloster gehen. Mein Platz ist hier. Ich möchte für dich, für unsere Familie und unsere Leute kämpfen. Aber ich akzeptiere deine Strafe.«
Seine Stimme zitterte ein wenig, und er musste immer wieder schlucken, dennoch hielt er sich wacker. Entschlossen drehte er sich um und marschierte aus der großen Halle hinaus in den Regen, der an diesem Tag die Menschen in die Häuser trieb. Er spürte kaum, wie ihm die kalten Tropfen ins Gesicht peitschten, denn die Erleichterung, so glimpflich davongekommen zu sein, trieb ihn freiwillig in den Pferdestall, um seine Arbeit aufzunehmen.
Sein Bruder James, der neben seinem Vater saß, atmete erleichtert auf. Der alte Haudegen wurde im fortschreitenden Alter anscheinend doch etwas ruhiger. Oder war es der positive Einfluss seiner sanften Frau Eleanore, die William jetzt lächelnd ansah? Sie war die zweite Ehefrau seines Vaters. Er hatte sie nach dem Tod seiner Mutter geheiratet, und es schien, als würde sie sein aufbrausendes Gemüt besänftigen. James war sein ältester Sohn, und seine Mutter Elisabeth starb bei Hughs Geburt, als er selbst gerade mal drei Jahre alt war. Er nahm seinen Kelch und trank den verdünnten Most, der von den Äpfeln stammte, dessen Bäume seine Mutter noch selbst gepflanzt hatte.
An diesem Morgen war er mit der verletzten Fremden in seinen Armen an der Pforte der Burg angekommen, die seine Familie seit Generationen bewohnte, und hatte sie in die Obhut von Lady Douglas gegeben, die sich mit der Heilerin sofort um sie gekümmert hatte. Die seltsam gekleidete Frau war seit dem kurzen Blick, den sie dort unter dem Baum ausgetauscht hatten, nicht mehr aufgewacht. Inständig hoffte er, dass sie überleben würde. Zu sehr hatten ihn ihre Augen fasziniert. Es war nur ein kurzer Moment gewesen, aber ihm kam es vor, als hätte er ihr in die Seele geblickt. Es hatte gereicht, um seine Gedanken zu erobern.
Wer war diese Frau? Woher kam sie? James hatte zehn Pferde gezählt, tot und lebendig. Aber mit ihr waren es elf Menschen, die gefunden wurden. War sie mit den Soldaten gekommen oder ihnen begegnet? Wie gerne hätte er einmal ihre Stimme gehört. Ihre Kleidung war ungewöhnlich für eine Frau, denn sie unterschied sich kaum von der eines männlichen Kriegers. Aber sie war aus gutem Stoff, ihre Stiefel von bester Handarbeit. Die Waffen, die in ihrer Lederweste steckten, waren ungewöhnlich und ebenfalls von feinstem Material.
»Denkst du über diese Frau nach, die du mitgebracht hast, Sohn?«
Aus seinen Gedanken gerissen, drehte er den Kopf verschämt zu seinem Vater um, der ihn mit klugen Augen scharf anstarrte, und nickte.
»Es scheint dich nicht zu stören, dass ich sie in deine Burg gebracht habe«, wich er dessen Frage aus.
Sein Vater lehnte sich ein wenig im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust, dabei lächelte er kalt.
»Ich sehe das so wie du, James. Solange ich nicht weiß, wer sie ist, behandle ich sie wie einen Gast. Vielleicht ist sie sogar von Nutzen für uns. Sie gehört sicher zu der Eskorte, die du dort gesehen hast. Damit ist sie wohl von hoher Stellung, und reiche Familien zahlen gutes Geld für ihre Verwandten, falls sie jemand wiederhaben will.« Für Vater war immer alles so einfach. Was, wenn sie eine Gefangene der Engländer war? Wieder sah er sie im Geiste vor sich, diese Augen …
»Vielleicht ist es weder eine Schottin noch eine Engländerin. Sie hatte ungewöhnliche Kleidung an, kann es sein, dass sie vielleicht aus Frankreich kommt?«, warf Eleanore ein.
James und William sahen sie irritiert an. James wusste nicht, wieweit sie das beurteilen konnte, aber der Einwand war nicht schlecht. Eleonore blickte ihn von der anderen Seite des Tisches erwartungsvoll an.
»Eine Französin, die mit den Engländern gemeinsame Sache macht?« Sein Vater kräuselte die Stirn, auch er fing an nachzudenken.
»Da Edwards Schwiegertochter Isabelle eine Französin ist, sollte dies doch naheliegend sein«, setzte Eleanore dem entgegen.
»Mmmh …«, kam es von Lord Williams Seite. »Nachdem Edward eine Allianz mit den Franzosen gegen die Schotten sucht, würde mich das nicht wundern.« Damit gab er seiner Frau insgeheim recht, was James überraschte.
»Verfluchte Engländer, jetzt, wo ihnen die Schotten vor die Füße pissen, suchen sie die Hilfe der Franzosen. Aber das wird ihnen nicht gelingen. König Philipp hat ganz andere Probleme als uns Schotten. Ha, soll Edward doch daran ersticken!«
Lord William war mit einem Ruck von seinem Stuhl aufgestanden, verließ seinen Platz am hohen Tisch und ging nun mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf und ab. Sein Gesicht verdunkelte sich wie immer, wenn er an die verhassten Engländer dachte.
»Hast du gesehen, James, was ein einziger Schotte den feigen Engländern mit dem nötigen Mut antun kann?«
James nickte, er wusste sofort, von wem er sprach. William Wallace war der Held seiner Kindheit gewesen und sprach seinem Vater aus der Seele. Was er selbst nicht schaffte, das traute er diesem imposanten Mann zu, nämlich Schottland zu einen und gegen die Engländer in den Krieg zu führen. Lord William war ein aktiver Unterstützer des Freiheitskämpfers und damit einer der Ersten aus der Adelsschicht.
Jetzt war sein Blut in Wallung, und seine Stimme erhob sich, um sie mit aller Macht in der großen Halle ertönen zu lassen. »Die Schotten werden sich nicht mehr ausbeuten lassen! Wir haben das gottgegebene Recht, unser eigenes Land zu verwalten. Und nur weil Edward das nicht passt und er unser Geld braucht, versucht er, sich Schottland einzuverleiben. Aber das wird ihm nicht gelingen. Ich würde lieber sterben, als mich England unterzuordnen!« Und dabei reckte er die Faust, als wollte er den englischen König damit erschlagen.
Die Männer in der Halle reckten ebenfalls ihre Fäuste nach oben, und es gellten Schlachtrufe. Vereinzelt fiel auch der Name Wallace. Jetzt kochte die Stimmung hoch, und die Leute fingen an, sich gegenseitig die Geschichten von den erfolgreichen Kämpfen zu erzählen, die schon zigmal erzählt worden waren, aber immer wieder die Tapferkeit der Schotten priesen. Das hörte sich jeder auch gerne mal öfter an.
James lächelte in sich hinein. Wie sein Vater es stets schaffte, seine Leute einzuschwören, war ihm ein Rätsel. Er selbst war während der Freiheitskämpfe in Paris aufgewachsen. Erst vor kurzem war er zurück in sein Elternhaus gekommen und hatte sich begeistert Vaters Kampf gegen die Besatzer angeschlossen. Douglas Castle befand sich im Grenzland zwischen England und Schottland und war oft Schauplatz von Schlachten, Überfällen oder Geiselnahmen. James’ Vater war ein unberechenbarer, ruchloser Kämpfer und hoffte, sein Sohn würde die gleiche Begeisterung für seine Politik zeigen. Aber zwischen James’ Leidenschaft und Williams Hass lagen ein paar Jahre Lebenserfahrung.
Eine Bewegung an der großen Steintreppe, die zu den oberen Gemächern führte, erregte seine Aufmerksamkeit. Gerade kam die alte Heilerin Mairi mit ihrem Korb die Stufen herunter. Die Steintreppe führte in einer geraden Linie von den Schlafkammern in die große Halle, die seine Vorväter erbaut hatten. In dem gigantischen Burgsaal reckten sich die Mauern aus grob gehauenem Stein hoch hinauf, um schließlich von einer rußgeschwärzten Holzdecke abgeschlossen zu werden. Die dicken Holzbalken waren reichhaltig mit Schnitzereien verziert und hielten neben der Eindeckung auch die schweren Eisenleuchter, die mit Hunderten von Kerzen die Halle erleuchteten. Die Wände zierten geknüpfte Wandteppiche und Waffen vergangener Generationen. Über dem erhöhten Ende der Halle prangte der Schild mit dem Wappen des Douglas-Clans – drei weiße Sterne auf blauem Grund. Der Vormann Lachlan McKay, der mit seinen Männern an den anderen Tischen saß, ließ einen Pfiff gellen, der die Halle zum Verstummen brachte. Alle Augen wandten sich zu der alten Frau, die sich langsam einen Weg durch die Halle bahnte, vorbei am großen Feuer und an den groben Tischen der neugierig starrenden Clanleute. Sie wischte sich mit einem Ärmel den Schweiß vom Gesicht, ehe sie an den schweren Holztisch auf dem höhergesetzten Podest trat.
