Kapitel 9

Bagdad im Jahre 1295

Ich irrte nun schon seit Tagen in der Stadt umher. Meine neugewonnene Freiheit beschränkte sich auf die Fragen, wo ich etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen fände. In Fahrudins Obhut hatte ich nie einen Gedanken daran verschwenden müssen. Jetzt merkte ich, dass ich einen Großteil meiner Zeit auf der Suche nach etwas Essbarem verbrachte. Morgens beobachtete ich die Händler und Handwerker, wie sie ihre Stände bezogen. Manchmal konnte ich einem zur Hand gehen und bekam als Belohnung ein wenig Obst oder ein paar meiner geliebten datiln. Manchmal steckte mir jemand ein Stück Brot zu, weil er Mitleid hatte.

Gerade lag ich im Schatten einer Palme, beobachtete schläfrig das rege Treiben in der Mittagshitze und fragte mich, wohin ich eigentlich wollte und wie ich die nächste Zukunft überdauern sollte, als ich aus dem Augenwinkel eine Rolle Brot aus einer der Kisten des Bäckers fallen sah. Er hatte sie im Vorbeifahren verloren. Jeden Mittag lieferte der Bäcker seine Waren in den Hafenkneipen ab. Ich bemerkte sofort zwei Konkurrenten, die vielleicht auch die Beute gesichtet hatten. Doch der glückliche Umstand blieb von den Jungen, die es sich gegenüber zwischen den Säcken bequem gemacht hatten, unbemerkt.

Möglichst unauffällig erhob ich mich, schlenderte die Gasse entlang bis zur Höhe der Straße, wo das Brot lag, und blieb kurz stehen. Meine Augen suchten in beiden Richtungen der wenig belebten Straße nach Menschen, die mir in die Quere kommen könnten. Aber mich schien niemand zu bemerken, also rannte ich los, schnappte mir das Stück und flitzte flink in die nächste Gasse. Hinter einer offenen Tür blieb ich atemlos stehen und horchte auf Geschrei oder schnelle Schritte. Nichts.

Stolz betrachtete ich meine Beute, und mein Magen knurrte. Ich biss so hastig in das Brot, dass ich mich beinahe verschluckte. Oh, was für eine Wonne! Es schmeckte nach Kardamom und war so kross, es musste frisch aus dem Ofen gekommen sein. Zufrieden schlenderte ich mit meiner Beute die kleine Gasse hinab, als ich plötzlich Schritte hinter mir hörte. Über meinen Rücken jagte ein kalter Schauer, und ich blieb unwillkürlich stehen. Mein Herz pochte wild.

»Willst du das Brot denn nicht mit uns teilen, Kleiner?«, tönte es direkt hinter mir. Es war die Stimme eines Jungen. Langsam drehte ich mich um, immer noch an dem großen Brocken kauend. Vor mir standen die beiden Straßenkinder, die gegenüber am Marktplatz im Schatten gelegen hatten. Der Größere hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah mich herausfordernd an. Der Zweite duckte sich etwas dahinter und lugte hinter dem Rücken des anderen nervös hervor.

»Eigentlich nicht«, erklärte ich bestimmt, »ich habe Hunger, und mir fiel das hier«, ich reckte das Brot in die Höhe, »ganz zufällig vor die Füße.« Rasch biss ich noch einmal ab und kaute in aller Ruhe weiter, da ich mir meine Nervosität nicht anmerken lassen wollte.

»Du jagst hier in meinem Gebiet, und wenn hier einer was abbekommt, dann teilt er es auch gefälligst mit mir!« Der Größere reckte bedrohlich seinen Zeigefinger in meine Richtung.

»Wer bist du überhaupt? Ich habe dich hier noch nie gesehen«, entgegnete ich mit vollem Mund. »Wie kannst du behaupten, es sei dein Gebiet, wenn du gar nicht hier bist?« So schnell ließ ich mich sicher nicht einschüchtern, und ich hatte immer noch das Brot in meiner Hand.

»Ich heiße Khalil, und der Junge hinter mir ist Laith. Ich bin der Anführer in diesem Gebiet, und wenn du weiter hier betteln möchtest, ordnest du dich gefälligst unter und gibst uns hiervon etwas ab!« Er deutete auf mein Stück Brot, und ich schluckte den Bissen mühsam hinunter, der gerade in meinem Mund sehr trocken geworden war.

»Was ist denn dein Gebiet? Wenn ich das weiß, gehe ich eben woanders hin.« Schließlich wollte ich niemanden vor den Kopf stoßen. Der große Junge grinste schelmisch, breitete die Arme aus und sagte stolz: »Alles hier. Ganz Bagdad ist mein Gebiet, und jetzt her mit der Beute!«

Mit Bedauern schaute ich auf das verbliebene Stück und blickte dann Khalil an. Es war genug für uns drei. Mit einer schwungvollen Handbewegung warf ich ihm den größeren Teil zu. Er fing ihn geschickt auf, riss ein kleines Stück ab und gab es Laith, der es gierig verschlang. Er war ein ganzes Stück kleiner, dünner und nur mit einem zerfransten Sirwal, einer orientalischen Pluderhose, bekleidet. Sein rechter Arm endete in einem Stumpf, der genauso dreckig war wie der Rest des Jungen. Hastig stopfte er sich das Brot mit der Linken in den Mund.

Khalil starrte mich an und verfolgte meinen Blick, dann grinste er gemein. »Noch nie einen gesehen, der erwischt wurde, was?«

»Erwischt?«, krächzte ich erschrocken. Inzwischen war mein Mund trocken wie die Wüste. »Wobei denn?«

Die beiden lachten höhnisch. »Na, beim Stehlen eben – so wie das, was du gerade gemacht hast«, erklärte mir Khalil grinsend.

»Ich habe nichts geklaut, ich habe nur das Stück Brot aufgehoben, das im Dreck lag«, entgegnete ich erbost und hob drohend den restlichen Brotkanten.

»Erzähl das mal dem Scharfrichter, wenn du vor ihm stehst.« Khalil wurde ernst. »Du bist neu in der Stadt …« Es war keine Frage. Er runzelte die Stirn, die so schmutzig war wie meine, aber ohne Tätowierung. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und sprach mit erstaunlicher Autorität: »Du siehst flink und geschickt aus. Warum kommst du nicht mit uns? Wir jagen zusammen, und du kannst mit unserem Schutz rechnen. Wir halten zusammen, was immer passiert. Oft kommen andere Banden und versuchen, uns zu vertreiben, aber wir halten unser Gebiet.« Khalil hatte die Beine gespreizt und wirkte selbstbewusst. »Du musst natürlich betteln und stehlen gehen, aber dafür darfst du bei uns bleiben.«

Der Schutz einer Gruppe würde mir wirklich helfen, ging es mir durch den Kopf. Ich nickte und gab ihm die Hand. Khalil lachte mit weißen Zähnen, die sich seltsam gegen seine dunkle Haut abhoben, nahm meine Hand und fragte mich nach meinem Namen.

