Kapitel 11

Schottland im Sommer 1305

Der Drachenkopf schien sich wie von Geisterhand auf das offene Meer hinaus zu bewegen. Mein Blick erhaschte zum letzten Mal die vom frühen Morgenlicht erhellten Gesichter der geliebten Menschen in der vordersten Reihe. Ich versuchte, den Anblick meines Vaters für immer in mich aufzunehmen. Sein helles Haar tanzte im Wind, sein Gesicht mit den freundlichen Augen glänzte. Nie werde ich dich vergessen, Papa!

»Papa!«, schrie ich verzweifelt. Die Decke, die mich in meinen Träumen geradezu erdrückte, strampelte ich in verzweifelten Bewegungen von mir. In hohem Bogen landete sie auf dem steinernen Fußboden vor meinem Bett. Ich war hellwach, mein Körper zitterte nassgeschwitzt nach der nächtlichen Traumattacke. Benommen richtete ich mich auf, schwang die Füße über den Bettrand und versuchte, meine Atmung wieder in den Griff zu bekommen.

Es war nicht der erste Traum dieser Art. Immer und immer wieder holten mich die Bilder von damals ein und rissen mich aus dem Schlaf. Nur diesmal hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass etwas an meinem Traum falsch war. Die Traurigkeit meiner Mutter auf dem Schiff, die Endlichkeit des Abschieds. War es schon immer ein Weg ohne Wiederkehr gewesen? Hatte meine Familie gewusst, welches Ziel das Schiff hatte?

Viele der Bilder in meinem Kopf waren nur noch verschwommen durch den Filter der Zeit. Mit den kommenden Jahren durchdrang die Gewissheit mein Bewusstsein, dass all die Mädchen vor mir damals geopfert worden waren. Die Worte meiner Mutter waren noch ganz deutlich in meiner Erinnerung: »… wenn du uns eines Tages im Jenseits wiedersiehst, wirst du den Göttern gleich sein. Du allein hast mit deiner Bestimmung die Macht dazu.«

Sie hatte sich damit abgefunden, mich als Auserwählte in den Tod zu schicken. Der Vulkan Hekla, so hatten es unsere Großväter oft erzählt, hatte schon vielen Menschen das Leben gekostet, und so sollte jedes Dorf einmal im Jahr ein Mädchen bestimmen, das den Göttern zur Ehre gereicht werden sollte. Erst jetzt begann ich zu verstehen, welcher Bestimmung ich hatte übergeben werden sollen. Wäre das Schiff nicht gesunken, dann würde ich vermutlich nicht mehr leben.

Hellwach und aufgewühlt strich ich mir die Haare aus dem Gesicht. Sie waren denen meiner Mutter so ähnlich: weißblond, seidig und glatt. Allerdings hatte sie ihre Haare offen, manchmal auch geflochten getragen, aber nie so streng nach hinten gekämmt, wie ich es tat; es war der schönste Schmuck, den sie besaß, neben einer Silberbrosche mit dem Clanzeichen.

Mit neuer Energie richtete ich mich auf und rief nach meiner Zimmermagd, die vor meiner Tür auf einer Holzmatte schlief. Es dauerte keine drei Sekunden, und sie klopfte höflich an die Tür.

Vika war eine Waise, die als Kind eine Feuersbrunst in ihrem Dorf überlebt hatte. Ihre Augen und die langen, welligen Haare waren dunkel, aber die Haut hatte einen milchigen Teint, der ihre rosigen Wangen beinahe leuchten ließ. Sie hätte als Schönheit gegolten, wäre nicht die verwachsene Narbe auf der rechten Seite ihres Gesichts gewesen, die von der Nase bis zum Ohr verlief und die Haut mit dicken Verwachsungen übersäte. Dies führte zu einer etwas verzerrten Gesichtsmuskulatur und beeinträchtigte ihr schönes Lächeln. Jetzt stand sie in der Tür, machte einen Knicks und hielt mir einen Eimer mit dampfendem Wasser entgegen.

Anscheinend ohne große Anstrengung lief sie barfuß mit ihrer schweren Last zu dem einfachen Wasserbassin aus Holz neben meinem Bett und schüttete das heiße Wasser hinein. Währenddessen zog ich mir mein Hemd aus, das noch feucht war vom Schweiß des Alptraums. Mit geübten Handgriffen half sie mir, mich zu waschen und meine Haare zu kämmen, während ich mir die Zähne mit Salbeisud spülte und mit einem Seidenfaden die Zwischenräume säuberte.

Mit einem Blick aus dem Fenster, das die ganze Nacht offen gestanden hatte, konnte ich sehen, dass die Sonne noch nicht aufgegangen war. Die Burg befand sich in einem tiefen Schlaf bis auf die Wache, die in regelmäßigen Abständen die Gänge aller Burgmauern kontrollierte. Noch lagen die Hügel und Täler, die sich rund um die Burg sanft wie Wellen im Wasser erhoben, in einem nebligen Grau. Vögel und Insekten stimmten zögerlich ihr tägliches Konzert aus Singen und Zirpen an.

Vika holte meine schwarze Wickelhose, die sich in der Taille schnüren ließ, und mein langärmeliges schwarzes Hemd, das vorn geschnürt wurde. Schließlich schob ich meine Arme durch die Lederweste, die mir Vika bereithielt. Es wurde mit silbernen Haken vorn geschlossen. Sämtliche Waffen, vom Schwert bis zu den Wurfmessern, fanden griffbereit an den Schlaufen und in den Taschen Platz.

Die Schwertscheide auf dem Rücken hatte genau den Winkel, der notwendig war, um die Waffe mit der rechten Hand blind über dem Kopf herauszuziehen. Links und rechts des Brustkorbes befanden sich schräg untereinander angeordnet die Wurf- und Filetiermesser sowie die Kastrationssichel, eine sehr nützliche Waffe. Die auf mich zugeschneiderte Weste war unverzichtbar, sobald man einem Feind gegenüberstand, und saß wie eine zweite Haut.

Am Gürtel, den ich über der Lederweste trug, hing noch die Scheide mit einem Highlander-Dolch. Dies war ein handliches Kurzschwert mit einem stabilen, spitz zulaufenden Messerblatt. Weiterhin befanden sich an diesem Gürtel noch diverse Schlaufen für Äxte und Pfeilköcher, aber diese hing ich nur bei Bedarf ein, da sie mich ansonsten in meiner Bewegungsfreiheit behindert hätten.

Am Schluss schlüpfte ich in die festen Lederstiefel und zog die oberste Schnalle zu. Mit einem Nicken entließ ich Vika, die wie der Wirbelwind aus dem Zimmer schoss, um in der Küche meinen Mokka zuzubereiten und dem Stallburschen mein baldiges Erscheinen anzukündigen.

In aller Ruhe fasste ich mein glattes Haar mit einem Lederband am Hinterkopf zusammen. Dann zwirbelte ich den Haarschopf und band ein weiteres Lederband um den Knoten. Ich nahm die silberne Scheide mit dem kleinen Dolch, den mir Jasemin einst geschenkt hatte, und steckte ihn zwischen Haaransatz und Knoten. Ich überlegte oft, ob ich mir die Haare nicht einfach abschneiden sollte, so wie früher, als ich mich noch als Junge getarnt hatte. Aber es war eines meiner wenigen femininen Merkmale.

Über meinen Anflug von Eitelkeit lächelnd, begab ich mich in die große Halle, um meinen Mokka mit zwei datiln zu genießen. Der Duft schlug mir bereits auf der Treppe süßlich warm entgegen, und Vika hatte die kleine Tasse schon an meinen Platz in der großen Halle gestellt. Schnell hatte ich mich an den festen Tagesablauf gewöhnt.

Am Tisch begrüßte ich meine beiden Kriegerinnen Kalay und Winnie bei einer Schüssel Haferbrei, da sie wie ich schon früh mit ihren Kampfübungen begannen. Die beiden waren so unterschiedlich in ihrem Aussehen wie auch in ihrem Wesen und sorgten mit ihren gegenseitigen Neckereien für stete Heiterkeit – die eine blond, groß und schlank, die andere schwarzhaarig, klein und kräftig. Sie hätten es nie zugegeben, aber eigentlich waren sie unzertrennlich.

Kurze Zeit und eine Schüssel Haferbrei später erhob ich mich, um mein Pferd in Empfang zu nehmen. Der kleine Stallbursche stand bereits mit meinem gestriegelten und gesattelten Hengst vor dem Tor, um mir den Weg in die Ställe zu ersparen. Taycan schnaubte. Gewohnheitsmäßig sah ich mich kurz um. Neben den Knechten und Mägden war ich nicht als Einzige schon so früh auf den Beinen.

Hal saß bereits auf seinem mächtigen Schimmel, ein Bein quer vor sich, als hätte er es sich auf einem von Saladins Sitzkissen bequem gemacht. Gelangweilt kaute er auf einem Stück Dörrfleisch herum, das er sich wohl aus der Küche geholt hatte. Für jeden anderen mochte er furchterregend aussehen mit den beiden Äxten im Gürtel, aber mir war sein Anblick schon lange vertraut. Vermutlich wagte es keines der Küchenmädchen, seine Wünsche abzuschlagen, und mindestens drei von ihnen hatten dabei unlautere Gedanken. Mir war es schleierhaft, was die Mägde dazu bewegte, seine Männlichkeit zu bewundern, ich sah immer noch den Jungen in ihm, der er einst gewesen war, wenn auch mit ein paar Muskeln mehr. Unauffällig blinzelte ich zu Hal hinüber, der mich erst jetzt bemerkte und seinen Fuß wieder in den Steigbügel schob.