Mit einer kleinen Verbeugung grüßte Mairi den Herrn des Hauses, der sich inzwischen wieder gesetzt hatte. Mit einer ungeduldigen Handbewegung forderte er sie zum Sprechen auf. »Wie geht es unserem Gast? Wird sie es überleben?«
»Mylaird«, fing sie mit unsicherer Stimme an, »ich habe diese Frau gewaschen und die Wunde versorgt. Ich habe den Schnitt, so gut es ging, genäht. Die Wunde war tief und sitzt an einer Stelle des Körpers, die schlecht heilt. Ich kann vorerst nichts weiter für sie tun, als zu beten.«
Im Saal war es mucksmäuschenstill, jeder versuchte, mit gespitzten Ohren etwas aufzuschnappen. Nur das Prasseln des Regens auf das Dach und das Knistern der Holzscheite im Feuer waren zu hören. Die Vorderen gaben die Neuigkeiten im Flüsterton den weiter hinten Sitzenden weiter.
»Ist sie noch einmal aufgewacht?«, fragte James die Heilerin.
»Nein, Herr, sie war die ganze Zeit ohnmächtig.«
»Danke, Mairi, du bleibst bei ihr, bis sie aufwacht oder tot ist.«
Williams klaren Befehl beantwortete sie mit einem eifrigen Nicken. Sie drehte sich halb um, dann schien sie es sich anders zu überlegen und wandte sich noch einmal an ihren Herrn, der ungeduldig eine Augenbraue hob.
»Noch etwas, Mylaird«, begann sie zögerlich, »mir ist etwas aufgefallen.« Ihr Blick ging zögerlich von einem zum anderen am hohen Tisch. Die alte Frau hatte Williams volle Aufmerksamkeit.
»Gibt es Hinweise auf ihre Herkunft?«
»Hm, das nicht, aber … sie ist sehr groß für eine Frau.«
»Nichts Ungewöhnliches, die Frauen aus dem Norden sind manchmal groß«, wandte der alte Laird ein.
»Aber sie hat auch eine sehr kräftige Muskulatur«, begann die Alte erneut.
»Vielleicht arbeitet sie hart?« William wurde langsam ungeduldig. »Was ist dann so seltsam an ihr, Weib, sprich!«
Die Heilerin blickte in die erwartungsvollen Gesichter der Leute und dann wieder zu dem ihres Lairds und meinte zögerlich: »Sie hat eine Zeichnung auf der Haut.«
Lord William wischte ihre Anmerkung mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. »Über der Nase, ich weiß. Eine Stammeszugehörigkeit vielleicht?«
»Nicht nur über der Nase, auch auf dem Rücken.«
Dies ließ ihn aufhorchen. »Auch ein Kreuz?«
»Nein, einen Drachen.«
William wechselte einen Blick mit James. Eleonores Mund stand offen vor Erstaunen. Frauen, die sich Bilder auf die Haut stechen ließen?
»Sind noch andere Bilder auf ihrem Körper?«
»Nein, nur das eine.« Die alte Frau hüstelte und schaute verlegen auf den Boden.
Lord William räusperte sich. »Und?«
»Nun ja«, druckste sie herum, »der Drache füllt den ganzen Rücken, vom Hals über den Rücken bis zum Hintern.« Ihre Stimme wurde während des Satzes immer leiser, die Stille im Raum war ihr unangenehm.
Lord William musste sich zu ihr beugen, um sie besser zu verstehen. Er glaubte schon, sich verhört zu haben. Ein Drache? Über den ganzen Körper in die Haut gestochen? Ein furchtbarer Gedanke schoss ihm plötzlich durch den Kopf.
»Gott steh uns bei!«, brüllte er mit einem Mal, stand so schnell auf, dass sein Stuhl polternd nach hinten flog, und schlug mit der Faust krachend auf den Tisch, dass die Heilerin entsetzt ein paar Schritte zurückwich und über die Stufe fiel. Sein Gesicht war rot angelaufen vor Zorn, und die Augen quollen ihm aus den Höhlen.
»Die Engländer haben uns eine Druidin geschickt, um uns in die Knie zu zwingen!« Ein wütender Aufschrei polterte aus den Männerkehlen durch die gesamte Halle.
* * *
Stimmen. Ich hörte Stimmen. Sie waren weit weg, aber ich hörte sie. Ich war also noch nicht in der Hölle. Deutlich spürte ich meine Muskeln schmerzen, die Wunde brannte und pochte. Meine Zunge lag trocken und schwer in meinem Mund. Aber ich lebte!
Vorsichtig öffnete ich die Augen. Das Erste, was ich sah, war eine kunstvoll geschnitzte Holzdecke. Ich ließ meinen Blick durch den Raum gleiten. Zwei Fenster, ein Tisch aus dunklem Holz, ein Stuhl und eine Truhe mit einem eisernen Schloss. Ich lag auf einem Bett mit Fellen, weich und warm. Neben dem Bett stand ein Tonkrug auf einer Kiste. Meine Kleidung und meine Stiefel lagen sorgfältig zusammengelegt daneben. Unter dem warmen Fell war ich in ein Tuch gehüllt.
Die Stimmen schwollen an, wurden leiser, dann wieder lauter und kamen von außerhalb dieses Raumes. Deutlich waren sie neben dem Prasseln des Regens gegen die Lederhäute am Fenster zu hören.
Bei dem Versuch, mich aufzurichten, belehrte mich der Schmerz in meinem Bauch eines Besseren und ließ mich fast wieder ohnmächtig werden. Vorsichtig senkte ich meinen Oberkörper zurück auf das Bett. Die Erinnerung erfasste meinen Verstand wie ein Blitz aus heiterem Himmel: die Verfolgung! Der Ritter, der mich mit seinem Schwert durchbohrte; Taycan; das Gesicht, das mich musterte.
Das Gesicht? In meinem Kopf schoben sich kleine Teile zu einem Bild zusammen: Es war das Gesicht eines großgewachsenen, gutaussehenden Mannes gewesen mit dunklen Haaren und freundlichen braunen Augen. Die Nase hatte einen kleinen Knick, als wäre sie einmal gebrochen gewesen. Warum war dieses Bild so klar in meiner Erinnerung? Hatte ich geträumt?
Die Stimmen wurden lauter. Ich musste hinaus und schauen, wo ich war. Hart biss ich die Zähne zusammen und rollte mich auf die Seite. Mit einer Hand befreite ich mich von dem Tuch, das mich umhüllte, nur um festzustellen, dass ich darunter nackt war. Mein Blick fiel auf eine große Wunde, die links neben dem Bauchnabel etwa zehn Zentimeter schräg zur Seite lief.
»Bei allen Göttern …«, entfuhr es mir, und ich starrte ungläubig auf die kleinen Stiche in meiner Haut. Nur vage erinnerte ich mich an das, was geschehen war. Im letzten Atemzug hatte mir der Ritter einen vernichtenden Schwertstreich verpasst, der mich wehrlos machte. Wie war das möglich? Bisher hatte mich noch nie ein Mensch im Schwertkampf schlagen können, warum auf einmal dieser Ritter, der noch nicht einmal zu den besten seiner Zunft zählte? So viele Männer hatten nicht den Hauch einer Chance gegen mich gehabt, und ausgerechnet Emmas Mörder kam mit seinem Leben davon?
Mit zittriger Hand griff ich den Krug zu meiner Linken und trank einen guten Schluck des klaren Wassers. Mit jedem weiteren Schluck spürte ich, wie das Leben in meinen Körper zurückkam.
Vorsichtig stellte ich den Krug ab und nahm das Baumwollhemd, das zusammengefaltet auf dem Bett lag. Kurz schnappte ich nach Luft, stülpte mir das Kleidungsstück über und stand mit wackligen Füßen auf. Als sich der Raum zu drehen begann, setzte ich mich sofort wieder.
Noch ein Versuch. Beim dritten Mal stand ich. Der Bettpfosten tat gute Dienste. Ich stützte mich ab und bewegte mich langsam weiter in den Raum hinein. Vom Bettpfosten waren es etwa zwei Meter bis zur Tür. Drei Schritte, Tür, geschafft.
Sie war nicht verschlossen. Ich zog sie auf, und das Stimmengewirr wurde lauter. Mein Puls jagte. Wo war ich hier? Freund oder Feind?
Von der Tür führte ein Gang zur Treppe, anscheinend war ich in einer Burg, dies würde zur reichen Ausstattung der Kammer passen. Der strenge Geruch von Feuer und Rauch zog bis in die oberen Stockwerke. Er mischte sich mit dem Duft von Most, Essen und ungewaschenen Männern. Ich stützte mich an der Wand ab und schaffte es so bis zur Treppe. Kurze Zeit drehten sich die Wände um mich herum, und ich schloss die Augen, wartete ein paar Sekunden, bis es nachließ. Als ich die Augen öffnete, war es in der Halle totenstill. Aus dem diffusen Gemisch von Rauch und menschlichen Ausdünstungen starrten zahllose Augenpaare zu mir hoch. Sie hatten mich entdeckt.