»E… Ewan«, stotterte ich meinen neuen Namen, der mir noch etwas fremd war und schwer über die Lippen ging.

»Ewan«, sagte Khalil laut und drückte noch einmal fest meine Hand, »willkommen bei den Usamas, den Löwen Bagdads!«

Laith beeilte sich, mir ebenfalls die Hand zu geben, auch wenn es nur die Linke war. Der schüchterne Junge war ein hübscher Kerl, aber viel zu mager. Seine Haut war dunkel wie die so vieler Einheimischer, seine Augen hatten ein schönes Graublau wie das der Tauben, die von den Falken gejagt wurden und daher nur in den Städten zu sehen waren. Ich vermutete, dass er der Bastard einer westlichen Sklavin war, denn auch seine Haare hatten unter dem Schmutz einen goldenen Ton.

Khalil dagegen war gut genährt und kräftig, seine pechschwarzen Haare standen in alle Richtungen, und seine dunklen Augen funkelten frech unter dem Haarschopf hervor. Seine Hose war noch ganz, und er hatte sich eine Weste beschafft, die sich vorn über seinen ansehnlichen Bauch spannte. Die Farben waren von der Sonne ausgeblichen.

»Komm, Ewan«, sagte er und neigte seinen Kopf in eine andere Richtung, »ich stelle dich den anderen vor.«

Wendig lief er durch die Gassen und stieg schließlich eine Leiter hinauf, sein kleiner Schatten Laith geradewegs hinterher. Über die Leitern gelangten wir in die oberen Geschosse, von dort wieder hinunter in die Seitengassen. Dort waren weniger Menschen unterwegs als in der Nähe des Marktplatzes, und wir kamen weit zügiger voran.

In dem Tempo hatte ich Mühe, den beiden zu folgen, so schnell ging es die Leitern rauf, wieder hinunter, durch schmale Häuser hindurch und schließlich in eine Markthalle mit Fleischabfällen. Es stank fürchterlich. Tausende von Fliegen übersäten die achtlos hingeworfenen Essensabfälle, und ich hielt mir das Stück Brot vor die Nase. Khalil führte mich dort in einen abgelegenen Raum, der bis auf ein paar Bänke und Tische leer war. Das dämmrige Licht verdeckte den schmutzigen Boden, den ich zwischen meinen Zehen spüren konnte. Etwas erstaunt über diese Sackgasse sah ich mich um, und ein beklemmendes Gefühl beschlich mich. Hatte er mich mit Absicht hierhergelockt?

Khalil pfiff leise mit zwei Fingern, woraufhin eine Leiter durch eine kleine Luke in der Decke heruntergelassen wurde. Khalil hievte seinen fülligen Körper als Erster nach oben, dann folgte ich ihm und schließlich Laith. Aus schmalen Gesichtern starrten mich große Augen an, als ich durch die Luke stieg. Es war dunkel, der Raum war fensterlos. Nur die Luke im Boden ließ ein wenig von dem spärlichen Tageslicht in den ehemaligen Speicher. Ein paar Habseligkeiten waren auf dem Boden verstreut.

Es waren allesamt Kinder, vielleicht zwischen sechs und zwölf Jahre alt, selbst den Anführer Khalil schätzte ich auf nicht älter als zwölf. Die Ausnahme war ein klein geratener Junge, er musste weit jünger sein als die anderen, vielleicht vier Jahre alt. Er hielt die Hand eines größeren Kindes mit ähnlichen Gesichtszügen. Sein Bruder?

Ich wartete ab, bis mich Khalil allen vorgestellt hatte, und begrüßte jedes Kind mit einem Handschlag. Dabei stellte ich fest, dass noch zwei anderen eine Hand fehlte. Die Strafe für Diebstahl bestand also im Abhacken der Hand. Alle Kinder hatten eines gemeinsam: Sie hatten Hunger, und sie blickten gierig auf das Stück Brot. Ich streckte die Hand vorsichtig dem Anführer entgegen. Khalil nahm es mir aus der Hand und gab es einem der Jungen, der sich einen Bissen nahm und es weiterreichte.

Es schien eine Rangordnung zu geben, denn die Reihe war nicht zufällig. Der Letzte war der kleine Junge, aber für ihn blieb nichts mehr übrig. Vom Hunger schon leicht apathisch, ließ er den Kopf hängen, woraufhin ihm sein Bruder ein kleines Stück seines ohnehin schon kleinen Bissens abgab.

Die Situation erschütterte mich. Die Kinder waren zwar frei, aber doch Sklaven ihres Hungers. Ihr jämmerliches Dasein schmerzte mich.

»Wo findet ihr denn euer Essen?«, fragte ich in die Runde. Alle sahen ihren Sprecher Khalil an, als wäre er der Einzige, der das wüsste. »Wir teilen uns in verschiedene Gruppen auf, die zu verschiedenen Tageszeiten patrouillieren. Morgens am Fischhafen unten am Tigris, mittags bei den Bäckern, die die Gasthöfe beliefern, und abends versuchen wir es bei den Marketendern, die ihre Produkte nicht mehr mit zurücknehmen möchten und uns großzügig mit Essen beschenken. Wir stehlen nur manchmal.«

Das bescherte ihm ein Grinsen von den kleinen Gesichtern.

»Aber wehe, wenn die Rabahs oder die Junays kommen, die verhauen dich dann, und weg ist die Beute!«, krähte Laith mit seiner hellen Stimme hinter Khalil hervor. Und noch ein paar Namen wurden eingeworfen, die mir nichts sagten. Es waren wohl die Namen von anderen Bettlerbanden, und mir wurde ein wenig flau im Magen. Meine Hände wurden feucht, aber ich ließ mir meine Unsicherheit nicht anmerken und fragte: »Darf ich denn heute Abend mit auf den Markt? Ich kenne dort schon ein paar Leute, vielleicht fällt etwas für uns ab.«

Die Kinder lachten und tuschelten, aber Khalil schaute mich prüfend an, bevor er nickte. Anscheinend wollte niemand auf den Marktplatz gehen. Woher sollte ich auch wissen, was dieses Leben auf der Straße bedeutete? Für mich war es das aufregendste Abenteuer meines Lebens.