»Ziemlich spät dran heute, leannan!«, brummte er heiser. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Er nannte mich häufig »Schätzchen« auf Gälisch, weil er wusste, dass er mich damit ärgern konnte.

Mit einer fließenden Bewegung schwang ich mich in den Sattel und gab Taycan mit dem Schnalzen meiner Zunge das Zeichen zum Aufbruch. Auf dem Weg zum großen Burgtor passierte ich den kräftigen Schimmel meines Kampfgefährten, der sich mir anschloss. Ich maß ihn von oben bis zum Steigbügel, lehnte mich ein wenig zu ihm hinüber und raunte vieldeutig: »Das Schätzchen hat heute von dir geträumt, Hal! Glaub mir, ich wäre auch lieber früher aufgewacht.« Dabei warf ich ihm einen spöttischen Blick zu und verdrehte theatralisch die Augen. »Jede Minute war eine Qual …«

Hals Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Er schüttelte den Kopf und tat so, als würde er tatsächlich lachen. »Wenn ich es schon in deine Träume schaffe, dann bin ich ein beschenkter Mann. Aber ich bezweifle, dass es mir gelungen ist, dort besonderen Eindruck zu hinterlassen. In meinen Träumen jedenfalls bist du immer unerreichbar.«

Ich grinste. »Nicht nur in deinen Träumen, Hal, das kannst du mir glauben!« Ich gab ihm einen liebevollen Knuff mit meiner Faust.

Lachend und feixend ritten wir schließlich aus dem geöffneten Tor hinaus auf das aus Holz gezimmerte Plateau, das sich weit in den See hineinlehnte und die Rampe zum Fährboot bildete, das dort angeleint war. Die beiden Pferde nahmen, ohne zu zögern, den Weg ins Boot, das wie eine kleines Brückenteil mit einem flachen Rumpf gebaut war.

An einem Seil, das gegenläufig über eine Rolle lief, zog ein Esel in einem Holzrad die Fähre zum anderen Ufer, an dem ein ähnliches Plateau aus gemauerten Steinen errichtet war.

Burg Caerlaverock war mitten in einem See errichtet worden. Vermutlich hatte dort zuvor einmal ein Kloster gestanden. Heute erhoben sich die drei Burgtürme, die von mächtigen Mauern umgeben waren, wie drohende Finger aus dem Wasser. Die dreieckige Anlage der Burg war für mich etwas völlig Neues gewesen. Sie galt als uneinnehmbar, wie mir der Clan der Maxwells glaubhaft versicherte.

Beim letzten Angriff des englischen Königs war sie jedoch so stark beschädigt worden, dass die Maxwells kurzerhand ein paar Meilen weiter einen neuen Clansitz errichtet hatten. Kurz vor dem Winter und ohne ein Heer von Arbeitern war dem Chief keine andere Wahl geblieben. Die neue Festung des Clans lag nur wenige Meilen entfernt und sollte der Hauptsitz für die nächsten Jahre sein.

Jetzt war ich Burgherrin von Caerlaverock, und ich hatte sie mithilfe des Maxwell-Clans wiederaufgebaut. Wir arbeiteten noch immer daran, sie um einen weiteren Burgfried für die wertvollen Pferde zu erweitern. Die Idee, die Brücke zum großen Tor durch eine Fähre zu ersetzen, hatte uns nicht nur den Aufwand des Wiederaufbaus erspart. Ein entscheidender Vorteil war zudem, dass wir im Falle eines Angriffs nicht erreichbar wären, wenn wir den Rumpf zuvor zerstörten.

In wenigen Minuten hatten wir das Ufer des Sees erreicht. Mühelos trotteten die Pferde aus dem Boot auf das Festland, und wir machten uns auf den Weg zum Corbellay, dem höchsten Hügel der Umgebung.

Der Nebel lag noch tief über den nassen Wiesen, die Hufe der Pferde machten bei jedem Schritt ein saugendes Geräusch. Ein paar Kröten versprachen sich lautstark das Blaue vom Himmel, der um diese Zeit noch eher ein aschiges Grau mit ein paar hellen Streifen war. Sie gaben schon einen Vorgeschmack auf das Licht der aufgehenden Sonne, die in der Sommerzeit schnell ihre Wärme über das Land ausbreitete.

Meist legten wir das Stück bis zum Gipfel schweigend zurück, aber heute schien Cathal, wie Hals irischer Name war, etwas auf dem Herzen zu liegen. Er ritt auf seinem gutmütigen Schimmel neben mir, rutschte ein paarmal im Sattel hin und her, als würde er nicht den richtigen Platz finden, und hielt den Blick stur geradeaus gerichtet.

»Erinnerst du dich noch an den Clan Douglas, von dem ich dich nach deinem … mmh … Unfall abgeholt habe?«, fragte er schließlich.

»Natürlich«, entgegnete ich überrascht. »Ich habe ja lang genug deren Gastfreundschaft genossen.« Die Erinnerungen an diesen Aufenthalt konzentrierten sich unweigerlich auf eine Person, die mir seit einiger Zeit nicht mehr aus dem Kopf ging.

Einige Atemzüge später sprach er zögernd weiter: »Der Clan wurde von König Edward angegriffen, der alte Chief William Douglas festgenommen und nach London gebracht, wo ihn ein Prozess wegen Hochverrats erwartet.«

Ich hoffte, dass Hal meinem Gesicht nicht ansah, wie mir diese Nachricht unter die Haut ging. Unwillkürlich musste ich an den eigensinnigen alten Douglas denken, der so stolz auf seinen Widerstand gegen König Edward war, und an den kleinen Matthew …

»Was ist aus seiner Familie geworden?«, fragte ich so beiläufig wie möglich. James kam mir wieder in den Sinn, das edle Gesicht, der Mann mit den feinen Umgangsformen und den warmen Augen.

»Seine Frau wurde noch vor Ort erschlagen, wie auch viele seiner Gefolgsleute«, erzählte Hal sachlich, aber ich empfand die grausame Nachricht wie einen Schlag in die Magengrube. »Seine Söhne haben den Angriff überlebt, vermutlich wurden sie mit ihrem Vater ins Verlies des London Tower geworfen. Ihnen wird ebenfalls der Prozess gemacht, wenn man den Verrat nachweisen kann.«

Hals Quellen waren immer sicher. Er würde nie etwas ausplaudern, was nicht der Wahrheit entsprach. Der Schock saß tief, tiefer, als ich mir eingestehen wollte. William Douglas war sicher kein einfacher Mensch, aber etwas an ihm hatte mein Herz erobert, vielleicht sein unerschütterlicher Glaube an ein geeintes Schottland. James wiederum war der einzige Mann neben Hal, der mich so beeindruckt hatte, dass er sich immer wieder in meine Gedanken schlich.

Mein Herz klopfte seltsam unruhig. Meine Worte beim Abschied kamen mir in den Sinn; ich hatte ihm versprochen, dass ich ihm helfen würde, sollte er einmal in Not geraten.

»Warum erzählst du mir das, Hal?« Stur blickte ich geradeaus. Mein Hengst schien meine Anspannung zu spüren, denn er hatte seinen Hals gereckt und die Ohren gespitzt, als erwartete er das Schlimmste.

»Nun«, dehnte er seine Antwort und wagte einen Seitenblick, »mir war, als läge dir etwas an dem Douglas-Clan oder genauer gesagt, an James Douglas …«

Diese verdammte Schweinebacke! Seit damals zog er mich ständig mit dem gutaussehenden Sohn des Clan Chiefs auf. Immer wieder stocherte er in dieser Wunde, obwohl ich nur eine einzige Bemerkung in seiner Gegenwart hatte fallenlassen.

Taycan blieb auf mein Signal hin sofort stehen, Hals Pferd ebenfalls, und wir taxierten uns über die Pferderücken hinweg.

»Cathal Conchobhar Ó Searcaigh«, sprach ich ihn betont freundlich mit seinem kompletten irischen Namen an, damit er wusste, dass ich wütend war. Seine Augenbrauen, die unter einer dicken Schicht schwarzer Tinte verborgen waren, schossen in die Höhe. Er hasste seinen vollen irischen Namen.

»James ist der einzige Mann, über den ich jemals mit dir gesprochen habe«, fuhr ich streng fort, »aber das gibt dir nicht das Recht, sofort mehr darin zu sehen.« Ich atmete tief durch. Mein Ärger konnte meine Trauer nicht überdecken. Ich wollte diese lästige Diskussion ein für alle Mal beenden. »Ich will davon nichts mehr hören, verstanden?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte ich meinem Pferd entschlossen die Fersen in die Flanken, woraufhin es sich gehorsam in Bewegung setzte. Ein paar quälende Minuten lang waren meine Gedanken bei James und seiner Familie, bei Eleonore, die ihren älteren Ehemann so positiv verändert hatte.