* * *
Dort sah er sie, am obersten Treppenabsatz, stolz, aufrecht wie ein Fels in der Brandung, als stünde sie nicht kurz vor ihrem Tod, sondern würde ihn geradezu herausfordern. James traute seinen Augen nicht.
Sie war eine dieser Schönheiten aus den schottischen Sagen und Legenden, die sich die Alten an den Lagerfeuern quer durch das wilde Land erzählten. James wusste, dass vieles dazugedichtet und einiges frei erfunden war, aber es hieß, dass es immer einen wahren Kern in jeder Geschichte gab. Und eine dieser Schönheiten aus den Legenden stand nun wahrhaftig vor ihm. In einem Hemdchen, das ihre Schultern und die Füße bis zu den Knien entblößte. Aber ihre unziemliche Aufmachung schien ihr nicht im Geringsten etwas auszumachen. Sie blickte mit ihren blauen Augen zum hohen Tisch von Lord William, seinem Sohn, dann zu den Kriegern und Dienern in der Halle.
Alle Anwesenden waren völlig überrascht. Niemand bewegte sich. Sogar die Hunde, die sich am großen Feuer rekelten, rührten sich nicht. Nur Callie, ein waches Mädchen mit Herz und Verstand, rannte geistesgegenwärtig mit einem Plaid die Treppe hinauf und warf ihn über die Schultern ihres Gastes. Trotz ihrer aufmerksamen Geste würdigte die stolze Fremde das Mädchen keines Blickes.
Stattdessen blieb er an dem von James Douglas hängen. Sie hatte ihn wohl wiedererkannt. Vorsichtig setzte sie sich in Bewegung, Schritt für Schritt, Stufe um Stufe. Jeder sah deutlich, dass sie große Schmerzen hatte. Das Mädchen, das ihr den Schal mit den Douglas-Farben umgelegt hatte, hielt sie besorgt am Ellbogen, um sie zu stützen, doch sie ignorierte es. Ihr langes weißes Haar fiel ihr weit über die Schultern und schimmerte auf dem dunklen Stoff wie flüssiges Silber. Sie hielt den Blickkontakt mit ihm, als wäre er das Seil, an dem sie entlangbalancierte. Ihre dunklen Augenringe verrieten ihre Erschöpfung.
James sah seinen Vater von der Seite an, selbst Williams Mund stand offen. Nur selten hatte er erlebt, dass seinem Vater die Worte fehlten, aber dies war eindeutig so ein Moment. James’ Verstand setzte wohl als Erstes wieder ein. Er stand auf, lief mit zügigen Schritten um den Tisch herum und schob ihr den Stuhl entgegen, auf dem sie erschöpft Platz nahm. Sie schloss die Augen und bewegte die Lippen, als würde sie zählen. Vermutlich kämpfte sie gegen die Übelkeit.
Verdammt, was war mit dieser Frau los? Eben noch halb tot, schleppte sie sich jetzt die Treppe herunter und saß – wie unglaublich! – in diesem Augenblick vor ihm auf einem Stuhl. Wie konnte sie es mit so einer Wunde bis hierher schaffen? Neugierig musterte er ihr Gesicht, als sie nun so nah vor ihm saß.
Die Haut war sehr blass, und Schweiß stand ihr auf der Stirn. Er sah eine bläulich schimmernde Ader an der Schläfe pulsieren. Deutlich zeichnete sich das schwarze Kreuz auf der Nasenwurzel ab. Die kurze Seite nach unten – seltsam. War sie tatsächlich eine Druidin? Ihr exotisches Aussehen passte jedenfalls zur Vermutung seines Vaters.
In der Halle kam verhaltene Unruhe auf, einige begannen zu tuscheln, Köpfe nickten oder wurden geschüttelt.
Unvermittelt schlug sie die Augen auf und ertappte James dabei, wie er sie musterte. Seine Augen fixierten ihr Gesicht. Fragend zog sie eine Braue hoch.
»Vergebt mir«, brachte James verlegen hervor, »kann ich etwas für Euch tun, Mylady?«
»Könnt Ihr sprechen?«, platzte es aus William Douglas heraus, der sich in seinem Stuhl aufgerichtet hatte und sich nun neugierig nach vorn beugte.
Sie schloss noch einmal kurz die Augen. Er hatte sie auf Englisch gefragt. Im Grenzland war dies die gängigste Sprache, auch auf schottischer Seite.
»Vater, du siehst doch, sie ist noch zu schwach …«, wollte James einwenden, aber er kam nicht weiter.
»Sie ist auf ihren eigenen Füßen hier heruntergekommen, da wird sie ja wohl reden können!«, brüllte William ungeduldig und schlug mit der Faust einmal mehr auf den Tisch, dass die Krüge schepperten. Sein Gesicht hatte wieder die gefährliche rote Farbe angenommen, anscheinend hatte er sein Temperament wiedergefunden.
Callie ging rückwärts in Richtung Küche, um aus der Gefahrenzone zu gelangen. Lady Douglas legte ihre Hand auf den Ellenbogen ihres Mannes, und er schnaufte tief durch. Sie löste ihren Blick nicht von der seltsamen Frau an ihrem Tisch, als sie ihm zuraunte: »Vielleicht versteht sie dich gar nicht, wenn sie Französin ist?«
Lord William schniefte und grummelte, sie könnte recht haben. Als Sprössling des schottischen Hochadels war er natürlich auch des Französischen mächtig, allerdings benutzte er die Sprache nicht gerne.
»Also …?«, versuchte er es noch einmal in einem ungeübten Französisch. »Comment vous appelez-vous – wie ist Euer Name?«
Die Schönheit lächelte, ihre Mundwinkel kräuselten sich leicht und entblößten ebenmäßige weiße Zähne. James stand noch immer neben ihr aus Angst, dass sie vom Stuhl rutschen könnte in ihrer schlechten Verfassung. Der andere Grund war, dass er seinen Blick kaum von ihrem Gesicht abwenden konnte, sie hatte ihn förmlich gefesselt. Ihre Augen waren jetzt direkt auf seinen Vater gerichtet. Sie schimmerten wie Kristalle, bläulich, die Pupillen waren groß und schwarz wie ihre Wimpern. Der Blick, den sie seinem Vater zuwarf, war eisig wie Loch Ness im Winter.
Mit der Zunge befeuchtete sie sich die trockenen Lippen, atmete kurz ein, wobei die Augenlider vor Schmerz flatterten, dann öffnete sie den Mund: »Enja.« Und nach einem weiteren schmerzhaften Atemzug: »Mein Name ist Enja.«
Daraufhin fielen ihr die Augen zu, sie verlor das Bewusstsein und rutschte vom Stuhl direkt in James’ Arme. Besorgt hob er den Kopf und sah seinen Vater an. Lord William richtete sich auf und verschränkte die mächtigen Arme vor seiner Brust. Sein Mund zuckte, aber er nickte James zu. Mit dem stillen Einverständnis seines Vaters trug er sie vorsichtig zurück über die Steintreppe in ihr Zimmer. Wieder hielt er diese seltsame Frau in seinen Armen. Sie war schwer und fest, ganz anders, als sich Frauen sonst anfühlten.
James biss sich auf die Lippen. Seine Gedanken liefen schon wieder aus dem Ruder. Sicher, er mochte Frauen. Aber im Gegensatz zu seinem Vater ließ er sich von keiner um den Finger wickeln. Es ärgerte ihn immens, dass Eleanore seinen Vater so im Griff hatte. Sie war so anders als seine Mutter, sie hätte Vater nie widersprochen.
Nein, ihm würde so etwas nie passieren. Eine Frau sollte einem Mann nicht ihren Willen aufdrängen. Verärgert schüttelte er den Kopf, stieß die Tür zum Schlafgemach so kräftig mit dem Fuß auf, dass sie gegen die Wand donnerte, und legte Enja vorsichtig auf das Bett. Dabei kam er mit der Nase dicht an ihre Haare. Er runzelte die Stirn und drückte seine Nase noch einmal in das seidige weißblonde Haar. Er konnte wirklich nichts riechen, denn sie hatte keinerlei Körpergeruch.
Callie, die dienstbeflissen mit ihm mitgelaufen war und nun einen frischen Wasserkrug auf den Tisch stellte, hatte nichts von seiner Beobachtung bemerkt. Sie zog ihr den wollenen Schal von den Schultern und rollte sie wieder in das Tuch.