* * *

In nur wenigen Wochen lernte ich, wie man gezielt, aber unauffällig Leute beobachtete, ablenkte und anschließend um die Beute erleichterte. Die meiste Zeit drehte es sich um Essen, nur selten klauten wir Gegenstände, denn die Wut der Leute war ungleich größer, wenn es um persönliche Dinge ging. Nicht selten konnten wir nur knapp unseren Häschern entkommen, aber umso mehr freuten wir uns dann über den erfolgreichen Ausgang des Beutezugs.

Die Söldner oder auch Asakire, wie sie hier genannt wurden, machten selten Jagd auf uns Kinder. Sie hatten kein Interesse daran, uns zu verfolgen. Denn wir waren keine einträglichen Gefangenen, die von ihren Angehörigen freigekauft wurden. Daher hielten sie das Gesetz nur so lange aufrecht, wie sie von der Bevölkerung beachtet wurden und zeigen mussten, dass sie ordentlich ihren Dienst machten.

Die Asakire stammten aus ganzen Familienclans, die auf die Einhaltung der Gesetze in Bagdad spezialisiert und entsprechend ausgebildet waren. Eine lukrative Einnahmequelle, leider waren sie durch und durch korrupt. Das lernte ich sehr schnell, weil wir nicht nur nach Beute Ausschau hielten, sondern durch unsere Beobachtungen manchmal zu unfreiwilligen Spionen wurden. Mehr als einmal sah ich, wie Wirte, Händler oder Edelleute den Asakiren Goldmünzen zusteckten. Vielleicht erkauften sie sich dadurch Freiheiten, die sie sonst nicht hätten? Oder sogar Schutz, so wie Khalil ihn mir gab?

Da wir die Söldner nicht für das Wegschauen bezahlen konnten, lernte ich Ausschau zu halten, bevor wir zuschlugen. Wurde ein Asakir Zeuge eines Diebstahls, musste er etwas tun, um seinen Ruf zu wahren. Eigentlich waren sie recht einfach zu erkennen, denn sie trugen die weißen Turbane der Sunniten, hatten meist einen Vollbart und waren in helle Tuniken mit einer roten Weste gekleidet, die mit einem Goldrand bestickt waren. Außerdem hatten sie neben dem Krummdolch im Gürtel noch ein Schwert auf ihren Rücken geschnallt, den Scimitar, ein Krummschwert, das aufgrund seiner Schärfe auch für Enthauptungen benutzt wurde. Ehrlich gesagt, hatte ich noch nie gesehen, wie einer der Asakire es gezogen, geschweige denn benutzt hatte. Vermutlich dienten sie vor allem der Manneszier.

Es wäre das reinste Paradies gewesen, hätten uns nicht immer wieder die anderen Kinderbanden aufgelauert, uns unserer hart verdienten Beute beraubt oder uns auch noch verprügelt. Einen so harten Kämpfer wie Khalil in unserer Mitte zu haben, der die meisten Gegner schon durch seine Erscheinung abschreckte, hatte durchaus Vorteile. Dagegen musste ich meine fehlende Kraft mit Schnelligkeit kompensieren. Meine Taktik bestand aus Ablenkung und blitzschnellem Zuschlagen mit jedem Gegenstand, der mir in die Hände kam. Oh, ich war schnell, sehr schnell!

Da hatte ich nun wirklich jede Menge bei Meister Abdallah gelernt, das Lesen, Schreiben, Rechnen, und ich konnte den Koran zitieren, aber nichts hätte mich auf das Leben unter den Straßenkindern Bagdads vorbereiten können. Von meinen kleinen Freunden bekam ich nun Lehrstunden im Anschleichen, Wegrennen und Lügen, was diese verharmlosend »Einschmeicheln« nannten. Und sie lehrten mich eine Disziplin, die mich bald schon zur Besten unter den Usamas machte, weil mir meine ungeheure Sprungkraft und meine Schnelligkeit dabei zugutekamen: der Häuserlauf.

Wenn es etwas gab, das ich liebte, dann war es das Springen von Häusern und Leitern in einer Geschwindigkeit, bei der mich kein Mensch mehr einholen konnte. Dazu kam, dass ich bevorzugt abends oder nachts auf Beutezug ging. Zum einen war ich tagsüber viel zu leicht zu erkennen. Meine helle Haut, die weißen Haare und nicht zuletzt mein Kreuz auf der Stirn brachten mich sofort unter Verdacht. Allzu oft hörte ich jemanden auf dem Marktplatz »Der Junge mit den hellen Haaren war’s!« rufen, dann musste ich rennen wie ein Wiesel. Ein anderer Grund war, dass meine Augen in der Nacht mindestens genauso gut sehen konnten wie am Tag. So empfindlich sie in der Sonne waren, so scharf sahen sie in der Nacht, ähnlich wie bei einer Katze. Wie oft hatte ich schon beobachten können, wie die Katzen nachts große, schwarze Pupillen bekamen.

Laith bemerkte das auch. Mit einem nachdenklichen Zug sprach er mich einmal darauf an. Ihm war aufgefallen, dass ich nachts nicht einmal das Mondlicht brauchte, um sicher in Bagdad umherzupirschen. Dabei machte ich weder einen Laut noch einen falschen Tritt.

»Nachtstern« wurde mein Kampfname, und ich war mächtig stolz darauf. Er bedeutete das für mich, was ich immer sein wollte: frei und unabhängig. Zum ersten Mal hatte ich Freunde, die ich beschützen konnte und die auch für mich da waren. Bagdads Löwen waren wie eine kleine Familie. Wir hielten zusammen, schützten einander und warnten uns gegenseitig. Manchmal kam ein neues Kind hinzu, andere verschwanden.

So wie der kleine Benjamin, der immer die Hand seines Bruders gehalten hatte. Er wurde von Tag zu Tag schwächer und wachte eines Tages einfach nicht mehr auf. Seine Leiche warfen wir in den Tigris. Sein Bruder schien nicht traurig zu sein, daher sprach ich ihn darauf an, während wir am Uferrand standen. Ich musste an meine Mutter denken, wie sie im Wasser von mir weggetrieben war, wie ihr Gesicht immer kleiner geworden war am Horizont, und die Erinnerung nahm mir fast den Atem.