Mein Gott, der kleine Matthew, was mochte aus ihm geworden sein? Das Gesicht von Callie, dem pfiffigen Dienstmädchen, tauchte vor meinem inneren Auge auf …

Als Hal aufgeschlossen hatte, platzte es aus mir heraus: »Ich muss etwas unternehmen, Hal. Du weißt genau, dass ich nicht so tun kann, als wüsste ich von nichts. Ich werde nach London reiten, vielleicht kann ich ihm helfen.«

Ich ahnte, dass er grinste, und blickte mich nicht nach ihm um, denn sonst wäre meine Faust sofort mitten in seinem Gesicht gelandet.

Später ließ ich meine Wut und meinen Frust doch noch an ihm aus. In unserer täglichen Morgenübung auf dem abgeflachten Gipfel Corbellay hatte Hal diesmal das Nachsehen. Er nahm meine Hiebe mit stoischem Gleichmut entgegen, und bis er schließlich die Waffen streckte, hatte ich schwitzend und schnaufend meine größte Wut abreagiert.

Erschöpft und schwer atmend sank ich auf die Knie und fühlte, wie die hitzigen Wogen meiner Gefühle einem klaren Verstand wichen. Was blieb, waren schmerzende Muskeln und der Entschluss, James und seiner Familie zu helfen.

Hal trat an mich heran und bot mir seine schwielige Hand, um mich hochzuziehen. Mein Blick fiel auf sein mild lächelndes verschwitztes Gesicht, das mit seiner martialischen Bemalung so furchterregend wirkte. Aber darunter verbarg sich ein Mensch mit einem großen Herzen. Seltsam gerührt umfasste ich seine Hand, die wie ein Schraubstock die meine ergriff und mich hochzog.

»Der Zeitpunkt war gut gewählt«, brach es aus mir hervor, als ich schwer atmend wieder stand. Sein Kopf neigte sich fragend. Nachdenklich ließ ich seine Hand los und drehte mich von ihm weg, um wieder auf mein Pferd zu steigen. »Wut ist kein guter Berater. Die Kampfübung hat meine Energie in die richtige Bahn gelenkt. Mein Kopf ist nun frei für das, was ich tun muss.«

* * *

Hal wusste im selben Moment, als er Enja von den Neuigkeiten erzählte, dass sie nach London aufbrechen würde. Er hatte die Neuigkeiten von einem Kaufmann in Dumfries erfahren, mit dem er seit vielen Jahren einen regen Handel trieb. Die Nachricht hatte sich in Windeseile in der Gegend verbreitet, denn der Landsitz der Douglas war einer der größten dieser Gegend und die Familie seit Jahrzehnten eine mächtige Herrscherdynastie im Südwesten Schottlands. Der englische Besatzer, Lord Cardiff, war den Schotten ein Dorn im Auge, denn anders als sein schottischer Vorgänger hatte er nicht das Wohlergehen der Menschen im Sinn. Im Gegenteil, er hatte vor, das Land als Bestrafung des schottischen Widerstands ausbluten zu lassen.

Die Aufstände der Schotten nahmen aufgrund der brutalen Besatzung dramatische Ausmaße an. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Caerlaverock und der Maxwell-Clan zur Rechenschaft gezogen werden würden. Die längst überfällige Frage nach dem Eigentumsübergang der Burg an die rechtmäßige Besitzerin – Prinzessin Enja I‑Shabbah ibn Hassan I‑Shabbah – sollte am Londoner Court geklärt werden. Dies war zumindest der Vorwand, weswegen Enja nun zum Aufbruch drängte. Bisher waren ihre Ansprüche weder von den schottischen Lairds noch vom englischen König ernst genommen worden. Eigentlich war sie nur geduldet in diesem Land, das sie vom Maxwell-Clan erhalten hatte.

Natürlich war Hal klar wie das Wasser in den Highlands, dass sich Enja um das Wohlergehen ihres Lebensretters James Douglas und seiner Familie Sorgen machte. Mit mehr Kraft als beabsichtigt zurrte er den Sattelgurt seines Schimmels nach, der einen Schritt zur Seite machen musste, um den kräftigen Ruck an seinem Sattel auszugleichen. Nein, er war nicht eifersüchtig auf diesen Schnösel, er mochte nur nicht den Blick in Enjas Augen, wenn sie von ihm sprach. Dabei war er der festen Überzeugung gewesen, dass sie immun gegen die Avancen von Männern wäre. Hatte es dieser Lackaffe James Douglas etwa geschafft, ihre Abwehr zu durchbrechen? Hatte sie ihm, Hal, all die Jahre etwas vorgemacht? Unauffällig blickte er zu ihr hinüber, als sie ihrem Gefolge die letzten Anweisungen gab. Sie hingen ihr an den schönen Lippen wie die Kaulquappen am Wassergras, dachte Hal verärgert und ließ das Sattelblatt mit einem Klatschen zurückfallen. Warum sollte es denen anders gehen als ihm?

Alle waren gekommen, um sich von ihrer Herrin und ihrem Clanoberhaupt zu verabschieden. Die Krieger und Kriegerinnen, die Enja ausgebildet hatte, genauso wie die Heiler, die Lehrer und das Fußvolk. Eine bunte Schar dankbarer Frauen, Männer und Kinder, um die sich Enja in den letzten Jahren aufopferungsvoll bemüht hatte und für die sie kämpfen würde bis zum letzten Atemzug. Die Ehrfurcht stand den Menschen ins Gesicht geschrieben, aber auch die Angst, dass es für ihre Anführerin eine Reise ohne Wiederkehr sein würde.

Nicht nur, dass der Weg nach London ohnehin gefahrvoll war. Dazu kam auch die gnadenlose Einstellung des englischen Königs gegenüber Schottland und die schwierige rechtliche Stellung von Frauen. Hal bezweifelte, dass es Enja jemals gelingen würde, als unverheiratete Frau Eigentum zu beanspruchen, ob geschenkt oder nicht. Hierzulande regierten die Männer.

Ein ungutes Gefühl begleitete Hal schon den ganzen Morgen, ohne dass er wusste, warum. Sie kannten das Land zur Genüge, wussten, welchen Weg sie zu nehmen hatten, und waren gut ausgerüstet für die gefährliche Reise. Aber Enja von der Gefährlichkeit ihrer Mission zu überzeugen, war genauso fruchtlos, wie den Schotten zu erklären, dass Uisge beatha ungesund war. Dieses störrische Weib wollte davon nichts wissen, sie bestand auf den Einzug in den königlichen Hof, um ihre Petition vorzulegen. Und so ganz nebenbei würde sie für die Familie Douglas sprechen – was für ein Wahnsinn!

Zärtlich kraulte er seinem Schimmel den Nacken, der wohl spürte, dass sein Herr angespannt war, und ihn jetzt mit seinen dunklen Nüstern anstupste, als könnte er damit seine grüblerischen Gedanken vertreiben. Hal schüttelte den Kopf. Eher würde das Feuer in der Hölle verlöschen, als dass er diese Verrückte zur Vernunft bringen könnte! Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie auf ihrem Weg in die Höhle des Löwen zu begleiten. Natürlich würde er für sie kämpfen, wenn es sein musste, bis zum Ende. Hal hatte diese Frau in sein Herz geschlossen, auch wenn sie ihn als Mann nach ihren eigenen Worten »so nötig hatte wie eine Warze am Hintern«.

Doch genau das reizte ihn so an ihr. Warum musste er sich auch an diese Frau binden, die ihn nicht erhören wollte? Immerhin war er an ihrer Seite, näher als jeder andere Mann. Dies genügte ihm, solange kein anderer diesen Platz beanspruchte.

* * *

Für uns war es die erste Reise nach London, und die Jahreszeit eignete sich für einen solch weiten Ausflug. Mitte August wurde der Regen immer wieder von angenehm warmen Stunden unterbrochen, in denen die Sonne die aufgeweichten Kleider, das Leder, Haut und Haare trocknete.

Im Gegensatz zu Hal liebte ich das schottische Wetter. Mir machte weder der Regen noch die Nässe etwas aus, im Gegenteil. Mich vertrieb eher die Sonne als der Regen. Wenn Hal sich mit nacktem Oberkörper in der Sonne aalte, zog ich mich in den Schatten zurück und döste unter meinem Plaid, einem langen, gewebten Schal, der von den Männern über die Schultern geworfen oder am Sattel befestigt wurde. Er schützte vor Regen und Kälte genauso wie vor der Sonne. Die Frauen in unserem Clan hatten für mich ein unauffälliges Muster entworfen, das nur aus grauen und schwarzen Farben bestand. Ich trug es voller Stolz wie alle Schotten hierzulande über meiner Schulter. Es hatte nicht lange gedauert, bis die grau-schwarz gestreiften Karos meines Plaids auch auf der Kleidung meiner Leute auftauchten. Sichtbar für alle trugen sie das Zeichen, das ihre Zugehörigkeit zu einem ganz besonderen Clan bewies. Einem Clan, der aus einer wilden Mischung von Menschen aus aller Herren Länder bestand – meinem Clan.