James zog sich währenddessen aus dem Zimmer zurück. Nachdem er hinter sich die Tür geschlossen hatte, blieb er kurz stehen. Sollte er es seinem Vater berichten? Aber es würde nur für noch mehr Verwirrung sorgen, besser, er behielt es vorerst für sich. Ob die Frau sich im Klaren war, dass sie nur knapp ihrem eigenen Unglück entkommen war? Dann erinnerte er sich wieder, wie bewusst sie ihre Worte gewählt hatte, als sie seinem Vater antwortete. Sie hatte ihm nicht auf Französisch geantwortet und auch nicht auf Englisch. Sie benutzte akzentfrei das im schottischen Hochland gebräuchliche Gälisch. Sie gab seiner Familie so zu verstehen, dass sie eine Verbündete war, wenn auch keine Schottin. Seine Nase hatte ihn also im wahrsten Sinn des Wortes nicht getäuscht. Diese Frau war keine Gefahr für seinen Clan, aber sie war schuld am Tod der Engländer. So viel stand für ihn fest.
* * *
Das Mädchen mit den Pausbäckchen und den cleveren Augen hatte mir eine Suppe gebracht. Mein Magen krampfte schon beim Duft von Brot und Fleisch, und ich ließ mir geduldig Löffel für Löffel in den Mund schieben. Wie eine alte Frau saß ich vornübergebeugt im Bett mit diesem komischen Leibchen, das mir viel zu klein war, und schätzte die Zeit auf frühen Mittag. Die Sonne war auf dieser Seite der Fenster nicht zu sehen.
»Wie lange habe ich geschlafen, lassie?«, kam es mir über die aufgesprungenen Lippen. Weil ich ihren Namen nicht kannte, benutzte ich das schottische Wort für Mädchen. Da in der Halle auf Gälisch gegrölt wurde, nahm ich an, dass sie mich verstehen konnte. Tatsächlich blickte sie kurz auf, errötete und tauchte den Löffel wieder in die Schüssel.
»Zwei Tage und zwei Nächte, Herrin, Ihr wart geschwächt durch Euren …«, sie räusperte sich verschämt, »durch Euren Besuch in der großen Halle.« Sie hatte eine schöne, wenn auch durch die gutturale Sprache leicht harsche Stimme. »Aber Ihr hattet großes Glück, der Stich in Euren Bauch hatte keine wichtigen Organe zerstört. Und das Fieber konnte Mairi recht schnell eindämmen. Ihr habt einen starken Geist und einen gesunden Körper, Herrin!«, setzte sie bewundernd nach.
Sie bot mir einen weiteren Löffel an, den ich dankbar annahm. Es war nicht das erste Mal, dass mich die Stärke meines Körpers selbst überraschte. Als wäre ich für die Gefahren dieser Zeit gemacht, ging es mir durch den Kopf. Oder ich hatte einfach nur mehr Glück als andere Menschen. Nachdenklich blickte ich in das Gesicht des gut genährten Mädchens, das sich so um mich bemühte.
»Da ich immer noch lebe, vermute ich, dass Lord William sich entschieden hat, sich meine Geschichte anzuhören, bevor er mich tötet?«, mutmaßte ich zwischen zwei Löffeln der kräftigen Brühe.
Ich musste annehmen, dass der ältere Herr am hohen Tisch der Clanchef der Douglas war, der Vater meines Lebensretters. Dass er sich mir am Tisch noch nicht einmal vorgestellt hatte, festigte meinen Verdacht. Nur ein Mann von hohem Rang konnte sich so ein rüdes Verhalten erlauben.
Das rotblonde Mädchen errötete erneut, diesmal bis in die Haarspitzen, was ich sehr sympathisch fand.
»Lord William würde sicher nie eine Frau töten!« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Nicht ohne Grund natürlich«, verbesserte sie sich schnell. Sie tupfte mir mit einem Tuch den Mund ab und schob die leere Schüssel auf das Tablett zurück. Bevor sie sich weiteren Fragen stellen musste, stand sie hastig auf und drehte sich zur Tür. Deutlich spürte ich ihre Unsicherheit, aber auch ihre Neugierde.
»Sagt«, fing sie noch einmal an, »was bedeutet das Kreuz auf Eurer Stirn? Hat das mit Religion zu tun?«
Die meisten Schotten in dieser Gegend waren katholisch. Das Kreuz verbanden sie automatisch mit dem Leiden Christi, es war das Zeichen ihres Glaubens. Freundlich lächelte ich das schüchterne Mädchen an, diese Frage hatte ich schon allzu oft gehört. »Im Orient ist das Kreuz das Zeichen für Menschen, die ihre Rechte verwirkt haben. Man wird mit dem Kreuz zum Eigentum eines anderen Menschen bis zum eigenen Tod.«
»Und wem gehört Ihr?« Natürlich war das die nächste Frage.
»Niemandem, ich habe mir meine Freiheit wiedergeholt, und ich werde nie wieder jemandem gehören. Das Kreuz auf meiner Stirn erinnert mich jeden Tag daran, wie schnell man seine Freiheit verlieren kann.«
»Aber Ihr seid doch eine Frau, wie kann man da jemals frei sein?«
Ihre Neugierde amüsierte mich und ließ mich vergnügt lächeln, denn ich verstand ihre Frage nur zu gut. »Indem du den Mann das Fürchten lehrst.«
Sie lächelte wieder schüchtern, denn sie hatte verstanden, und das, ohne rot zu werden.
»Mein Name ist übrigens Callie. Wenn Ihr etwas braucht, ich bin draußen«, stellte sie sich vor, knickste höflich, wandte sich um und öffnete die Tür. Plötzlich verbeugte sie sich tief und machte jemandem Platz, der im massiven Holzrahmen stand.
Es war James Douglas, der Kerl, der mir nicht aus dem Kopf gehen wollte. Ihm verdankte ich, dass ich so schnell gesundete und jetzt schon wieder etwas zu mir nehmen konnte. Großgewachsen überragte er seinen Vater um fast einen Kopf. Dessen bullige Statur hatte er nicht geerbt, er war eher schlank und drahtig. Aber dafür hatte er die gleichen braunen Augen, die bei ihm so warm und bei seinem Vater so kalt wirkten. Die welligen dunkelbraunen Haare hatte er mit einem Lederband im Nacken zusammengebunden. Ein Bartschatten betonte sein kantiges Kinn. Vieles Männliche hatte er von seinem Vater: die kräftige Nase, die leicht geknickt war, und die Augenpartie. Aber die Augenbrauen waren längst nicht so buschig und dicht, sie waren vielmehr schmal und geschwungen, und er bewegte sie geschickt, um seiner Mimik mehr Ausdruck zu verleihen. Vielleicht hatte sich hier seine Mutter verewigt. Mit seinen vollen Lippen und der vornehmen Blässe hatte er fast etwas Edles. Ich hätte ihn beinahe als geistreichen Menschen eingeschätzt, wenn er jetzt nicht vor mir stehen und mit seinen verschränkten Armen die Haltung seines Vaters imitieren würde, eine Pose voller Arroganz.
Ich lehnte mich in die Kissen zurück, drückte ein wenig die Brust heraus und versuchte, trotz meines beklagenswerten Zustands noch ein wenig Würde zu bewahren. Während der Douglas-Erbe schlicht, aber gut gekleidet war, machte ich in meinem Hemdchen eine deutlich schlechtere Figur.
»Ich habe mich zwar schon vorgestellt«, begann er zögerlich, »aber ich nehme an, Ihr habt mich nicht wirklich wahrgenommen dort draußen, wo wir Euch gefunden haben.« Er machte eine Gedankenpause und zog diese schöne Augenbraue hoch. »Ich bin James Douglas, Sohn von Lord William Douglas, den Ihr schon in der Halle kennengelernt habt.«
Meinen Kopf leicht schief gelegt, nickte ich bedächtig. »Sehr erfreut«, antwortete ich, »meinen Namen kennt Ihr ja bereits.«
Diese knappe Feststellung entlockte ihm ein Lächeln, und er nickte wissend, dabei drehte er sich ein wenig und sah zum Fenster hinaus, als müsste er seinen Blick von mir abwenden. Die Fenster waren um diese Zeit des Tages geöffnet, und die Sonne traute sich ein wenig Licht in diese Kammer zu werfen. »Ihr seid Gast meines Vaters, solange Ihr von Eurer Wunde genest. Aber es wäre schön, wenn Ihr mir ein wenig über Euch erzählen würdet. Die Situation, in der wir Euch gefunden haben«, er räusperte sich unsicher, »sie war mehr als befremdlich.«
Er schaute jetzt überallhin, nur nicht zu mir.
»Warum kommt Lord William nicht, um mich zu befragen?«, wollte ich wissen. Sein Hals färbte sich leicht rot.