Der Junge stand nur da und legte seine Hand als Beschattung über die Augen, denn die Sonne schien niedrig und ließ das Wasser glitzern wie Kristalle. In der Ferne ragte die endlose sandbraune Silhouette der Stadt Bagdad auf. Wie mit einem Pinsel verwischten sich die Häuser mit dem Staub der Wüste. Die Häuserreihen verschwanden in diesem Sandmeer.

»Ich bin nicht traurig«, sagte er ruhig, »wir müssen doch alle irgendwann ins Paradies. Benjamin geht nur einen anderen Weg als ich, eine Abkürzung. Letztlich kommen wir alle dorthin, manche früher, manche später.«

Seine Worte waren so klar und von einer Weisheit, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Ich konnte nichts darauf erwidern und schluckte die Tränen hinunter, die in mir aufstiegen.

»Benjamin war vielleicht gar nicht mein Bruder. Ich weiß es nicht, er war bei meiner Familie, als sie uns beide aussetzten.«

Mein Blick ging zu Boden.

»Warum haben sie das getan?«, fragte ich vorsichtig. Meine Stimme klang unsicher. Ich kämpfte mit meinen eigenen Erinnerungen. Der Abschied von meinem Vater, die Überfahrt, meine Bestimmung. Hatte meine Familie mich auch ausgesetzt? Was war denn überhaupt meine Bestimmung gewesen? Und warum festigte sich der Verdacht, dass irgendetwas falsch war an meiner Erinnerung? Was war mit den vielen Mädchen passiert, die sich jedes Jahr auf den gleichen Weg gemacht hatten wie ich? Keines war je wieder zurückgekommen. Um diese verstörenden Gedanken loszuwerden, schüttelte ich mich. Der Tod des kleinen Benjamin schien tiefer zu gehen, als ich zugeben wollte.

»Meine Familie waren Marktleute, jeder Mund war zu viel, und ich war zu klein, um mir etwas dazuzuverdienen. Als ich eines Tages aufwachte, waren alle weg, und Benjamin lag in meinem Arm.«

Seltsam berührt drückte ich diesen einsamen Jungen an mich, und ich begann zu ahnen, dass ihn das alles nicht so kalt ließ, wie es den Anschein hatte. Er zitterte, und ich umarmte ihn nun mit beiden Armen. Irgendwann fingen wir beide an zu weinen, wegen Benjamin und allem, was wir verloren hatten.

* * *

In den folgenden Monaten stellte ich fest, dass ich immer weniger mit der Hitze und dem grellen Licht klarkam. Tagsüber verbrachte ich meine Zeit fast ausschließlich bei der Pferdeschwemme, die sich nicht weit vor der Stadt an einem der überfluteten Flusstäler des Tigris befand. Die Nähe zum Wasser war für mich etwas Lebenswichtiges geworden, eine körperliche Notwendigkeit. Der Dreck und die Hitze machten es mir schwer. Das Wasser dort war meine einzige Waschmöglichkeit, und ich nutzte sie täglich. Dabei schwamm ich mit jedem, der mich herausfordern wollte, um die Wette. Der einhändige Laith, der mir ein treuer Freund und Begleiter geworden war, setzte sogar Wetten auf mich.

Laiths Idee, meine Haare abzurasieren und die Kopfhaut mit einem Turban zu schützen, lehnte ich zuerst ab. Doch trotz meiner Sauberkeit gelang es mir nicht, die Läuse loszuwerden, die sich auf allen Kinderköpfen tummelten. Es half auch nichts, dass wir sie jeden Abend aus den Haaren zupften, am nächsten Morgen juckte und kratzte es erneut. Irgendwann stand der Entschluss fest: Die Haare mussten ab.

Laith konnte ein Stück Seife vom Stand der Seifenhändlerin erbetteln, das eigenartig nach ranzigem Olivenöl roch. Aber es ließ sich im warmen Wasser gut aufschäumen. Er seifte sich zuerst die Haare ein, um dann von mir rasiert zu werden. Ich zückte den kleinen Dolch, den ich von Jasemin bekommen hatte, und zog ihn vorsichtig über seinen schmalen Schädel.

Zufrieden mit meinem Werk strich ich mit meiner Hand über seinen kahlen Schädel. Er grinste von einem Ohr zum anderen. »Jetzt müssen sich die Läuse ein neues Zuhause suchen!«

Das brachte mich zum Lachen, er sah aber auch zu komisch aus ohne Haare. Alles an ihm war jetzt dünn und glatt wie das Ende seines Armstumpfs. Würde ich auch so komisch aussehen ohne Haare?

Viel geschickter, als ich dachte, rasierte Laith mich kahl, und wir beide lachten noch lange miteinander. Wir stellten uns vor, welch ein Gesicht die Läuse machen würden, wenn sie feststellten, dass wir sie um ihr Hab und Gut gebracht hatten.

Von diesem Tag an sah man mich nur noch mit einem Turban, der meinen Kopf und damit die verräterisch gekennzeichnete Stirn bedeckte. Denn der Tarik – die Übersetzung meines Kampfnamens Nachtstern – gehörte bald zu den schnellsten und gerissensten Dieben Bagdads. Von ihm erzählten sich die Bettelkinder der Stadt, dass er nachts so lautlos wie die Katzen seine Beute stahl und untertauchte, als würde sein Schatten mit dem der Stadt verschmelzen.

* * *

Aber was half der beste Ruf als Dieb, wenn es andere gab, die es neideten? Im Nachhinein war ich mir sicher, dass alles geplant war. Sie wollten uns mit Absicht ausliefern, denn anders konnte ich mir einfach nicht erklären, warum die Asakire in dieser Nacht so schnell zur Stelle waren.

Laith und ich waren an diesem verhängnisvollen Abend einem Betrunkenen gefolgt, der aus einer der zahlreichen Tavernen getorkelt war. Wir setzten ihm wie ein Schatten nach und stellten bald fest, dass er allein war und sich als Opfer eignete. Wir blieben dem schlanken Mann, der auffällig gut gekleidet war und den für arabische Edelleute typischen Krummdolch, den Khanjar, am Gürtel trug, dicht auf den Fersen.

Der Edelmann wankte zu einer Häuserecke, die im Schatten einer geschlossenen Herberge lag, und erleichterte sich dort. Unsicher blickte er sich um, dann schwankte er weiter und setzte sich irgendwann mit schwerer Schlagseite auf eine der herumstehenden Kisten. Deutlich konnten wir ihn grunzen und rülpsen hören.