Dies nun vom amtierenden englischen König Edward bekräftigen und anerkennen zu lassen, einem König, der sämtliche Schotten hasste, würde eine schwierige Aufgabe sein. Schottland hatte immer noch keinen offiziellen König. Nachdem der letzte Herrscher Alexander III. ohne einen Erben gestorben war, blieb Schottland zunächst ohne einen Monarchen. Sechzehn Nachfolger buhlten zu dieser Zeit um den schottischen Thron. Sir William Wallace, der aus dem Exil in Frankreich zurückgekehrt war, kämpfte verzweifelt gegen die Annexion Schottlands durch den verhassten Edward.

Wallace nannte sich offiziell Guardian of Scotland, denn ein Recht auf den Thron hatte er aufgrund seiner Abstammung nicht. Trotzdem oder gerade deshalb stand der schottische Adel nicht geschlossen hinter ihm. Zerrissen von den Kriegen gegen England und dem feudalen Machtgefüge, das dem Adel in einem Krieg die Länderansprüche versagte, konnte noch immer kein König eingesetzt werden. Dazu kam, dass nach der Schlacht von Dunbar 1296 immer noch große Teile des schottischen Hochadels in englischen Gefängnissen festsaßen. Der tief verwurzelte Hass zwischen den beiden Ländern war in jedem Winkel zu spüren. Edward versuchte verzweifelt, jede Rebellion im Keim zu ersticken, und wollte an William Wallace, dem Helden des schottischen Widerstands, ein Exempel statuieren. Die letzte Nachricht, die mich von meinen befreundeten Clans erreicht hatte, war die erfolgreiche Gefangennahme des charismatischen Kämpfers gewesen. Es war ein Schlag ins Gesicht der stolzen Schotten gewesen. Würde Schottland nach William Wallace’ Tod – wovon ich ausging – ein für alle Mal gedemütigt und zerschlagen werden?

Was blieb mir also anderes übrig, denn als Laird eines Clans mitten im Grenzgebiet den Weg des geringsten Widerstands zu gehen? Es war an der Zeit, mich am englischen Hof bekannt zu machen. Ich war schließlich eine Frau mit einem Titel, der im Orient viel beachtet wurde, aber hierzulande kaum einen Pfifferling wert war. Trotzdem würde ich meinen rechtmäßigen Anspruch auf Caerlaverock und seine Ländereien einfordern. Es war mir vom Clan Maxwell, genauer gesagt vom Clanführer Roderick Maxwell, als Dank für die Rettung seines Sohnes übergeben worden.

Hal streckte seinen mächtigen Oberkörper und drehte sich dann mit aufgestütztem Ellenbogen auf die Seite. Die schwarzen Bemalungen zogen sich über seine Haut. Ich erinnerte mich daran, wie er als junger Mann vor mir gestanden hatte, ungelenk und unbeholfen – ein Anblick, der einen nur erweichen konnte.

Niemand hätte auch nur eine Unze darauf gesetzt, dass solch ein starker Krieger aus ihm werden würde. Er hatte einen beachtlichen Ehrgeiz und verachtete den Tod wie kein anderer. Sein Blick aus den smaragdgrünen Augen traf den meinen. Er taxierte mich unter dem Schutz des Plaids und gönnte mir ein Lächeln. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ich einen besonderen Platz in seinem großen Herzen hatte.

»Soll ich uns einen Fisch fangen? Jetzt müssten gerade die Karpfen laichen«, schlug Hal mit seiner heiseren Stimme vor und richtete sich auf. »Ein Bad wäre auch nicht schlecht«, fügte er hinzu.

»Schätze, ich sollte erst den Fisch fangen, bevor ich alles Lebendige im Wasser mit meinem Gestank vertreibe!«

Das brachte mich zum Lachen. Ich sprang auf, um ebenfalls das kühle Nass zu genießen, und zog mir das Lederwams aus, das meine Waffen hielt.

»Dreh dich um!«, forderte ich ihn auf, aber er verschränkte nur die Arme auf der Brust und grinste.

»Ich denke im Traum nicht dran«, erwiderte er mit seinem todernsten Schalk, der ihm wirklich gut stand.

»Sollte ich jemals deiner Mutter begegnen, werde ich ihr deine schlechte Kinderstube vorhalten …« Lächelnd wandte ich mich von ihm ab. Nach der Weste zog ich mein Hemd und meine Hose aus und ging die paar Schritte bis zum See, der einladend in der Sonne glitzerte. Sobald das Wasser um meine Beine spülte, ging ein Schauer der Erleichterung durch mich. Schweiß, Müdigkeit und die ständigen Augenschmerzen, die ich bei intensiver Sonneneinstrahlung spürte, waren auf einmal wie weggezaubert. Hinter mir hörte ich ein Klatschen im Wasser, Hal prustete und schnaufte.

Flink tauchte ich ab und glitt durch die dunklen Wasser des Moorsees. Wir waren im nördlichen Marschland des Londoner Vorlandes, das zu den walisischen Ländereien gehörte, und die Gewässer hier waren trüb und dunkel. Trotzdem weckte es meine Lebensgeister in dieser unerträglichen Sommerhitze. Mein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche, um Luft zu schnappen.

Hal war nur bis zur Hüfte ins Wasser gewatet und spritzte sich Wasser über seinen mächtigen Oberkörper. Er schwamm nicht gerne. Wasser war für ihn gerade gut genug, um es zu trinken. Die Muskeln unter seinen keltischen Hautbildern spielten, und Wassertropfen perlten von seinem mit Gänsehaut überzogenen Oberkörper. Unverhohlen musterte ich ihn. Der verstümmelte Beweis seiner Männlichkeit baumelte verloren zwischen seinen Oberschenkeln.

Gerade wollte ich wieder abtauchen, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung neben unseren Pferden wahrnahm. Ich verharrte mit den Augen knapp über der Wasserfläche. Zwei Männer, die in weniger als Lumpen gekleidet waren, versuchten, unsere beiden Pferde zu stehlen. Sie zogen und zerrten an den Halftern.

Die Pferde schüttelten nur unwillig den Kopf und grasten in aller Seelenruhe weiter. Als die Männer merkten, dass sie nicht weiterkamen, schlichen sie sich zu unseren Sachen, um sie zu durchwühlen. Dabei stießen sie auf meine abgelegte Lederweste mit den Waffen.

Weil Hal immer noch einen Riesenlärm im Wasser machte, wurden sie mutiger und zogen mein Schwert aus der Scheide. Blitzschnell tauchte ich ab und schwamm an Hal vorbei zum Ufer, sprang nackt auf den felsigen Rand und war in wenigen Schritten bei den beiden Dieben, die mich starr vor Schreck anblickten. Einer hielt meine Weste, der andere das Schwert, das er nun wie zur Abwehr vor sich hielt. Was für ein Idiot!

Heiß kochte die Wut in mir hoch. Was fiel denen ein? In wenigen Sekunden übersah ich die Situation. Hals Kleiderhaufen lag näher am Uferrand als meiner, und die beiden Äxte lagen noch neben seinem Gürtel. Aber auch diese Waffen waren zu weit weg. Kurz entschlossen nahm ich einen handlichen Stein, die zahlreich das Ufer säumten, und warf ihn in das verdutzte Gesicht des Diebes, der mir am nächsten stand. Sein Kopf wurde von der Wucht des Aufpralls zurückgeschleudert, und er ließ vor Schreck seine Beute fallen. Es folgte noch ein Stein und noch einer. Immer wieder prasselten die präzise geworfenen Wurfgeschosse auf die Körper der armen Straßendiebe nieder. Sie nahmen völlig verschreckt Reißaus, als hätten sie erst jetzt bemerkt, mit wem sie sich da angelegt hatten.

Hinter mir kam Hal aus dem Wasser gestürmt. Mit Inbrunst ließ er einen Kampfschrei aus, der die beiden noch auf ihren überhasteten Rückzug begleitete und mich wütend zu ihm umdrehen ließ. »Schrei nicht so, ich bin nicht taub!«, brüllte ich zurück und ließ ihn damit erst einmal mitten im Lauf stoppen.

»Außerdem sind die schon weg, du musst nicht so tun, als hättest du die Lage im Griff!«, ätzte ich mit geballten Fäusten. Als ich den perplexen Hal so vor mir stehen sah mit nichts am Körper außer seiner bunt bemalten Haut, musste ich plötzlich lachen. Er sah mich an, als wäre ich verrückt geworden. Sein Blick verfinsterte sich zusehends.

»Die beiden hätten uns ausrauben können«, murmelte er. »Ohne Waffen wären wir nicht weit gekommen.« Sein Blick glitt an mir hinunter. »Schon gar nicht ohne Kleider.«

Ein gefährliches Flackern huschte über seine grünen Augen, die tiefstehende Sonne ließ sie leuchten wie sattes grünes Moos. Ich musste eingestehen, dass ich in manchen Momenten gehörigen Respekt vor ihm hatte. Er war eben ein Assassine wie ich auch, und ein verdammt guter noch dazu. Er schien meinen prüfenden Blick zu bemerken und blickte schnell an mir vorbei, wie um seine Emotionen zu verbergen.

»Los«, forderte ich ihn frustriert auf, »wir müssen weiter, die schlimmste Hitze ist vorüber.«

Damit packte ich meine Kleidung und zog mich an. Hal tat stumm das Gleiche und folgte mir zurück auf den Weg, der zwar durch eine gefährliche Gegend führte, aber die kürzeste Strecke nach London war. Welch ein Glück für uns, dass diese Reise bisher ohne größere Probleme verlaufen war. Selbst die Pferde hielten das konstant hohe Tempo durch, und die Pausen in den Gasthäusern dieser viel bereisten Strecke taten uns gut.