»Nun«, zauderte er, und die Fußspitze seines Stiefels wurde einer eingehenden Betrachtung unterzogen, »Ihr seid mein Gast, ich habe Euch hergebracht, also muss ich mich auch um Euch kümmern.«
»Dann helft mir mal aus dem Bett, Mylord! Ich könnte ein paar Schritte mit Euch spazieren gehen. Hier in diesem Bett verroste ich noch wie ein Hufnagel im Wassertrog.«
Erschrocken flog sein Blick zu mir und rutschte an meinem Hemdchen hinab: »Ich hole Callie, sie kann beim Anziehen …«
»Nichts da, junger Mann, reicht mir mal den Morgenrock, dazu brauche ich keinen Diener!«, antwortete ich ihm unwirsch. Diese Prüderie stieß mir mächtig auf. Und erst recht meine Hilflosigkeit. Unsicher nahm er den Morgenrock, der über dem Stuhl hing, und reichte ihn mir mit abgewandtem Gesicht, aber ein Lächeln umspielte seinen Mund.
»Junger Mann?«, wiederholte er verschmitzt, während ich mir den roten Mantel überstreifte. »Ihr seid ja wohl nicht älter als ich?«
Ich hielt ihm meine Hand hin, die er ohne zu zögern nahm, um mir aus dem Bett zu helfen. Ich schmunzelte. »Aber sehr viel weiser!« Dabei stakste ich auf unsicheren Beinen um das Bett herum zur Tür.
Er lachte, es klang unbeschwert, seine Augen tanzten dabei mit, und ich hatte das Gefühl, als wäre mir die Suppe in meinem Magen nicht bekommen. Ich legte meine Hand auf den Bauch, um ihn zu beruhigen. Sicher kam das von dem Wundschmerz, der sich hin und wieder als bösartiges Stechen bemerkbar machte. Vorsichtig führte er mich zur Tür, verbeugte sich und küsste meine Hand. Die Berührung erzeugte eine Gänsehaut auf meinem Arm. Sein Blick war ernst, aber eine Augenbraue war spöttisch nach oben gezogen, und er imitierte meinen schnippischen Ton: »Das müsst Ihr erst noch beweisen.«
Ich nahm die Herausforderung gerne an. Wir gingen ein paar Schritte über den Hof und hatten Gelegenheit, uns näher kennenzulernen. Dabei wurde mir klar, dass James Douglas ein geistreicher Erzähler war. Natürlich war er durch seine Erziehung in Frankreich gebildet, wich aber meinen Fragen nach der dortigen Politik und der Beziehung von Frankreich zu Schottland geschickt aus. Als er versuchte, mich in ein Gespräch über den Vorfall zu verwickeln, bei dem ich so schwer verletzt worden war, wurde ich einsilbig und bat ihn, den Weg wieder zurückzugehen, den wir gekommen waren. Er hatte verstanden, dass ich darüber mit ihm nicht reden wollte.
Als aufmerksamer Zuhörer wechselte er das Thema. Etwas schien ihm brennend auf dem Herzen zu liegen. »Wie kommt es, dass Ihr einen Drachen auf Eurem Rücken habt, den uns die Heilerin – mit Verlaub – genau beschrieben hat?«
Ich musste kurz auflachen, was ich sofort bereute, denn der Schmerz in meinem Bauch bestrafte diesen Ausbruch meiner Gefühle. James hielt immer noch meinen Ellbogen, um mich zu stützen, und ich spürte seinen Griff fester werden. Er würde weder meinen Arm noch dieses Thema locker lassen.
»Nun«, setzte ich nachdenklich an, »der Drache ist das Symbol von Stärke, Macht und Tod. Kaum ein anderes Symbol vereint diese drei Komponenten besser. Ich habe es gewählt, weil es wie kein anderes meinen Werdegang symbolisiert. Es ist mein Talisman …«
»Talisman?«, horchte er auf. »Dann seid Ihr so etwas wie eine Druidin oder Schamanin?« Es schwang etwas Ehrfurcht in seiner Stimme mit.
»Nein, das würde ich nicht sagen. Ich habe mir dieses Bild selbst ausgesucht und auf meinen Rücken malen lassen ohne religiösen Hintergrund.«
»Ihr habt das freiwillig getan? Welche Frau lässt sich so schänden?«
»Schänden?« Mein Entsetzen war nicht gespielt. »Aber das ist doch der Schmuck und Stolz eines jeden Kriegers. Dafür muss ich mich nicht schämen!«
Der junge Mann schüttelte ohne Verständnis den Kopf. »Ich fürchte, ich verstehe Euch nicht. Ihr seid eine sehr schöne Frau, warum …«
»… ich lieber als Krieger gesehen werden möchte?«
Im gleichen Moment war er stehen geblieben und hatte sich vor mich gestellt. Mit großem Selbstbewusstsein schaute ich ihm jetzt direkt in die warmherzigen Augen und fügte lächelnd hinzu: »Weil ich eine Kriegerin bin, und wer mich kennt, wird daran nicht zweifeln.«
Unverkennbar bemerkte ich in seinem Blick den Unglauben, den ich schon bei vielen Männern gesehen hatte. Es wunderte mich inzwischen nicht mehr, in diesem Land verkörperte ich mit meinen Ansichten ein schlimmeres Übel als das des Antichristen. Anscheinend enttäuscht wendete er sich nun von mir ab, nahm abwesend wieder meinen Ellbogen und ging langsam zurück zur Tür des Nebeneingangs, durch den wir ins Freie gelangt waren. Dahinter befand sich die Treppe, die mich mit jeder Stufe daran erinnerte, dass das Schwert des Ritters meine Bauchmuskeln schwer in Mitleidenschaft gezogen hatte.
Nach einer Weile des Nachdenkens bemerkte er gedämpft, ohne mich dabei anzusehen: »Ich sehe etwas Besonderes in Euch. Ihr seid stolz und tapfer, aber vergesst nie, Ihr seid immer noch eine Frau. Wenn Euer Drache seine Macht entfalten will, dann geht dies nur über einen Mann an Eurer Seite.«
Mit einer galanten Bewegung beugte er sich über meine Hand, küsste sie und verabschiedete sich höflich. Für den Weg zurück ins Gemach überließ er mich Callie, die sofort herbeieilte, als er sich verabschiedete. Seine Worte schlugen eine tiefe Kerbe in meine Seele, denn er sagte mir nichts, was ich nicht schon wusste. In diesem Land hatten Männer die Macht und das Gesetz auf ihrer Seite. Ein Blick in die Gesellschaft auf dieser Burg, und ich konnte es selbst sehen. Es wurde Zeit, dass der Drache zeigte, was er konnte.
* * *
Es ging mir erstaunlich gut, die Wunde pulsierte kaum noch, und mein Appetit war zurückgekehrt. Die Heilerin hatte mich darüber aufgeklärt, dass sie die Wunde persönlich gereinigt und genäht hatte. Die Haut war bereits wieder fest zusammengewachsen, und sie konnte die Fäden ziehen. Eine Wunde in diesem Ausmaß hätte auch einiges an Problemen mit sich bringen können, daher sah ich es als glückliche Fügung, so schnell zu genesen. Nach nur wenigen Tagen, die ich im Bett verbracht hatte, konnte ich bereits wieder einigermaßen laufen und sogar vorsichtig ein paar Übungen durchführen, die mir meine Körperspannung zurückgeben sollten. Das Einzige, was mich jetzt noch ärgerte, waren meine durchtrennten Bauchmuskeln, die länger als das restliche Gewebe brauchen würden, um ihre ursprüngliche Form wiederzuerlangen. Der heutige Weg am Arm von Sir James Douglas vom Zimmer über die Steintreppe bis in die große Halle bereitete mir daher kein Vergnügen. Ohne es zu wollen, rutschte mir bei jeder dritten Stufe ein leiser Schmerzenslaut heraus.
Davon anscheinend unbeeindruckt erwarteten mich seine Lordschaft William Douglas und seine Frau Lady Eleanore bereits in einem Raum neben der großen Halle, der wohl als Schreibzimmer diente. Hier roch es nach Leder und Holz, und ein großer Kamin entfachte die angenehme Wärme in dem kleinen Raum, der von einem kleinen Fenster erhellt wurde. Das weiche Licht ließ Lord Williams harte Züge ein wenig sanfter wirken, und als er seine Frau nun anlächelte, konnte ich etwas vom jungen James in ihm entdecken, dem das Leben noch nicht so tiefe Furchen ins Gesicht gezeichnet hatte.
Beide blickten erwartungsvoll auf mich, als ich vorsichtig den Raum betrat. Ich nickte kurz, denn eine Verbeugung war immer noch nicht möglich. Ein alter, vergilbter Stuhl neben dem großen, massiven Holztisch war frei, und James geleitete mich dorthin. Erst jetzt wurde ich einer weiteren Person gewahr, die mir nicht direkt ins Auge gefallen war, denn sie lag in einer Art Kiste, an der zwei Räderpaare angebracht waren. Die Kiste befand sich neben Eleanore, und ihre Hand wanderte immer wieder zu dem Bündel Mensch, das darin lag. Es war ein Kind, aber schon etwas größer als ein Kleinkind und sollte eigentlich nicht liegen müssen. Etwas an seinem Gesicht war seltsam. James bemerkte meine Blicke und schüttelte warnend den Kopf. Warum sollte ich nicht fragen?