Laith und ich warteten noch ein wenig, dann schlichen wir uns auf Zehenspitzen an. Er reagierte nur mit einem mürrischen Grunzen auf einen Stups mit meinem Fuß. Selbstbewusst steckte ich schließlich meine Hand in seinen Gürtel und zog einen Beutel heraus, während Laith verstohlen die menschenleere Straße im Blick behielt.

Vorsichtig nahm ich zwei Silbermünzen heraus und steckte den Beutel wieder in den Gürtel. Ich nickte Laith zu, und wir rannten flink zurück zu unserem Lager. Mein Herz pochte bis zum Hals. Zwei Silbermünzen! Damit konnten wir uns endlich neue Stoffe für Kleidung kaufen, die wir so dringend brauchten. Laiths Sirwal bedeckte kaum noch seinen Hintern.

Wir freuten uns auf die Gesichter unserer Bande und huschten die Leiter hinauf, die in die Dachkammer der Fleischhalle führte. Normalerweise wurden wir immer neugierig empfangen, aber diesmal war es merkwürdig still. Waren schon alle schlafen gegangen? Wie lange waren wir wohl unterwegs gewesen?

Erst als ich die Leiter losließ und im Raum stand, konnte ich erkennen, warum es so totenstill war. Die Mitglieder der Rabahs hielten die Kinder unserer Bande rund um mich herum fest. Sie bedrohten sie mit Messern, Stöcken und allen möglichen Waffen. Khalil wurde vom Anführer, der ihn um mehr als einen Kopf überragte, festgehalten und sprach als Erster.

»Ich konnte nichts tun, Tarik, sie haben uns aufgelauert.« Seine Stimme klang wütend.

»Es ist in Ordnung, Khalil, ich werde ihnen meine Beute geben, dann sollen sie sich verziehen.«

Es fiel mir nicht im Traum ein, wegen der zwei Münzen alle Kinder zu gefährden. Die Augen des gegnerischen Anführers richteten sich auf mich.

»Sehr vernünftig, Tarik. Wir wollen keine Schwierigkeiten. Leg sie vor dich hin, so dass ich sie sehen kann.«

Ich ließ die beiden Münzen gut sichtbar vor mir auf den Boden fallen. Ohne Eile ging ich ein paar Schritte zurück und beobachtete den Rabahs-Anführer scharf. Für eine Sekunde ließ er Khalil los und beugte sich neugierig zu den Münzen. Vorsichtig nahm er sie in die Hand und begutachtete sie im schwachen Licht, das noch von unten heraufkam. Er drehte sich ein wenig zur Luke, um besser sehen zu können. Seine langen schwarzen Haare ringelten sich wie Wolle um sein helles Gesicht.

Was in Khalil vorging, als er den großen Anführer der Rabahs in den Tod stieß, konnte ich mir nicht erklären … Es geschah furchtbar schnell. Eine Bewegung aus dem Augenwinkel, das Gesicht Khalils, der entschlossen vorwärts preschte. Der Moment brannte sich schwer in meine Erinnerung.

»Nein!«, schrie ich aus Leibeskräften und stürzte zur Luke, durch die der Rabahs-Anführer gefallen war. Auch Khalil wurde mitgerissen. Beide fielen mit einem furchtbaren Gebrüll in die Tiefe, bis ein schrecklicher Laut ihre Schreie abrupt beendete. Für einen Moment war es totenstill.

Wir standen starr vor Schreck. Auch mir war das Blut aus dem Gesicht gewichen, ich spürte es bis in die Lippen kribbeln.

»Ich werde runterklettern und nach den beiden schauen. Zieht die Leiter hinter mir wieder nach oben und schließt die Luke. Egal, was passiert, ihr macht sie nicht auf. Habt ihr mich verstanden?«

Meine Stimme zitterte. Die Kinder nickten geflissentlich, ob Usamas oder Rhabas, alle wirkten gleichermaßen entsetzt. Sprosse für Sprosse stieg ich die Leiter vorsichtig hinunter, und ein völlig aufgelöster Laith folgte mir.

»Du musst nicht mit, Laith, wer weiß, wie es da unten aussieht«, versuchte ich, ihn zurückzuhalten.

»Ich folge dir überallhin, Tarik. Ich bin dein Schatten«, flüsterte er zitternd, aber seine Stimme klang seltsam überzeugend.

Über so viel Eigensinn verdrehte ich nur die Augen und kletterte weiter nach unten. Als Laith mit beiden Füßen auf dem Boden stand, ließ ich die Leiter wieder nach oben ziehen und die Luke schließen. Vielleicht hatte ja jemand das Geschrei gehört und käme nachsehen?

Von den Fenstern fiel noch etwas Licht auf den Boden der Halle, und ich konnte die beiden Körper schnell ausmachen, die dort im Dreck lagen. Einer der beiden lag auf dem anderen, und zusammen mit Laith zog ich den oberen Jungen herunter, der die Augen aufschlug und stöhnte. Darunter kam Khalil zum Vorschein, der mit dem Rücken auf dem Boden lag; er rührte sich nicht mehr. Ich schüttelte ihn verzweifelt.

»Khalil, Khalil!«

Meine Stimme klang hohl, mir war klar, dass er tot war. Blut sickerte aus seinen Ohren und der Nase. Die Augen waren offen. Schwarz und leblos starrten sie mich an, als würden sie um Vergebung bitten.

Laith bückte sich zu dem anderen Jungen, der jetzt leise stöhnte. »He, was hast du getan?«, rief er entsetzt. »Warum seid ihr nur hergekommen?« Der große Rhabas-Anführer jammerte nur.

»Warum habt ihr euch nicht ein anderes Opfer gesucht?«, schallte plötzlich eine raue Männerstimme durch den Raum. Laith und ich zuckten zusammen und fuhren erschrocken herum in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dunkel zeichneten sich die Umrisse einer schwarzen Figur gegen das Tor ab, das früher der Eingang zur Halle gewesen war, dem aber jetzt beide Flügel fehlten.

Eine weitere Figur kam mit einer Fackel hinzu, die einen Lichtschein auf die grausame Szene warf, und im tanzenden Licht erkannte ich auch, wer die beiden Männer waren. Sie hatten die roten Westen der Asakire an. Jetzt stieß auch noch der Edelmann dazu, den wir zuletzt betrunken hinter der Taverne bestohlen hatten. Er war plötzlich so nüchtern wie die beiden Schergen, die ihm triumphierend zugrinsten.