Einzig unser Auftreten schien einige der einfachen Menschen am Wegesrand zu irritieren, waren wir doch bewaffnet bis an die Zähne und in Kampfbereitschaft. Hal musste sich nicht anstrengen, um ungebetene Fragen gleich im Keim zu ersticken, ein Blick von ihm genügte, und wir hatten unseren Tisch meist für uns. Bis auf diesen kleinen Zwischenfall in den Londoner Sümpfen waren uns die Götter wohlgesinnt …

* * *

London, 23. August 1305

Die tiefen Furchen auf dem Weg nach London zeugten davon, dass der Untergrund meist morastig war, aber heute waren die Straßen trocken. Die beiden Reiter gaben den Pferden lange Zügel, damit sie in den schorfigen, aufgeworfenen Furchen vorsichtig ihren Weg suchen konnten, ohne zu stolpern. Kaum hatten sie die Stadtgrenzen passiert, schlug ihnen auch schon ein Geruch entgegen, der nur in einer Stadt mit vielen Menschen entstehen konnte. Es war eine Mischung aus Misthaufen und fauligem Kompost, gepaart mit Gerüchen von Gebratenem und Hefe. Hal wunderte sich immer, wie Menschen hier leben konnten, aber vermutlich war deren Geruchsempfinden im Lauf der Zeit verkümmert.

Nicht wenige Leute blieben stehen und blickten ihnen hinterher, wie sie sich ihren Weg durch die staubige und dreckige Stadt bahnten. Vielerorts wurden die Wege mit Wasser bespritzt, um den Staub zu binden, und die Rinnsale, die sich dabei bildeten, enthielten nicht selten auch die Fäkalien der Anwohner.

Tapfer stapften die Pferde durch die Mischung aus Staub und Abfall, bis sie zum Stadttor kamen, das von den Soldaten Edwards bewacht wurde. Misstrauisch ließ die Wache sie anhalten und fragte nach ihrem Begehren. Mit ihrer auffallenden Kleidung und den martialischen Waffen unterschieden sie sich von dem Fußvolk, das sich sonst durch dieses Tor bewegte. Sie blickten Hal an, also antwortete er für Enja, die keinen der Soldaten auch nur eines Blickes würdigte.

»Wir sind eine Abordnung aus Caerlaverock vom Clan der Maxwells, um eine Petition dem König vorzubringen«, erklärte er mit seiner heiseren Stimme. Der ältere der beiden Soldaten, der wohl auch ranghöher war, ließ die beiden auf einen weiteren Soldaten warten, der sie zur Burg begleiten sollte.

Der junge Mann mit dem Ziegenbart, der sie von dort durch die Stadt geleitete, erklärte stolz die Örtlichkeit. London war die Hauptstadt der Insel und hatte ein rasant steigendes Bevölkerungswachstum. Das Leben in der Stadt war von den normannischen Kaufleuten und hiesigen Handwerkern dominiert, die hier reichlich Arbeit fanden. Andere, weniger glückliche Bewohner landeten am Galgen oder in der Gosse, wie die beiden beim Durchritt erkennen konnten. Bettler, Spielleute, Scharlatane – Enja blickte fasziniert auf die Vielzahl an Menschen, die in den Straßen Londons ihr Glück suchten oder einfach nur Abwechslung in ihrem eintönigen Leben. Arm und Reich, Bauern und Ritter mischten sich hier im bunten Treiben der Märkte, sogar ein Pferdemarkt fand am Rande des Stadtmarkts statt. Von dort erklang immer wieder lautstarkes Gebrüll und nervöses Gewieher.

Weiter im Hintergrund erhob sich wie eine drohende Faust der Tower von London, die Festung König Edwards. Sie war von William dem Eroberer auf einem Hügel im Westen der Stadt errichtet und in den letzten Jahren immer weiter ausgebaut worden. Hal fragte sich, ob die Geschichten, die sich um die gefürchtete Festung rankten, stimmten; imposant war sie allemal.

Nicht weit hinter dem Stadttor wurde der Straßenlärm von lautem Gegröle und Pfiffen übertönt. Noch ein Markt? Aber je näher sie kamen, desto klarer wurde ihnen, dass es sich um eine Ansammlung von Menschen handelte, die einer Hinrichtung beiwohnten. Vom Rücken der Pferde hatten sie einen guten Blick auf das Geschehen auf dem Podest, das die Blicke des Publikums fesselte. Gebannt hielten Enja und Hal ihre Pferde inmitten der johlenden Menge an. Auf einem Holzblock vor ihnen wurde soeben ein zum Tode Verurteilter von einem Henker gefoltert.

Die Schreie des so Malträtierten fuhren jedem Menschen mit guten Ohren durch Mark und Bein, aber den Anwesenden schien dies nicht das Geringste auszumachen; im Gegenteil, sie feuerten den Henker noch an. Hal blickte Enja an, die erst interessiert die Szene verfolgte, dann das Publikum beobachtete und wieder zurück auf den Halbtoten starrte, der jetzt in Ohnmacht gefallen war. Mit einer Präzision, die nur durch jahrelange Übung entstanden sein konnte, trennte der Henker nun den Kopf ab und hielt ihn an den Haaren hoch. Ein Jubel brach bei allen Umstehenden aus, der schon fast frenetisch wurde.

Als sich die Menge allmählich in alle Richtungen auflöste, wandte Enja sich an den jungen Mann mit dem Ziegenbart, der höflicherweise mit den beiden stehen geblieben war. »Wer war denn der Delinquent dort oben, dass man ihn zu solch einem grausamen Tod verurteilt hat?«

»Ein schottischer Hochverräter, meine Dame«, antwortete er höflich. »Sein Name war William Wallace, er hatte sich gegen König Edward gestellt und damit gegen die englische Krone.« Und er fügte mit einem Blick auf den Marktplatz mit Inbrunst hinzu: »Kein anderer hat den Tod so verdient wie er!«

Enja blickte wieder auf die schaurige Szene auf dem Marktplatz und rieb sich unbewusst die Narbe an ihrem Handgelenk. Langsam dämmerte ihr die Tragweite des Geschehens hier in London. Sie war Zeugin eines Exempels geworden, das hier statuiert worden war. Eine monströse Demonstration von Edwards Macht und eine nachhaltige Zerstörung schottischen Widerstands.

»Wie kommt es, dass man diesen Verurteilten nicht mit dem Schwert hinrichtet? Man könnte meinen, König Edward hätte sich vor diesem Wallace gefürchtet, dass er ihn in einen solchen Tod schickt?« Die Neugierde in ihrer Stimme kaschierte geschickt ihre wahren Gefühle.

»Nun«, erklärte der junge Soldat geduldig, »es steht mir nicht an, eine Meinung zu dem Übeltäter dort zu bilden, aber seit König Edward ist dieser Tod die einzige Bestrafung, die auf Hochverrat ausgesprochen wird. Dieben oder Mördern wird ein Tod durch Hängen zuteil. Ketzer wiederum sterben meist durch Verbrennen.«

»Ah«, setzte Enja interessiert nach, »dann werden hier auch Ketzer verbrannt?«

»Nein, die werden wegen des Gestanks und des Feuers auf dem östlichen Marktplatz verbrannt, dort befindet sich die Stadtmauer direkt neben dem Hinrichtungsplatz. Sie kann dem Funkenflug besser widerstehen.« Gelangweilt deutete er an, weiterzugehen, und Enja löste sich nachdenklich von der Hinrichtungsszene auf dem Podium, die jetzt kaum noch jemanden zu interessieren schien. Nur wenige Gruppen waren in angeregte Gespräche vertieft, die sicherlich mit dem Tod des Freiheitskämpfers Wallace zu tun hatten.

Stumm wandte Enja ihr Pferd wieder in Richtung Straße. Sie ließ sich ihr Unbehagen nicht anmerken. Grausamkeit und Brutalität waren ihr nicht fremd, aber eine solch widerwärtige Methode, einen Verurteilten ins Jenseits zu befördern, erforderte schon einen stabilen Magen.

Wäre Hal weniger gläubig gewesen, hätte er sich um Enja gesorgt. Aber er hatte wohlweislich seinem Gott zahlreiche Gebete geschickt, die sie unter seinen Schutz stellen sollten. Einem König, der so gnadenlos mit seinen Feinden umging, war alles zuzutrauen. Und wenn Gott sich nicht um Enja kümmern würde, dann war er auch noch da.

* * *

Sie wurden wenig später tatsächlich im Königshaus empfangen. Die Nachricht vom Besuch einer schottischen Delegation zur Eigentumsklärung hatte König Edward interessiert aufgenommen. Schließlich lag das Gebiet der Maxwells im Grenzgebiet und konnte unter Umständen von Interesse sein. Nach tagelangen Anhörungen durch die Kanzler des Königs wurden Enja und Hal schließlich zum König vorgelassen. In der Zwischenzeit hatten sie sich eine Kammer in einer kleinen Herberge gesucht, die nicht weit vom englischen Königssitz entfernt war.