Eleanore beachtete James’ warnende Blicke nicht, auch sie hatte meinen fragenden Blick gesehen. Als sie zu sprechen begann, hörte ich aus jedem ihrer Worte die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind heraus. »Das ist unser Sohn Matthew. Er kam mit Schwierigkeiten auf die Welt und ist nicht so wie andere Kinder. Aber ich liebe ihn sehr, denn er sieht die Welt, so wie sie ist, und ich lerne jeden Tag, sie mit seinen Augen zu betrachten.«
Das beeindruckte mich zutiefst. Eleanore mochte jung sein, aber sie wirkte reifer als die meisten Frauen ihres Alters. Mein Respekt für die zierliche Schlossherrin wuchs mit jedem Augenblick. Sie hatte sich an der Seite ihres Mannes eine einflussreiche Stellung erkämpft und brachte Liebe und Vernunft in dieses männerdominierte Burgleben. Ihr positiver Einfluss reichte auch bis zu meinem Gastgeber, der sich jetzt räusperte und erklärte: »Wir haben alles versucht, aber kein Heiler konnte ihm helfen. Er wird wohl für immer ein Krüppel bleiben. Aber solange ich lebe, wird er respektiert. Denn er ist auch ein Douglas, wie wir alle.«
Neugierig trat ich näher. Oft wurde ein behindertes Kind als Blutschande und von der Kirche als Strafe Gottes gesehen. Meine Vermutung lag eher bei einer Krankheit des Blutes oder einer Verletzung des Gehirns. Kopfverletzungen bei Kriegsopfern riefen ähnliche Symptome hervor wie bei diesem Kind. Vielleicht war es bei seiner Geburt unsanft behandelt und der weiche Kopf gequetscht worden. Aber das sagte ich natürlich nicht, niemand musste hier mehr über mich wissen als notwendig.
Aber dieses Kind hier hatte Glück im Unglück. Es wurde geliebt und anständig behandelt. Kaum eines seiner Schicksalsgefährten überlebte die ersten Monate, oft wurden sie aus Angst ausgesetzt oder verhungerten. Matthew schien nach meinen Schätzungen aber schon etwas mehr als fünf Jahre alt zu sein.
Er lächelte mich an, schlug mit der verkrampften Faust auf den Rand der Kiste und quietschte vergnügt. Im Gegensatz zu seinem Vater schien er bestens gelaunt zu sein, während ebenjener mich mit dunkler Miene von der anderen Seite des Raumes abschätzig musterte. Von seiner Heiterkeit angesteckt hielt ich Matthew meine Hand hin, die er nach drei Versuchen auch endlich erfasste, und nickte dem Kind lächelnd zu.
»Sehr erfreut, Matthew Douglas, Euch kennenzulernen. Mein Name ist Enja, Enja von Caerlaverock, und Eure Ähnlichkeit mit Eurem Vater ist einfach verblüffend!«
Tatsächlich fand ich so gar nichts, was seine Vaterschaft bestätigen würde, aber diese Lüge glitt mir mit einem Lächeln ganz leicht von den Lippen. Ein lautes Quietschen und Gejohle aus der Kiste bestätigten mir, dass er mehr verstand, als man ihm wohl zutraute, und sein Vater lächelte trotz meiner gewagten Worte. »Er scheint Euren Humor zu mögen, Lady Enja.«
»Was man nicht von jedem hier im Raum behaupten kann«, konterte ich und setzte mich auf den freien Stuhl, begleitet von Matthews fröhlichem Lachen.
»Stolze Worte von einer Frau! Würde ein Mann sie sagen, würde ich ihm entsprechend antworten. Aber meine Erziehung – und meine liebe Frau – versagen es mir.« Dabei nahm er ihre Hand und küsste sie liebevoll. James verzog angewidert seinen Mund, die Turtelei seines Vaters schien ihm nicht zu gefallen.
»Eure Frau ist ein wirklich kluges Weib mit einer Tugend, die nicht im Entferntesten an die meine heranreicht. Bitte nehmt keine Rücksicht, ich erwarte keine«, forderte ich und sah ihn mit erhobenem Kopf an.
Nachdenklich ließ er ihre Hand wieder sinken und stand auf. Seine imposante Gestalt verdeckte das flackernde Kaminfeuer und warf einen Schatten auf mich. Sein Sohn hatte sich schweigend an die rechte Wand zurückgezogen, wo er dem Gespräch folgen und vielleicht auch einschreiten konnte.
»Nun, dann erzählt Eure Geschichte, denn glaubt mir, Rücksicht gehört ganz sicher nicht zu meinen Tugenden. Wenn ich Euch als Gefahr für meinen Clan sehe, dann werdet ihr den Tag nicht lebend überstehen.«
Um wenigstens körperlich einen starken Eindruck zu machen, lehnte ich mich im Stuhl leicht zurück, verschränkte die Arme und nickte anerkennend. »Das ist eine Sprache, die mir schon besser gefällt.«
Wie gut, dass der ziehende Schmerz in meinem Bauch meinen Geist hellwach hielt.
* * *
Fieberhaft überlegte ich, was ich dem Chef des Douglas-Clans erzählen sollte. Die schottischen Highlands sind durch und durch patriarchalisch. Eine Frau hatte nichts zu melden, sie war der Besitz ihres Vaters oder eben später ihres Mannes. Sie waren bis auf wenige Ausnahmen ungebildet und hatten neben der Aufgabe, einen Erben zu gebären, vielleicht noch die Zuständigkeit für den häuslichen Bereich. Vorsichtig gab ich Lord Douglas daher nur kleine Häppchen, die sich besser verdauen ließen, anstatt sein Weltbild mit der ganzen Wahrheit auf den Kopf zu stellen.
»Ihr seid also mit dem Vormann Eures Clans dem Mörder des Pferdehirten nachgeritten und auf den englischen Ritter samt seinen Soldaten getroffen. Der Vormann tötete alle bis auf den Ritter, der Euch mit seinem Schwert verletzte. Dann versorgte er Euch und ließ Euch zurück, um Hilfe zu holen?« Misstrauisch fasste der Lord meine Aussagen zusammen.
»Ja«, bestätigte ich und nickte dabei, ohne rot zu werden, »und bevor er wiederkam, hat mich Euer Sohn gefunden und hierhergebracht.«
Unglaube stand in großen Buchstaben auf seiner gerunzelten Stirn. James’ Gesicht war ausdruckslos. Ich bemühte mich aber, nicht zu ihm, sondern fest in das Gesicht des Clanchefs zu blicken. Seine Kiefer mahlten, die Sehnen an den Backen spannten sich dabei an. Wiederholt sah er Eleanore unsicher an, und sie sprach, sehr ungewöhnlich für eine Ehefrau, an seiner Stelle.
»Für eine Dame seid Ihr sehr mutig, und Eure Wunde heilt schneller, als unsere Heilerin vorausgesagt hat. Ihr seid ungewöhnlich groß und stark, Ihr habt ein großes Bild von einem Drachen auf Eurer Haut …« Sie machte eine kurze Pause und holte sich mit einem Blick das Einverständnis ihres Mannes weiterzusprechen. »Sagt, was seid Ihr? Seid Ihr eine Druidin?«
Ihr Blick war dabei so erwartungsvoll, dass ich geneigt war, ihre Vermutung zu bestätigen ungeachtet aller Konsequenzen. Es war die gleiche Frage, die mir James schon in meiner Kammer gestellt hatte. Anscheinend war ein Druide eine außergewöhnliche, aber akzeptierte Person.
Für eine kurze Zeit war es leise im Raum, nur das Knistern der Scheite im Kamin und das Gurgeln des Jungen waren zu hören. Ich musste das Richtige sagen, sonst käme ich von hier nicht mehr weg. Vorsichtig beugte ich mich nach vorn, vergaß dabei meine Bauchmuskeln und zuckte ein wenig zusammen. Vor Schmerz schloss ich die Augen, atmete langsam aus, öffnete die Augen wieder und antwortete: »Ich komme aus dem Land, in dem der Heilige Krieg tobt. Ich bin dort als Sklavin gelandet, als unser Schiff mit meiner Mutter unterging. Ich habe viele Jahre um meine Freiheit und meine Selbstbestimmung gekämpft. Auf der Suche nach meinem Vater habe ich schließlich in Caerlaverock Castle vom Clan der Maxwells für mich und meine Leute eine Heimat gefunden. Ich sehe anders aus und bin auch anders als die Schotten hier, aber ich sehe das Land als meine Heimat. Und in einem bin ich jedem hier gleichgestellt: Wenn ein verdammter Engländer einen meiner Leute umbringt, nur weil er meine Pferde will, dann werde ich ihn töten. Auch wenn ich England damit den Krieg erkläre. Dann bin ich eben auch so eine verdammte Schottin.«
Während meiner Rede hatte sich William nach vorn gebeugt. Er starrte mich an, und ich erwiderte seinen Blick. Langsam, ganz langsam stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht, das zu einem Glucksen wurde und schließlich in schallendes Gelächter mündete. Alle Augen richteten sich auf ihn, und Matthew quietschte mit voller Inbrunst.