»Da haben wir ja endlich mal einen dicken Fisch im Netz. Gleich zwei der Anführer liegen dort, und das ist der, den sie Tarik nennen. Ihre Bestrafung wird einige Zeit für Ruhe sorgen in dieser Stadt.«

Bedrohlich bauten sie sich vor uns auf, um uns festzunehmen. Dabei hielten sie die gekrümmten Langschwerter vor sich, um uns von der Flucht abzuhalten. Laith hatte einen Ausdruck von Todesangst im Gesicht. Wusste er, was jetzt mit uns passieren würde? Hastig ging ich einen Schritt auf die heraneilenden Männer zu und stellte mich vor den zitternden Laith.

»Ich war es, der Euer Geld gestohlen hat, Herr! Niemand sonst war beteiligt. Ich kann es Euch zurückgeben.« Dabei ballte ich die Fäuste und versuchte, meine Stimme fest klingen zu lassen. Dabei war mir mehr als mulmig zumute.

Der Edelmann baute sich vor mir auf und lachte. »Du kleiner Wichtigtuer! Du willst wohl den Verdacht von den anderen ablenken, aber ich weiß, dass hier keiner unschuldig ist. Schon seit vielen Monaten versuchen wir, euch aufzuspüren. Und du …«, knurrte er und stieß mir mit dem Finger in die Brust, »du bist neben den Ratten eine der übelsten Plagen in dieser Stadt.« Den beiden Asakiren befahl er: »Alle abführen, direkt zum Statthalter. Den Toten werft ihr in den Fluss.«

Er lachte abfällig, nahm sich die zwei Münzen, die verstreut neben Khalils Leiche lagen und im Feuerschein glänzten. Es war eine Falle gewesen. Eine verdammte Falle! Und wir waren diesen korrupten Halunken auf den Leim gegangen. Dieser Edelmann hatte sich nur betrunken gestellt und sich von uns berauben lassen. Seine Schergen brauchten uns dann nur noch bis in unser Versteck zu folgen. Warum hatte ich das nicht bemerkt?

Die anderen Kinder! Mein Blick schoss unauffällig nach oben, die Luke war immer noch zu. Bei allen Göttern, wenigstens sie waren sicher. Laith und ich jedoch, wir waren verloren. An diesem Abend wurden die Karten neu gemischt.

* * *

Der Statthalter hatte erst gar nicht die Tür für uns geöffnet, sondern über seinen verschlafen gähnenden Diener ausrichten lassen, dass er wegen drei Straßenkindern seine Nachtruhe nicht unterbrechen werde. Damit überließ er dem Edelmann die Entscheidung über das Strafmaß. Es war, als hätte uns das Glück endgültig verlassen. Unser Schicksal war besiegelt. Die beiden Asakire hatten uns zwischen sich genommen, wir hatten keine Chance zu fliehen. Den Rhabas-Anführer, dessen Bein in einem grotesken Winkel abstand, hatten wir sogar stützen müssen. Sein Gesicht unter den schwarzen Locken war blass und schmerzverzerrt.

»Auf Diebstahl steht das Abhacken einer Hand oberhalb des Handgelenks«, hatte der Edelmann unser Urteil so triumphierend verkündet, als wäre es die beste Nachricht des Tages, und uns den groben Händen der beiden Schergen übergeben. Mit brutaler Gewalt schleppten sie uns auf den Marktplatz, auf dem am nächsten Morgen die Urteile vollstreckt werden sollten. Unter der Bewachung eines seiner Handlanger sollten wir dort die Nacht vor unserer Bestrafung verbringen. Mit einem süffisanten Lächeln hatte er uns noch wissen lassen, dass er für einen kompetenten Scharfrichter mit einem scharfen Beil und selbstverständlich für einen Medicus sorgen werde, der uns versorgen sollte.

Ein furchtbarer Schauer lief durch meinen Körper. Laith stand unter Schock und zitterte unaufhörlich. Ich nahm ihn in den Arm und wollte tapfer sein für ihn. Sein Weinen und das gelegentliche Stöhnen des anderen Jungen, dessen Bein sie notdürftig mit einem Stück Holz geschient hatten, waren das Einzige, was ich in dieser Nacht hörte.

Über uns hatte sich die Nacht wie eine seidige Bettdecke gelegt. Es war still und immer noch warm in der von der Sonne aufgeheizten Stadt. Zwischen den Buden der Marktleute saßen wir im Sand, der zur Mittagszeit glühte wie ein Ofen, aber uns jetzt in der Nacht einen weichen und warmen Schlafplatz bot. Ich war himmelweit von Schlaf entfernt, mein Herz rumpelte in meiner Brust wie ein aufgeschrecktes Huhn, und meine Nase lief von den unterdrückten Tränen.

Wie hatte es so weit kommen können? Khalil war tot. War er ein Bauernopfer geworden? Würden Laith und ich morgen dasselbe Schicksal teilen? Würden wir gebrandmarkt werden für unser Leben, weil jemand um seinen guten Ruf fürchtete?

So viel war sicher, der Rabahs-Junge und ich würden morgen unter den Augen der Schaulustigen die rechte Hand verlieren, Laith seine letzte verbliebene. Was sollte dann aus ihm werden? Wieder ging ein Stich durch meine Brust. Er würde niemals mehr arbeiten können, nur noch betteln, wenn er es denn überlebte. Viele Menschen waren bei dieser Tortur schon verblutet oder durch den Schock gestorben. Etliche Schauergeschichten hatte ich mir anhören müssen, wenn wir Kinder im Dunkeln in der kleinen Dachkammer auf den Schlaf warteten. Laith hat es schon einmal überlebt. Würde er es noch einmal durchstehen? Würde ich es denn durchstehen?

* * *

Auf dem Markt herrschte am Morgen ein geschäftiges Treiben. Dass an diesem Tag Kinder hier ihre Hand verlieren würden, gehörte zur Tagesordnung. Der Scharfrichter war bereits eingetroffen, nur der versprochene Medicus noch nicht. Laith hatte die ganze Nacht geweint und lag jetzt apathisch in meinem Arm.

Ich hatte nicht einen Augenblick geschlafen, mein Kopf schmerzte von meinen Gedanken und der Wut über das, was geschehen war. In aller Seelenruhe baute der Scharfrichter vor unseren Augen seinen Holzblock auf. Er hatte die schwarze Kleidung und die rote Weste der Asakire an. Statt eines Turbans trug er eine Maske, die nur Augen, Mund und Nase freiließ. Egal wer unter dieser Maske steckte, er sollte nicht erkannt werden, denn seine Aufgabe machte ihn nicht sehr beliebt unter den Stadtbewohnern. Jetzt stellte er ein Holzscheit auf den Block, zielte und rammte seine riesige gebogene Rundaxt hinein. Dies wiederholte er noch ein paarmal, und ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn das Schneidblatt auf das Holz traf und es mit einem Knirschen brach. Es war eine Tortur, die dem Scharfrichter sichtlich Spaß machte und uns jeglichen Mut nahm. Der Rand meines Turbans war inzwischen vollgesogen vom Schweiß, der mir in Bächen die Stirn herunterlief.