Zum dritten Male innerhalb einer Woche ritten sie nun durch das mächtige Burgtor des dritten Festungsrings. Heute endlich sollten sie zum König vorgelassen werden, ihre Geduld war in den letzten Tagen ziemlich auf die Probe gestellt worden. So machten sie sich mit entsprechender Erwartungshaltung auf den Weg zur Festung. Der Tag begrüßte sie schon am Morgen mit einem traurigen Grau, und die Wolken ließen immer wieder Regentropfen fallen, manchmal so plötzlich, dass kaum Zeit blieb, Schutz zu suchen. Den beiden fiel auf, wie viele Arbeiter fieberhaft am äußeren Burgring arbeiteten. Wie ein wilder Ameisenhaufen drängten sich die Männer, um Steine, Schutt und Sand zur Baustelle zu karren. Alle schienen ein gemeinsames Ziel zu haben.

Diesmal ließ die Leibgarde sie tatsächlich ins Innere der Burg, die von zwei weiteren Festungsringen geschützt wurde. Aus hellen Sandsteinen erhob sich in deren Innerem ein wuchtiger Bau mit vier Außentürmen, die in Größe und Ausdehnung eine Form erreichten, die selbst die Kathedralen dieser Zeit überragten.

Enja legte den Kopf in den Nacken, um die Türme zu betrachten.

»Hier befinden sich auch die Schlafgemächer des Königs«, erinnerte Hal sie an die stolzen Ausführungen des jungen Soldaten bei ihrer Ankunft. Mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen stiegen sie von ihren Pferden, die sofort von einem Stallburschen weggeführt wurden. Sie waren umringt von der Leibgarde des Königs, die sie ins Innere der Burg brachte. Immer wieder begegneten ihnen Bedienstete, Höflinge und Geistliche, die vor allem Enja mit unverhohlener Neugierde anstarrten.

Davon unbeeindruckt, schritt sie stolz zwischen den Soldaten ihrem Ziel entgegen, König Edward. Sie hatte sich heute sogar ihren goldenen Gürtel als Zeichen ihrer Anerkennung als Kriegerin umgehängt. Außerdem trug sie ihren Stirnreif aus purem Gold, in dessen Mitte ein Saphir eingearbeitet war, so groß, dass er ihr Sklavenkreuz vollständig überdeckte. Er symbolisierte ihre ranghohe Stellung als Prinzessin und verlieh ihr eine Autorität, die den Bediensteten am Hofe gehörig Respekt einflößte.

Viele Blicke blieben erst an der Krone, dann an ihrem Gesicht und den Haaren hängen, die sie wie immer mit dem silbernen Dolch hochgesteckt hatte. Sie entsprach ganz und gar nicht dem gewohnten Bild einer Frau. Die langen Schwerter hatten sie am Palasteingang abgegeben, wie es am Hofe üblich war.

Hal straffte die Schultern, als die beiden Flügel der reich verzierten Holztür zum großen Saal aufgingen und eine lange Reihe herausgeputzter Höflinge vor ihnen stand, die sich vor ihnen verneigten. Ein Marschall kündigte die Gäste aus Schottland lautstark an und zog die Aufmerksamkeit des Königs auf sich, der am Saalende auf seinem Thron saß und angeregt mit seinen Vertrauten sprach.

Vor allem die Nennung von Enjas Titel ließ einige der Anwesenden aufhorchen. Die klugen, aber nicht besonders freundlichen Augen des Königs musterten die Neuankömmlinge von Kopf bis Fuß und blieben an Enjas goldener Krone hängen. Der große Saphir auf ihrer Stirn konnte mit dem Prunk des englischen Königshauses durchaus mithalten.

Enja und Hal verbeugten sich vor dem König, der lässig seinen Arm auf eine Lehne gelegt hatte und sie nun mit einer Handbewegung zum Sprechen aufforderte. Enja ging einen Schritt nach vorn und setzte wohlüberlegt auf Französisch, der bei Hofe üblichen Sprache, zum Reden an.

»Eure Majestät, es ist mir eine Ehre, hier vor Euch zu stehen und mein Begehr kundzutun. Ich bin den weiten Weg von Caerlaverock hierhergereist, um meine Bitte um Belehnung mit diesem Besitz vorzubringen. Da ich nicht als Schottin geboren bin, möchte ich bei Euch als meinem König tunlichst meine Ansprüche anzeigen und Euch als Herrin der Ländereien und als treue Untertanin dienen.«

Edwards kalte Augen verengten sich, und seine Blicke bohrten sich in Enja, die sich davon nicht verunsichern ließ. Die schwarzgrauen Haare seiner Majestät wirkten matt und strähnig, als wären sie schon lange nicht mehr gewaschen worden. Insgesamt wirkte der König müde, als würde er kränkeln. Seine Gesichtsfarbe war etwas gelblich, und um seine Augen hatten sich Falten gebildet. Sein Mund bildete einen verkniffenen Strich.

»Ihr seid keine Schottin. Ihr seid eine Frau und nicht einmal eine Maxwell. Was in Gottes Namen bringt Euch dazu, irgendwelche Ansprüche zu stellen?«

Enja schluckte, ließ sich aber nicht beirren. »Die Burg Caerlaverock wurde mir von Roderick Maxwell, Clanoberhaupt des Maxwell-Clans, als Dank für die Rettung seines Sohnes übergeben. Ich habe dort meinen Leuten Zuflucht verschafft und die Burg seit Jahren als Vasallin der Maxwells in einen fruchtbaren und wirtschaftlichen Ort verwandelt. Für meine Belehnung durch Eure Majestät würdet Ihr direkt von mir Steuern und meine Treue als Vasallin der englischen Krone erhalten.«

Höflich neigte sie mit dem letzten Satz ihr Haupt. Ein aufgeregtes Wispern unter den anwesenden Höflingen ließ Hal vermuten, dass sie noch nicht viele Frauen mit einem solch selbstbewussten Ansinnen gesehen hatten. Er war stolz auf seine Anführerin, die von einem Leben als Sklavin zu solch einem Reichtum und Einfluss gelangt war.

Und ihr Begehren vor König Edward vorzutragen und ihm damit ein Tor nach Schottland zu bauen, war ein gerissener Schachzug. Sollte das gelingen, hatte sie gute Chancen, sich auch für James Douglas einzusetzen. Hal konnte sehen, dass auch der König über diese Möglichkeit nachdachte. Er hatte sich ein wenig zurückgelehnt und verschränkte seine Arme.

»Sie ist also fremd in diesem Land? Woher kommt sie denn dann?«, fragte einer seiner Vertrauten, der links neben dem König stand, ein dick beleibter Mann mit Tränensäcken und einem ergrauten Vollbart.

Enja wandte sich an ihn: »Ich weiß nicht, in welchem Land ich geboren wurde, aber ich bin im Orient aufgewachsen und stand unter der Obhut König Hassan I‑Shabbahs, der mir aufgrund meiner Kühnheit auch den Titel einer Prinzessin verlieh.«

»Dann seid Ihr gar keine Prinzessin Eures Blutes wegen?«, führte der Dicke naserümpfend an.

»Nein«, antwortete Enja irritiert, »dieser Titel ist eine Auszeichnung für die Ausbildung zum höchsten Krieger und verleiht mir das Recht, als freie Frau Besitztum zu erwerben und auch Lehen zu vergeben. Ähnlich, wie es hierzulande einem Ritter gestattet ist.«

Ein hagerer Edelmann mit markanter Nase schnaubte spöttisch und sagte: »Ritter, eh? Das heißt noch lange nicht, dass wir hierzulande Euren Titel als solchen anerkennen müssen. Wo kämen wir denn da hin!«

Zustimmendes Gemurmel und Nicken der Umstehenden begleitete seine abfällige Ansage, die Enja ein wenig beunruhigte. Was, wenn er recht hatte und sie ihren Titel erst gar nicht anerkannten? Dennoch bewahrte sie Ruhe, denn nur ein kühler Kopf bewegte sich auf dem Schachbrett der Politik strategisch richtig.

»Roderick Maxwell überschrieb mir persönlich die Ländereien, und als freie Edelfrau habe ich sein Geschenk angenommen. Eine Anerkennung durch die englische Krone würde Euch meine absolute Loyalität …«

Sie kam nicht weiter, denn der König stand hastig auf und ging einen Schritt auf sie zu.

»Genug!«, fiel er ihr ins Wort. »Welch ein Unsinn, als Frau Ländereien zu beanspruchen, noch dazu mit einem Titel, den sich jeder ausdenken kann. Wenn Ihr weiter dort leben wollt, müsst Ihr eben einen Maxwell heiraten, und dann wird immer noch ein Maxwell dort Laird sein und nicht Ihr, Prinzessin Enja!«

Seine Stimme war lauter geworden. Seine Berater nickten gefällig mit den Köpfen. Enja schluckte, ihr Stolz hatte eine kräftige Schlappe erfahren. Trotzdem wich sie nicht zurück und reckte eigensinnig ihr Kinn nach oben. Ihre Stimme bekam diesen resoluten Ton, den Hal nur allzu gut kannte: »Ich werde niemals heiraten, nur um diese Burg zu behalten. Sie gehört mir bereits.«

»Dann widersetzt Ihr Euch meinem Willen?« Die Haltung des Königs wirkte auf einmal bedrohlich. Sein schlanker, sehniger Körper beugte sich vor wie eine Katze vor dem Sprung.