Schließlich fielen wir alle ein, meine Bauchmuskeln taten fürchterlich weh, und William musste sich die Lachtränen aus dem Gesicht wischen. Schließlich stand er auf, ging die paar Schritte an meinen Stuhl heran, schlug mir immer noch lachend mit seiner großen Pranke auf die Schulter und hielt mir die schwielige Hand hin.
»Egal wer oder was Ihr seid, Enja von Caerlaverock«, sagte er mit einem Grinsen, das sämtliche noch nicht ausgeschlagenen Zähne zeigte und seine Züge auf einen Schlag weniger einschüchternd wirken ließ. »Aber Ihr steht auf der richtigen Seite, und ob Frau oder nicht, Schottin oder nicht, Ihr gefallt mir!«
* * *
Lord William hatte also ein weiches Herz, war ein großzügiger Gastgeber und seinen Landsleuten damit ein gutes Stück voraus. Ich hatte schon ganz andere Erfahrung mit den hiesigen Schotten und im Speziellen mit den Nachbarn meiner Ländereien gemacht.
Er hatte darauf bestanden, das Abendessen an diesem Tag zu meinen Ehren abzuhalten. Es war ein Friedensangebot gewesen, das ich dankend angenommen hatte, aber nur unter der Bedingung, dass ich in meiner eigenen Kleidung daran teilnehmen durfte. Das Hemdchen, das in meiner Nase so widerlich nach Krankheit roch, streifte ich dankbar ab und wusch mich, so gut es ging, an einer bereitgestellten Schüssel. Callie ging mir dabei zur Hand.
Ich zog mir die weit geschnittenen Hosenbeine über die Beine und wickelte und verknüpfte die Hose an der Hüfte. Den Gürtel um die Tunika ließ ich etwas locker, um nicht die Wunde aufzureißen. Meine Haare befestigte ich in einem Knoten am Hinterkopf. Dazu steckte ich den kleinen Dolch, der in einem Schaft mit feinen glitzernden Edelsteinen steckte, mit geübten Fingern in den gedrehten Haarknoten. Callie hatte ihn sorgfältig zusammen mit meinen Waffen und meiner Kleidung in eine Truhe neben meinem Bett gelegt. Die Lederweste war leider zerstört – erst durch den Schwertstreich und dann durch die Heilerin, die sie zerschneiden musste, als sie meine Wunde versorgt hatte. Callie hatte meine Tunika genäht und das Blut ausgewaschen. Mit prüfendem Blick betrachtete das Mädchen nun meine Erscheinung.
»Ihr seid eine bewundernswerte Frau, Mylady. Und selbst in Hosen seid Ihr schöner als manche Dame im prachtvollsten Kleid.« Dabei schoss ihr wieder die charmante Röte ins Gesicht, und ich drückte dankbar ihre Hand.
»Wenn du jemals Hilfe brauchst, Callie, kannst du jederzeit zu mir kommen. Du warst mir eine loyale Freundin hier, und ich vergesse nie eine gute Tat.«
Ein schüchternes Lächeln war die Antwort, und ich machte mich vorsichtig auf den Weg in die Halle, um dem Festmahl des Clans beizuwohnen. Das Gegröle war bereits bis in meine Kammer zu hören. Reichlich Ale und Uisge beatha, ein hochprozentiger Alkohol mit einer Farbe wie Honig, hatte die Stimmung angeheizt.
Als Ehrengast durfte ich neben Lord William am Tisch der Familie sitzen. Neben Eleanore saß Hugh, der zu diesem Abend aus dem Pferdestall frisch gewaschen dazustoßen durfte. James ließ es sich nicht nehmen, neben mir zu sitzen. Es war ein lockerer Abend, die Spannung der letzten Tage war einer freundschaftlichen Atmosphäre gewichen. Die Gespräche dienten mehr der Neugier und nicht mehr zur Unterscheidung zwischen Freund und Feind.
Um einer weiteren Befragung zu entgehen, beschäftigte ich mich eingehend mit Matthew, der mein Herz gefangen hatte. Er schien immer gut gelaunt, und meine Worte entlockten ihm fröhliche Jauchzer. Mit James unterhielt ich mich gezwungenermaßen, aber ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass er von mir mehr erwartete als die Antworten, die ich seinem Vater gegeben hatte. Immer wieder versuchte er, mich ins Gespräch zu verwickeln, um mehr über mich zu erfahren. Dabei musterten mich seine braunen Augen mit einer Intensität, die mir seltsamerweise nicht unangenehm war. Bevor er meine eigenartige Schwäche ihm gegenüber erkannte, sollte ich mich frühzeitig verabschieden, um nicht zu lange neben ihm sitzen zu müssen. Aber das seltene Vergnügen, mit einem gewandten Gesprächspartner gepflegte Worte zu jonglieren, ließ mich schließlich doch an meinem Platz verharren.
Ich ahnte, dass er mir meine Geschichte nicht abnahm. Zu vieles blieb unbeantwortet, und James ließ sich nicht wie sein Vater von meiner heroischen Antwort blenden. Er war ein Mann von scharfem Verstand, und er ließ es mich wissen. Immer wieder kam er auf den Vorfall mit den Engländern zurück. Seine Fragen kreisten darum, mit welcher Waffe die Männer getötet worden waren und wer mir geholfen hatte. An diesem Punkt blieb ich hartnäckig und ließ ihn im Dunkeln tappen. Für mich war es wie ein Schachspiel, jeder Zug musste gut überlegt sein, und ich war schwer zu schlagen. James erwies sich als brillanter Kopf und würde sicher einmal ein kluger Laird des Douglas-Clans werden, zumal er bei Weitem nicht so reizbar war wie Lord William.
Der Abend war noch nicht richtig vorbei, die Sonne warf gerade die letzten Sonnenstrahlen auf die Douglas-Burg und tauchte die dicken Mauern in oranges Licht. Die angetrunkenen Clanleute, die in der großen Halle saßen, begannen zu singen oder zu grölen, was die Kehlen hergaben, als das Horn am Haupttor plötzlich erschallte. Es kündigte Besuch an. Die meisten Douglas-Männer horchten nur kurz auf, manche waren schon weit über den Punkt, an dem sie überhaupt laufen konnten. Manche reagierten gar nicht mehr und starrten nur glasig in ihre Krüge.
Die Türen zum Saal wurden kräftig aufgestoßen, einer der Außenposten rief quer durch den Saal: »Ein Reiter nähert sich unserer Burg, Mylaird! Sollen wir ihn durch das Tor lassen?«
Lord Douglas erhob sich wankend, stützte sich mit Mühe auf dem Tisch ab und brüllte aus Leibeskräften: »Um diese Zeit? Lasst ihn herein, zum Teufel nochmal! Alle Mann, die noch laufen können, f‑folgt mir!« Und er stakste als Erster unsicher durch die Tür hinaus in den Burghof.
Daraufhin entstand ein riesiges Durcheinander. Betrunkene Männer stolperten ziellos, fielen über Stühle und Beine. Dazwischen hetzten die Bediensteten, die wie verschreckte Rehe versuchten, Teller, Kelche, Essen und Getränke vor den torkelnden Gestalten zu retten.
Seelenruhig blieb ich sitzen, wo ich war, und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. James war aufgestanden und neben mir stehen geblieben, anstatt seinem Vater nach draußen in den Hof zu folgen. Er verschränkte die Arme und sah mich prüfend an. Listiger Fuchs!
»Kann es sein, dass Ihr genau wisst, wer uns hier besuchen kommt?«
Vorsichtig erhob ich mich, bis ich von Angesicht zu Angesicht vor ihm stand. Er war einen ganzen Kopf größer als ich. Seine dunkelbraunen Augen bohrten sich in meine. Seine Miene verriet nicht, ob er mir wohlgesinnt war. »Ja, ich habe auf ihn gewartet.«
»Ihn?«, fragte er und legte seinen Kopf leicht schief. Die Furche zwischen seinen Augen vertiefte sich.
»Hal, meinen Vormann«, erklärte ich und machte eine Pause. Als ich seine fragend hochgezogene Augenbraue sah, ergänzte ich noch: »Der die Engländer getötet hat.«
Ich bildete mir ein, hinter seiner unergründlichen Miene so etwas wie leichte Enttäuschung zu sehen. Aber er hatte sich gut im Griff, denn er deutete mit seinem Kopf in Richtung Tür und meinte nur knapp: »Dann sollten wir ihn begrüßen.«
Er bot mir seinen Unterarm, und ich nahm seine Hilfe dankbar an. Langsam folgten wir den anderen durch das Chaos in der Halle nach draußen. Alle, die sich dort inzwischen versammelt hatten, blickten gebannt auf das Haupttor, das nun von den wenigen Wachleuten, die nüchtern geblieben waren, aufgedrückt wurde. Neben zahlreichen Rülpsern und Flüchen stand Chief Douglas trotz Saufgelages aufrecht und breitbeinig wie ein Fels, bereit, jeden unerwünschten Gast mit seinen Blicken wegzufegen.