Der Medicus, der schließlich doch noch eintraf, kümmerte sich zuerst um das gebrochene Bein des Jungen. Das war er sich und seiner Gilde schließlich schuldig. Er war ein kleiner, älterer Mann, der uns keines Blickes würdigte. Sein Haar war von einem bunten Tuch bedeckt, das er mit einem Band um den Kopf herum befestigt hatte und das ihm als Schutz vor der Sonne bis auf die Schultern fiel.

Um nicht zusehen zu müssen, wie er den Knochen richtete, schaute ich in die andere Richtung. Immer wieder knetete ich nervös und wahrscheinlich zum letzten Mal meine Hände. Mein unsteter Blick ging über den Marktplatz, wo sich nun doch etliche Schaulustige zusammengefunden hatten.

Da! Im Schatten der Palmen erhaschte ich einen Blick auf die anderen Straßenkinder. Sie waren alle gekommen! Rhabas, Usamas, Kinder jedes Alters drängten sich ängstlich an die Mauern der Häuser, als fürchteten sie, man würde sie doch noch zusammen mit den armen drei Delinquenten dem Scharfrichter vorführen.

Dieser hatte die frisch gehackten Holzscheite nun auf einer Feuerstelle gestapelt und entfachte mit der Fackel der Wache sein eigenes Feuer. Nachdem er eine große schwarze Zange und einen Haken hineingelegt hatte, stellte er sich aufrecht mit verschränkten Armen neben seinen Holzblock. Die Muskeln seiner Oberarme und die breiten Schultern verrieten, dass er die Kunst des Schwerthiebes schon viele Jahre praktizierte. Sein erwartungsvoller Blick unter der schwarzen Maske fiel erst auf uns drei zitternde Kinder, dann sah er zum Medicus hinüber.

Dieser kam entschlossen zu mir, nahm mir Laith aus den Armen und stellte ihn vor sich. Er ließ es mit hängendem Kopf geschehen. Der Medicus hatte ein faltiges, aber nicht unfreundliches Gesicht mit kleinen Knopfaugen, die alles zu erfassen schienen, was um ihn herum vorging. Sie fixierten Laith, und er redete mit ruhiger, schon greiser Stimme auf den zu Tode verängstigten Jungen ein.

»Kannst du mich hören, Kind?«, fragte er und hob mit einer Hand sein Kinn an. Dabei schüttelte er ihn leicht mit der anderen Hand an der Schulter. »Wie heißt du?«

Laith antwortete nicht. Der Medicus griff sich die kleine linke Hand, fühlte den Puls und runzelte die Stirn. Nach einer Weile sah er den Scharfrichter prüfend an. Der zuckte lediglich mit den Schultern, die Arme vor der Brust verschränkt. Der Edelmann, der mit hektischen Schritten ebenfalls eingetroffen war, trat zu den beiden wartenden Schergen und fragte etwas kurzatmig, als wäre das Ende seiner Geduld erreicht: »Was ist los mit dem Jungen?« Seine Stimme hatte eine Kälte, die keine Gnade erwarten ließ.

»Er ist apathisch, und sein Puls ist sehr niedrig. Ich würde ihm gerne noch ein wenig Zeit geben«, erwiderte der Medicus nachdenklich.

»Nichts da«, entgegnete der Mann mit dem in der Sonne golden glänzenden Khanjar im Gürtel unwirsch, »der stellt sich nur taub, damit er seiner Strafe entgeht!«

Der Medicus seufzte unzufrieden, aber er nickte letztendlich dem Scharfrichter zu, und einer der Asakire packte Laith grob, schleppte ihn zum Holzblock und legte seinen linken Arm darauf. Der Scharfrichter holte mit der massiven Axt aus. Doch auf einmal kam noch einmal Leben in Laith: Er fing an zu zappeln, sein weißes Gesicht verkrampfte sich zu einer schreckverzerrten Grimasse, er rang um Luft, und als das Beil in einem raschen Hieb nach unten sauste, schrie ich mit ihm auf.

Laiths linke Hand fiel vom Holzblock. Er rutschte leblos zur anderen Seite, wo der Asakir ihn achtlos liegen ließ.

»Was ist mit ihm, was ist mit Laith?«, schrie ich und wollte auf den geschundenen Körper zulaufen. Eine grobe Hand hielt mich zurück.

»Lass den Medicus nachsehen«, stoppte mich mein Häscher unwirsch, als ich verzweifelt versuchte, mich loszureißen. Ein harter Schlag ins Gesicht jagte einen heftigen Schmerz durch meinen Schädel und nahm mir die Luft. Aus meinen von Tränen verschwommenen Augen sah ich den Medicus sich über Laith beugen, den Puls nehmen und schließlich den Kopf schütteln.

Mir wurde übel, ich konnte es kaum fassen. Sie hatten ihn getötet. Laith hatte nicht nur seine zweite Hand verloren, sondern auch sein Leben! Panik ergriff mich wie eine eiserne Faust. Irgendetwas passierte mit mir, das mich wie verrückt schreien ließ. Völlig außer mir bot ich all meine Kraft auf, um nicht zu diesem Holzblock zu müssen, der bedrohlich vor mir aufragte. Starke Arme ergriffen mich, trugen meinen zappelnden und schreienden Körper dorthin und drückten mich brutal nach unten. Aus Leibeskräften schrie und fauchte ich, und meine Peiniger schwitzten, um mich überhaupt halten zu können. Der Scharfrichter holte wieder aus. Ich verstummte plötzlich in Todesfurcht, als die riesige Scheide der Axt wie ein bedrohlicher Schatten über mir hing. Dann sauste sie herab.

Ich erwartete ein Krachen, ein Splittern wie zuvor bei Laith, aber es tat nur einen dumpfen, grässlichen Schlag. Mein Kopf wurde von einer Hand weggedreht und wie mit Schraubzwingen festgehalten. Ich sah daher nur die Gesichter der Zuschauer, die sich auf einmal erschrocken die Hände vor den Mund hielten. Dann erreichte mich der Schmerz wie in einer Welle. Er nahm mir den Atem und explodierte schließlich in meinem Kopf. Endlich wurde mir schwarz vor Augen.