Hal ahnte, was geschehen würde, und versuchte noch, Enja zurückzuziehen, aber sie schüttelte seine Hand an ihrem Arm ab.

»Hier an Eurem Hof geht es wohl nur um Titel und Männer. Wenn Euch meine Loyalität nichts wert ist, muss ich mich eben an den zukünftigen schottischen König wenden, um meinen Besitzanspruch zu klären. Vielleicht ist Robert the Bruce bereit, mich anzuhören.«

Hal schloss entsetzt die Augen. Enja hatte nie verstanden, wann es Zeit war, sich zurückzuziehen. Es war ihr vermaledeites Temperament und das Pochen auf ihr Recht, das sie irgendwann einmal umbringen würde. Er hatte ihr das schon oft prophezeit.

Der englische König lief bei der Erwähnung seines Erzfeindes rot an und brüllte dann nach den Wachen, die Enja wegen Verrats festnehmen sollten.

Sie mussten aus diesem Saal lebend herauskommen. Hal verhinderte das Schlimmste, indem er Enja am Arm packte und ihr zuraunte, sich jetzt nicht zu wehren. Er werde ihr einen Rechtsbeistand besorgen, und sie wäre in ein paar Tagen wieder frei.

Was dann passierte, ging unglaublich schnell und entglitt völlig seiner Kontrolle. Die Wachen nahmen ihren Waffenrock ab und fesselten Enjas Hände mit einem Strick auf dem Rücken. Ihr wütender Blick fiel zuerst auf den König und dann auf Hal, der hilflos mitansehen musste, wie sie abgeführt wurde. Er hatte sie dazu überredet, keine Anstalten zur Gegenwehr zu machen. Jetzt musste er untätig zusehen, wie sie unter dem lauten Geschrei der Anwesenden, die den Tod wegen Hochverrats forderten, von den Schergen des Königs brutal aus dem Saal gezerrt wurde. Dabei war sie eigentlich gekommen, um sich mit ihm zu verbünden.

* * *

Die nächsten drei Tage waren für Hal die reinste Qual, und der Alptraum hatte gerade erst begonnen. Er ging in der kleinen Kammer der Herberge auf und ab.

Die Gerichtsverhandlung war in drei Tagen angesetzt worden, während Enja im berüchtigten Tower von London einsaß. Also blieben ihm drei Tage, um eine Lösung zu finden und einen Rechtsbeistand zu finden, der mit ihr Kontakt aufnehmen konnte. Und er musste den Clan informieren.

Einen Boten nach Caerlaverock zu schicken, war nicht schwer. Der Versuch dagegen, einen Rechtsbeistand zu finden, der bereit war, Enja gegen den König zu vertreten, war fast aussichtslos. Doch schließlich, mit ein paar zusätzlichen Goldstücken, hatte sich der Vorsitzende der Geschworenen bereit erklärt, ihn anzuhören.

Sir Archibald Cowley waren die Not der Angeklagten und die Krone egal. Er beurteilte stets nach seinem Gutdünken, denn seine Auffassung interessierte ja sowieso niemanden. Hal sträubten sich die Haare im Nacken, als dieser eingebildete sogenannte Gelehrte ihm die Aussichtslosigkeit des Unterfangens erklärte. Aber er war seine einzige Chance, wenigstens Enjas persönliche Sachen zurückzubekommen. Sie waren vom Gefängnisaufseher verwahrt und Sir Cowley übergeben worden. Ein Besuch – auch unter Aufsicht – wurde ihm verwehrt, da er kein Angehöriger war. Er konnte sich nur annähernd vorstellen, was Enja unter Gewahrsam durchmachte. Gnade dem, der ihr auch nur ein Haar krümmte!

Er würde sie erst im Gerichtssaal wiedersehen, vor den versammelten Geschworenen und auf sich allein gestellt. Hal war ihr einziger Unterstützer in dieser Gerichtsverhandlung, deren Ausgang schon feststand. Hal ballte die Fäuste. Am liebsten würde er in diesen Tower marschieren, seine Anführerin herausholen und auf schnellstem Weg aus London verschwinden. Frustriert drehte er in seiner Kammer eine neue Runde.

* * *

Ich wollte schreien vor Wut! Aber Schweigen war besser, Schweigen machte diese verdammten Engländer wütend, weil ich ihnen damit meine Verachtung zeigen konnte. Ich hatte keine Angst vor der Kälte, der Feuchtigkeit oder dem Hunger. Man hatte mir eine Einzelzelle zugeteilt, vermutlich aus Angst, dass ich bis zur Verhandlung gar nicht überleben würde in den Gemeinschaftszellen der Männer.

Trotzdem war ich ständig Objekt der Erniedrigung, wenn die Wächter an meiner Zelle vorbeigingen. Es blieb aber bei Witzen und obszönen Angeboten. Einen Übergriff konnte ich rechtzeitig abwenden, als ich trotz meiner gefesselten Hände dem zudringlichen Wächter in die Weichteile treten konnte. Dafür bekam ich zwar einen Schlag an den Kopf, aber seitdem hielten sie Abstand, und das war gut so.

Am nächsten Tag sollte die Gerichtsverhandlung stattfinden, was für eine Farce! Für den König, den obersten Richter, stand doch bereits fest, welches Urteil gefällt werden würde. Das mit dem Fall betraute Assisengericht mit dem Geschworenengremium wollte den König sicher nicht verärgern und als Richter schon zweimal nicht. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.

Ein Geräusch schreckte mich aus meinen trüben Gedanken. Eine hölzerne Schüssel wurde einmal am Tag unter der Tür durchgeschoben. Vorsichtig nahm ich die flache Schüssel mit spitzen Fingern und roch daran. Das wenige Licht, das durch den vergitterten Luftschlitz in der Wand hoch über meinem Kopf in meine Zelle fiel, machte es unmöglich, zu erkennen, worum es sich handelte. Aber ich roch Hafer und etwas Säuerliches, vielleicht Brotteig. Ich ertastete ein Stück Brot und konnte ein wenig Brei in meinen Mund schaufeln. Es schmeckte zu meiner Erleichterung nach nichts.

Gut so, besser als schlechtes Fleisch! Ein paar Bissen bekam ich sogar herunter, bevor es an meiner Tür rumpelte. Sie sprang quietschend und knatternd auf, und ein kleiner Mönch mit einer Kutte und einer Kerze trat herein. Stumm blieb er neben der Tür stehen und wartete, bis ich mit meinem Essen fertig war. Ich schob die Schüssel wieder unter der Tür durch und lehnte mich mit verschränkten Armen gegen die Wand.

Es war ein Franziskanermönch, wie mir sein dunkelbraunes Habit zeigte, und in seinen besten Jahren. Der Haarkranz war bereits ergraut, und seine Augen, die in tiefen Höhlen ganz schwarz wirkten, hatten schon einige Falten. Trotzdem entging ihnen keine meiner Bewegungen, er beobachtete mich ganz genau. »Ich bin Bruder Theobald und gekommen, um Euch die Beichte abzunehmen, falls Ihr dies wünscht.«

Meine Lippen pressten sich fest aufeinander. Trotzig starrte ich ihm entgegen.

Geduldig wartete der Mönch eine Minute und seufzte dann nur. »Seid Ihr denn überhaupt getauft?«

Keine Reaktion. Bruder Theobald wurde jetzt doch ein wenig unruhig und blickte nervös zur Tür, hinter der wohl die Wache stand. Schnell bekreuzigte er sich, kam mutig einen Schritt näher und flüsterte mir vertraulich zu: »Wenn Ihr zugebt, eine Ketzerin zu sein, könnte ich erwirken, dass Ihr einen schnellen Tod durch Verbrennen anstatt eines sehr viel schmerzvolleren als Hochverräterin erfahrt!«

Ich zuckte zurück. In seinen Augen war ich bereits schuldig. »Es ist noch kein Urteil gesprochen, und Ihr verhandelt bereits meinen Tod?«, giftete ich ihn an, während er sich wieder fahrig bekreuzigte. Vermutlich hatte er das gefährliche Glimmen in meinen Augen gesehen.

»Der Vorsitzende wird Euch die gleiche Frage stellen wie ich, und wenn ich morgen überzeugend darstelle, dass Ihr zwar mit dem Teufel kopuliert, aber in Eurem Herzen gläubig seid, dann kann ich dafür sorgen, dass wenigstens Eure Seele gerettet wird!« Die Stimme des Mönchs klang nun etwas unsicher.

»Woher wollt Ihr denn wissen, dass ich mit dem Teufel im Bunde stehe?«, fragte ich ihn mit einem warnenden Unterton. Er hielt die Hände schützend vor sich.