Die Sonne war längst untergangen. Der Hof wurde nun von der Mitternachtssonne erhellt, die den Abend um ein paar Stunden verlängerte und Fackeln überflüssig machte. Es war eine seltsame Stimmung, eine Helligkeit ohne Sonne, und es färbte die Umgebung in ein eigenwilliges Licht. Fast als hätten die Götter Fackeln entzündet, die aber nirgendwo zu sehen waren. Es gab auch keinen Schatten, alles um mich herum war von dem gleichen diffusen Licht erhellt. Ein merkwürdiges Phänomen, wie ich es nur hier in Schottland in den Sommern erlebt hatte.
So merkwürdig wie der Reiter, der nun den Hügel heraufkam und mit ihm ein Gefühl der Vertrautheit. Einmal mehr war ich froh, Hal zu sehen. Er trottete auf seinem riesigen Schimmel in aller Seelenruhe auf die Burg zu.
* * *
Enja an seiner Seite verstärkte ihren Griff um seinen Oberarm. Sie richtete sich noch ein wenig mehr auf, als wollte sie damit ihre Autorität unterstreichen, und beobachtete konzentriert, wie der Reiter gemächlich durch den Torbogen ritt, als würde er die Kirche aufsuchen und nicht den Hof des mächtigen Lord William Douglas.
James Douglas gestand sich ein, dass seine Männer schon bessere Zeiten gesehen hatten als heute Abend. Allein die schiere Zahl sollte dennoch ausreichen, um den Fremden einzuschüchtern. Stattdessen ritt der Mann auf dem kräftigen Schimmel in den Hof, als wäre er der Chef dieses halb betrunkenen Haufens. Ein ziemlich grimmiger Chef, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen. James schluckte, als er das Waffenarsenal überblickte, mit dem der Fremde bestückt war: Zwei Äxte steckten über Kreuz im Gürtel, ein mächtiges Breitschwert lugte über die Schulter, ein Bogen mit Pfeilen und ein schweres Schild baumelten am Sattel. Dabei sah der Riese allein schon einschüchternd aus.
Unter seiner zu engen Tunika zeichneten sich beeindruckende Muskeln ab, die bei jeder Bewegung tanzten. Seine Lederweste war wie eine Fischhaut geschuppt mit überlappenden Lederschichten. Die lockere Hose ließ die mächtigen Oberschenkel nur erahnen, die riesigen Füße steckten in Lederstiefeln. Wie ein Koloss thronte der Fremde auf dem Schimmel, der stolz seinen großen Schädel reckte und wieherte. Ein imposanter Destrier, der auffällig groß war, seine Brust war wie die seines Reiters breit und kräftig, und selbst die Hufe hatten die Größe eines Tellers. Seine dunkle Mähne reichte ihm bis zu seinen Schultern. Auch die Augen und die Nase waren dunkel eingefärbt, während der Rest weißgescheckt war. Irgendwie passten Pferd und Reiter zusammen und bildeten eine eindrucksvolle Einheit.
Enja hatte James’ Ellbogen losgelassen und war ein paar Schritte nach vorn gegangen, lächelnd und mit verschränkten Armen. Der mächtige Krieger auf dem Pferd nickte ihr zu.
Dessen Kopf übertraf alles, was James vorher jemals gesehen hatte. Aus der Nähe konnte er erkennen, dass der massive Schädel komplett kahl rasiert war und direkt in einen dicken kurzen Hals überging. Ein Ohrläppchen war abgerissen, am anderen hing ein Gegenstand, den er nicht erkennen konnte. Seine Stirn war schwarz bemalt, und die Farbe endete in wilden Formen und Linien, die sich über seinen Kopf zogen wie Schlangen. Sie schlängelten sich um seine Augen, die von so einem intensiven Grün waren, dass sie selbst über die Distanz des Hofes hinweg zu leuchten schienen. Diese Augen starrten ihn nun an, als wäre James die Plage Ägyptens. Nervös wechselte er sein Gewicht von dem rechten auf den linken Fuß und war Enja in diesem Moment regelrecht dankbar, dass sie ihm den Arm rechtzeitig entzogen hatte, denn er wollte auf keinen Fall den heiligen Zorn dieses Mannes auf sich ziehen.
Dessen grüne Augen wanderten zu Enja, die nun aufrecht wie eine Statue nur wenige Meter von ihm entfernt stand. Er musterte sie scharf von Kopf bis Fuß. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, etwas schien ihn zu stören. Seine Stimme klang heiser, und der Ton passte zur Bedrohlichkeit des Mannes: »Seid Ihr verletzt?«
Enja schüttelte den Kopf. »Nicht der Rede wert«, antwortete sie ihm und machte eine wegwerfende Handbewegung, bevor sie wieder die Arme vor der Brust verschränkte.
»Mmmh …«, brummte der Reiter. Der Schimmel schüttelte ungeduldig den mächtigen Kopf und zog mit seiner Trense die Zügel in die Länge. »Ich habe auf Euch gewartet.« Das klang vorwurfsvoll.
»Ich war beschäftigt, Hal«, gab Enja scharf zurück, als würde sie krampfhaft verhindern wollen, dass er mit irgendeiner Wahrheit herausplatzte, die ihre Geschichte sprengen würde.
James zog eine Augenbraue hoch, und Lord William räusperte sich unüberhörbar. Seine Männer befiel eine seltsame Unruhe, als wären sie lieber in der Halle als hier draußen mit diesem seltsamen Reiter, und er hob energisch die Hand.
»Diese Dame ist mein Gast, und wenn Ihr ein Freund seid, dürft Ihr Euch gerne zu unserer Feier gesellen. Wenn nicht, dann bewegt Ihr Euren H‑Hintern dorthin, wo Ihr hergekommen seid!« Nur ein leichtes Schlurfen in der Stimme verriet, dass Lord William zu tief in seinen Kelch geschaut hatte.
Unwillig sah der einsilbige Reiter zu dem Clanchef herüber, grunzte etwas Unverständliches und wandte sich wieder Enja zu. Sein mächtiger Arm schnellte nach vorn, und er öffnete die Hand. »Kommt jetzt!«, befahl er ihr ungeduldig.
Enja seufzte und schüttelte über so wenig Benehmen nur den Kopf, machte aber keinerlei Anstalten zu widersprechen. Es war ihr recht, sie wollte schleunigst weg von hier. Sie wandte sich daher höflich zuerst dem Clanchef und Eleanore zu, machte eine kleine Verbeugung, die sie einen kleinen Ächzer kostete, und sagte: »Mir scheint, ich muss Euch heute Abend schon verlassen. Ich hoffe auf Euer Verständnis, es warten wohl wichtige Aufgaben auf mich.« Sie blinzelte amüsiert. »Bitte nehmt meinen besten Dank für Eure Gastfreundschaft und die außerordentliche Bewirtung entgegen. Für die Rettung und Pflege gilt mein besonderer Dank Eurem Sohn James.« Dabei neigte sie ihren Kopf in seine Richtung. Sie zwinkerte ihm zu, und ihr Mund umspielte ein geheimnisvolles Lächeln. »Unsere Wege trennen sich hier. Aber seid gewiss, wenn Ihr einen Verbündeten braucht, fragt nach Enja in Caerlaverock. Ich bin dem Clan Douglas für immer in Freundschaft verbunden.«
Sie nickte James und Hugh kurz zu und bewegte sich zu Hal. Der Reiter spannte sich merklich an, er wirkte ziemlich schlecht gelaunt und strahlte etwas aus, das James die Nackenhaare sträuben ließ. Es war wohl besser, diesen Mann nicht zum Feind zu haben, aber er befürchtete, dass er das bereits war. Enjas Hand auf James’ Arm war den grünen Augen nicht entgangen.
Enja legte ihre Hand in die des mächtigen Kriegers, und in einem Schwung zog er sie hinter sich auf das Pferd, als wäre sie nur ein Fliegengewicht. Ohne ein Wort wendete der Koloss den Schimmel und trottete so gemächlich, wie er gekommen war, wieder von dannen.
Gerade als James überlegte, ob er sie jemals wiedersehen würde, drehte sich Enja noch einmal um und sah ihn mit ihren blauen Kristallaugen an. Unwillkürlich richtete er sich ein wenig auf und hob zögernd die Hand. Enja tat es ihm nach, und da war es schon wieder, das geheimnisvolle Lächeln. Irgendetwas Seltsames passierte in diesem Moment, das er nicht verstand: Bildete er sich das nur ein, oder ging tatsächlich gerade ein Teil von ihm mit ihr und hinterließ eine Leere, die schmerzte?
Lord William grunzte etwas Unverständliches, drehte sich schwankend um und winkte mit einer unwirschen Handbewegung sein unruhiges Gefolge wieder zurück in die Halle.