* * *

Es war der Medicus, der als Erster reagierte. So alt er auch war, er rannte flink zu dem Jungen mit den ungewöhnlichen Augen und zog ihn vom Holzblock fort. Wie ein nasser Sack hing er ohnmächtig in seinen Armen, und das Blut tränkte sein helles Gewand rot. Der Scharfrichter fluchte: »Leg ihn wieder hin, du Quacksalber, beim nächsten Schlag ist er ab!«

»Halt!«, rief der Medicus, seine brüchige Stimme war laut genug auch für den Noblen, der neugierig dazueilte. »Es ist nicht erlaubt, zweimal auf denselben Delinquenten einzuschlagen! Der Scharfrichter muss von ihm ablassen, die Strafe des Delinquenten ist mit dem ersten Schlag vollzogen, so ist es Gesetz!«

Mit einem Arm hatte er den Jungen umklammert, seine faltige, knotige Hand hielt er schützend vor sich. Der Edelmann blickte ungeduldig auf den Scharfrichter, der kopfschüttelnd mit den Schultern zuckte.

»Ich kann nicht verstehen, dass die Hand nicht ab ist. Mir ist das noch nie passiert, ich habe genau gezielt«, kam es als einsilbige Erklärung von dem Henker.

Die beiden ignorierend legte der Medicus den Jungen auf eine Decke und presste die stark blutende Wunde mit einem Tuch und einem seiner Lederbänder fest, um die Blutung zu stillen. Die Haut des ohnmächtigen Kindes war kalt und ließ die blauen Adern unwirklich unter der Haut durchscheinen. Der kleine Turban, der ihm schief ins Gesicht hing, war verschwitzt, verklebt und von Blutstropfen verfärbt.

Dem Medicus war sofort klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Aber er hatte auch keine Erklärung für das, was er soeben gesehen hatte. Seine Hände zitterten, als er die Wunde versorgte. Normalerweise hatte er seine Empfindungen im Griff, dazu hatte er schon zu oft an Hinrichtungen teilgenommen. Verletzungen von Folteropfern zu versorgen oder den Tod nach der Exekution festzustellen, das war für ihn Routine und traf ihn als Medicus bei Weitem nicht so wie das Schicksal dieses Jungen hier.

Was war nur passiert? Und warum fesselte ihn das eigenartige Gesicht dieses Jungen so? Waren es seine Augen oder die Art, wie stolz er den Kopf hielt? Er musste es herausfinden …

»Den Nächsten!«, presste der Noble zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Es war der Rhabas-Anführer, der jetzt mit seiner am Bein angebundenen Holzschiene angeschleppt wurde. Laut heulte er vor Angst oder Schmerz auf. Der Scharfrichter zielte diesmal genau, er wollte schließlich allen beweisen, dass er sein Handwerk verstand. Das Publikum hielt die Luft an, und mit einem Hieb trennte er die Hand exakt vom Unterarm.

Der gellende Schrei des Jungen wurde vom Beifall der Zuschauer übertönt. Der Medicus, der sich bisher schützend über Tarik gebeugt hatte und den Arm versorgte, ließ das immer noch ohnmächtige Kind zögernd auf dem Boden zurück und eilte zum nächsten blutenden Armstumpf, um ihn zu versorgen. Ungläubige und ärgerliche Blicke richteten sich auf das verkrümmt liegende Kind mit dem Turban, das in Wahrheit ein Mädchen war. Schreie wurden laut, Schreie der Vergeltung, aber auch Bitten um Gnade.

Der Medicus blickte kurz zu dem Edelmann, der mit seinen Schergen lauthals und wutentbrannt diskutierte, was zu tun sei, dann auf das Kind am Boden. Ihm wurde klar, dass er schnell reagieren musste. Dass diese zarte kleine Hand immer noch am Arm des Kindes hing, war ein Wunder! Und er als Heiler wusste solche Zeichen zu lesen. Warum Allah ausgerechnet ihn für die Entscheidung ausgesucht hatte, blieb ihm ein Rätsel. Er war alt und konnte das Kind nicht schützen, aber er musste es wenigstens versuchen. Inshallah – so Gott will …

Der alte Heiler hatte dem dritten Jungen den Armstumpf mit einem glühenden Eisen verschlossen und danach verbunden. Jetzt gab er die Leiche und den überlebenden Jungen in die Obhut des Scharfrichters und sammelte den immer noch ohnmächtigen Tarik mit Mühe vom Boden auf. Die Menschenmenge hatte sich letztlich doch murrend aufgelöst, als keine weiteren Bestrafungen mehr stattfanden. Der Markt war wieder zum Leben erwacht, die Kunden warteten, und Geldverdienen war eben doch wichtiger.

»Halt!«, rief der Edelmann und stellte sich dem alten Mann in den Weg, das Gesicht von Zorn und Enttäuschung gezeichnet. Seine Augen blitzten den Medicus wütend an, Schweiß stand auf seiner Stirn, vom Schreien hatte er Speichel auf seinen Lippen. »Wo wollt ihr mit ihm hin? Ich bin noch nicht fertig mit ihm …«

Der alte Mann blickte auf das Kind in seinem Arm, dann in das wutverzerrte Gesicht. Mit einer Stimme, die zwar alt, aber fest klang, sagte er: »Ich werde den Jungen mitnehmen, schließlich kann ich inzwischen Hilfe gut gebrauchen. Augen, die besser sehen, und Hände, die ruhiger sind als meine. Da der Junge hier ein Sklave ist und bisher noch keiner einen Anspruch auf ihn erhoben hat, tue ich das hiermit.«

»Ein Sklave?« Die Kinnlade des Edelmannes fiel nach unten. Tatsächlich war der verschmutzte Turban des Jungen etwas vom Gesicht gerutscht, und das Zeichen auf seiner Stirn war deutlich sichtbar, das Sklavenkreuz. Wie um seine Forderung zu unterstreichen, fuhr der Medicus mit seinem Daumen über das Mal. Es schien förmlich zu leuchten auf der weißen Haut. Wütend drehte sich der Edelmann mit zu Fäusten geballten Händen um. Seine Augen sandten tödliche Blitze zum Scharfrichter und seinen zwei Schergen, die erschrocken die Blicke senkten. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, stapfte er mit den beiden ratlosen Asakiren im Schlepptau zu seinem Statthalter. Er hatte keine guten Nachrichten.