»Das Zeichen«, und eine Hand deutete anklagend auf meine Stirn, »das auf Eurer Stirn, das umgedrehte Kreuz Christi. Nur ein Teufel würde das Zeichen der Demut in die Gesichter seiner Schergen ritzen! Hat er es selbst dorthin gemalt aus der schwarzen Farbe verdammter Seelen?«

Ich starrte ihn an. Das also war es! Natürlich. Wer trug auch schon ein schwarzes Kreuzzeichen mitten im Gesicht? Nur eine Ketzerin … Wütend drehte ich mich um, damit er meinen Gesichtsausdruck nicht deuten konnte. »Verschwindet!«, herrschte ich ihn an, ohne mich umzudrehen. »Und sagt Eurem Gott, dass er mir nicht helfen kann!«

»Gott steh uns Sündern bei, im Himmel wie auf Erden, Amen.«

Der Mönch sprach ein Gebet und ließ sich vom Wächter aus meiner Zelle führen. Ich bekam einen Kloß im Hals. Wenn es also der König nicht schaffte, dann würde mich die Kirche ins Grab bringen. Wie hatte Isaak immer gesagt? »Kein Gott der Welt kann gegen die Dummheit der Menschen etwas ausrichten. Inshallah …«

* * *

Zur Gerichtsverhandlung legten sie mir Fesseln an und führten mich in den dafür vorgesehenen Saal. Ich war in den Tagen seit meiner Festnahme kein einziges Mal nach draußen gelangt. Unterirdisch und nach endlosen dunklen Gängen und fensterlosen Räumen hatten sie mich in diesen Raum geführt, in dem mich das hereinfallende Tageslicht blendete. Nur mit Mühe blinzelte ich dagegen an. Ich stand in der Mitte eines großen Raumes. Weit über mir erkannte ich eine geschnitzte Holzdecke, die in eine Fensterreihe mündete. Der Bauch des Saales war von Stuhlreihen gesäumt, die sich nach hinten erhöhten. In den hellen Lichtstrahlen, die durch die Oberlichter in diesen Saal fielen, erkannte ich deutlich den glitzernden Staub, der sich, von den vielen Menschen aufgewirbelt, wieder auf die Tische und Bänke herabließ.

Einen großen Teil der Sitzbänke nahmen die Geschworenen ein, die über mein Schicksal entscheiden sollten. Sie warfen neugierige und missbilligende Blicke zu mir herüber, bevor ich zu einer Bank vor einem großen Tisch geführt wurde, auf der ich Platz nehmen sollte.

Der Vorsitzende des Assisengerichts, der nun vor mir an dem schwarzen Tisch saß, war in einen prächtigen Samtmantel gekleidet und trug eine seltsame Kopfbedeckung, die der Lederkappe eines Schreibers sehr ähnelte, aber aus edlem Samt gearbeitet war. Sein schläfriger Blick aus halbgeöffneten Augen ruhte gelangweilt auf der dicken Papierrolle, vermutlich der Anklageschrift, die vor ihm ausgebreitet lag.

Links und rechts neben ihm saßen Geistliche in ihren braunen Kutten, meines Erachtens Franziskanermönche. Vor meinem Stuhl hatte es sich ein blasser Mann bequem gemacht, der ebenfalls eine solche Kappe trug. Anscheinend war es ein Zeichen der Gerichtsbarkeit. Er stellte sich mir mit einer kleinen Verbeugung als Archibald Cowley vor, wobei er mir nicht in die Augen schaute. Er war der Vorsitzende der Geschworenen, und mein Herz schlug höher, schließlich hatten sie sich die Mühe gemacht, einige Menschen zu meiner Verteidigung herzubestellen.

Hinter mir hatten sich einige mir unbekannte Menschen versammelt. Nur Hal überragte die meisten, und die Umstehenden hielten sich in respektvollem Abstand von ihm. Nie hatte sich sein Anblick vertrauter angefühlt als hier mitten in der Höhle des Löwen. Ich erlaubte mir ein kurzes Zwinkern, das er mit einem ernsten Nicken erwiderte. Seine Stirn kräuselte sich leicht, als er mich betrachtete, aber er ließ sonst keine Regung in seinem Gesicht erkennen. An seiner Haltung merkte ich, dass er sehr angespannt war – seine Kiefer mahlten und die grünen Augen glitzerten gefährlich. Kein Mensch im Saal konnte auch nur im Entferntesten ahnen, welch ein Vulkan in ihrer Mitte unter der schwarz tätowierten Haut brodelte.

Englische Soldaten reihten sich links und rechts der Stuhlreihen und hinter mir auf. Im Falle einer Verurteilung, auf die ich nun gefasst war, würden sie mich sofort wieder in den Tower stecken bis zu meiner Hinrichtung. Wie lange würde das dauern, eine Woche, einen Monat?

Der Richter stand nun mit feierlicher Miene auf und verlas die Anklageschrift: Von Konspiration mit dem Feind bis hin zu abstrusen Verschwörungstheorien, Abhalten von geheimen Treffen und Spionage war alles aufgeführt. Jeder einzelne Punkt war für sich schon ein Grund, um mich wegen Hochverrats anzuklagen. Edward und sein verdammter Hofstaat gingen wirklich auf Nummer sicher. Die Zuschauermenge raunte bei jedem Anklagepunkt zustimmend.

Jetzt betrat der Mönch, der mich gestern in meiner Zelle besucht hatte, die Gerichtsbühne. Ihm stand das Verlesen einer Anklage zu, die auf meine ketzerischen Absichten hindeutete. Er verlangte, dass ich verbrannt werden sollte.

Mein sogenannter Verteidiger befand mich in allen Punkten der Anklage für schuldig und schlug den Tod durch das Schwert vor, um mir unnötige Qualen zu ersparen. Die ersten Buhrufe schallten durch den Saal. Der blasierte Vorsitzende, der sich wohl ärgerte, bei dem Lärm um sein wohlverdientes Nickerchen zu kommen, forderte mich auf, mich schuldig zu bekennen, entweder des Hochverrats oder der Ketzerei.

Wütend stand ich auf und rief so laut, dass jeder mich durch das Stimmengewirr hören konnte: »Da über meine Schuld keinerlei Zweifel zu herrschen scheint, verurteilt mich wenigstens als Hochverräterin. Denn als solche gelte ich als ärgste Feindin des Königs, und die werde ich ab heute sein.«

Mit einem kräftigen Schwung sauste der Hammer des Vorsitzenden auf den Tisch. Der Knall ließ die meisten Stimmen verebben, die inzwischen alle durcheinanderredeten.

»Ruhe!«, schrie er und verlangte von den Anwesenden, für den Schuldspruch aufzustehen.

»Prinzessin Enja I‑Shabbah ibn Hassan I‑Shabbah«, er schaffte es bewundernswerterweise, meinen Titel und meinen vollen Namen auszusprechen, ohne zu stolpern, »Ihr werdet des Hochverrats schuldig gesprochen. Ihr werdet am Strang aufgehängt, dann entmannt, äh … ich meine …« Hier stutzte er und beriet sich noch einmal kurz mit dem Mönch. Das Gelächter in den Reihen wollte kaum aufhören. »Ja, amüsiert Euch nur auf meine Kosten, ihr tumbes Volk!«, brüllte er verärgert. Dann richtete er sich wieder auf, schlug noch einmal kräftig mit dem Hammer auf den Tisch, um endgültig für Ruhe zu sorgen, und verkündete feierlich: »… nachdem Ihr am Strang gehängt wurdet, werdet Ihr direkt ausgeweidet, danach gevierteilt, und Euer Kopf wird zur Abschreckung an der Stadtmauer aufgehängt. Das Urteil wird morgen auf dem Marktplatz vollzogen. Möge Gott uns beistehen!«

Morgen schon! Mein Herz setzte kurz aus.

Im Publikum war es unruhig geworden. Die Schnelligkeit der Durchführung schien doch einige zu überraschen. Jemand warf mit faulen Eiern, denen ich aber geschickt ausweichen konnte und die stattdessen Alexander Cowley trafen. Der Mann verzog angewidert seine Nase und fing an, mit einem kleinen Tüchlein den beschmutzten Rock abzuwischen.

Ich blickte über die Schulter zu Hal. Er war blass geworden, und ich fühlte mich ihm in diesem Moment tief verbunden. Der unerschrockenste Mann auf dieser Welt fürchtete um mein Leben. Plötzlich sprang er auf, riss einen Arm hoch und brüllte über das laute Treiben im Saal zu Archibald: »Sie könnte ein Kind unter dem Herzen tragen, du Idiot, du musst das Urteil aussetzen, bis feststeht, dass sie nicht schwanger ist!«

Überrascht starrte ich Hal an. Bevor Archibald reagieren konnte, schlug der Vorsitzende, der den Einwurf gehört hatte, mit dem Hammer auf den Tisch, und der Lärm ebbte ein wenig ab. Dann rief er laut und vernehmlich ins Publikum: »Der Verurteilten wird eine Frist von vier Wochen eingeräumt. Sollte sie bis dahin den Nachweis der Schwangerschaft erbringen, wird das Urteil ausgesetzt, bis das Kind geboren ist. Ansonsten wird das Urteil wie heute festgesetzt vollzogen.«

Vier Wochen. Erleichtert schloss ich die Augen, bis dahin konnte ich mir etwas einfallen lassen. Ich warf Hal einen dankbaren Blick zu. Aber der schien mich gar nicht zu bemerken. Er schüttelte den Kopf und sah schnell auf den Boden, weinte er etwa? Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah, bevor die Soldaten mich fesselten und aus dem Saal zerrten. Der Geruch von verfaulten Eiern verfolgte mich bis in meine Zelle.