Wären meine starken Kopfschmerzen nicht gewesen, ich hätte schwören können, es wäre alles nur ein böser Traum. Aber jede noch so kleine Bewegung erzeugte ein Pochen in meinem Kopf, wie ich es noch nie erlebt hatte. Meine Lider waren schwer wie Blei. Bei jedem Versuch, sie zu öffnen, schnitt der Lichtstrahl wie ein Messer in meine Augen, und ich stöhnte. Sofort legte sich ein feuchtes Tuch über meine Stirn, und eine leise, beruhigende Stimme ertönte.
»Alles wird gut, Eran, die Schmerzen werden in ein paar Tagen weg sein, nur die Beule geht wohl nicht so schnell zurück.« Es war die Stimme eines Jungen, den ich nicht kannte. Er saß rechts von mir. Meine vergeblichen Versuche zu sprechen, erstickte ein dicker Kloß in meinem Hals, es kam nicht mehr aus meinem Mund als ein heiseres Krächzen.
»Hier, trinkt das, es wird Euch guttun.« Eine Hand schob sich hinter meine Schultern und drückte mich leicht hoch. Der Schmerz durchzuckte wieder meinen Schädel, und ich krümmte mich zusammen. Aber das Verlangen nach Wasser war größer, und als eine kühle Schale an meine Lippen gehalten wurde, trank ich gierig.
»Langsam, mein Herr, ihr werdet Euch sonst verschlucken!«
Wie war ich in dieses Bett gekommen? Was war passiert? Solche Schmerzen jagten durch meine Gehirnwindungen, ich konnte nicht mehr klar denken.
Isaak … Meine Gedanken entschwanden schon wieder, zerplatzten wie zarte Bläschen in meiner Erinnerung. Wo war ich?
Die angenehm kühle Hand drückte mich wieder sanft auf mein Bett. Die sanfte Stimme umfing mich, und eine wundersame Müdigkeit legte sich auf mein Haupt. Dankbar sank ich zurück in den tiefen Schlaf, aus dem ich kurz zuvor aufgewacht war. Den Schmerz ließ ich einfach in der Gegenwart zurück und ich fühlte mich seltsam erleichtert.
* * *
Als ich diesmal die Augen öffnete, sah ich im Halbdunkel des Zimmers jemanden neben meinem Bett kauern. Eine Fliege surrte an meinem Ohr. Ich spürte nur ein leichtes Ziehen, als ich meinen Kopf wendete. Die Person bemerkte sofort meine Bewegung und nahm das kalte Ding weg, das auf meiner Stirn lag. Zögernd hob ich erst die eine, dann die andere Hand und sah mir meine Finger an. Verschwommen tanzten sie vor meinen Augen. Vorsichtig tastete ich meine Stirn ab und spürte eine dicke Beule.
Ich räusperte mich und testete meine Stimme. »Wie lange liege ich hier schon, Junge?« Erstaunlich, ich konnte sogar wieder sprechen, obwohl die Stimme seltsam weit weg und ein wenig erstickt klang.
»Sechs Tage, mein Herr. Ihr habt einen tüchtigen Schlag abbekommen. Wir dachten zuerst, Euer Schädel wäre geborsten, aber dann habe ich Euren Puls gefühlt, und wir haben Euch hierhergebracht, wo es kühl und ruhig ist. Die Beule an der Stirn habe ich stets mit einem nassen Lappen gekühlt, bis die Schwellung zurückgegangen ist.«
Sechs Tage Dunkelheit, der Schlag muss heftig gewesen sein. Es war wirklich ein Wunder, dass mein Kopf noch ganz war.
»Allah sei Dank, dass Ihr Euch wieder erholt habt. Könnt Ihr Euch denn an alles erinnern?«, fragte mich der Junge fürsorglich.
»Isaak!«, entfuhr es mir.
»Meister Isaak ist tot, mein Herr Eran. Ihr seid jetzt allein oder besser gesagt: Ihr habt jetzt mich.«
»Isaak ist tot«, wiederholte ich schwach, als die Erinnerung zu mir durchsickerte. Ich wollte schlucken, aber meine trockene Kehle ließ dies nicht zu. »Aber wer bist du?«
»Ich bin Euer neuer Diener, mein Name ist Iljas, und ich werde Euch bei Eurer Arbeit helfen.«
Helfen …?
»Unser König Hassan hat Euch zu seinem persönlichen Medicus bestellt.«
»Und wenn ich das nicht möchte?«, krächzte ich in diesem erstickten Ton, als wäre mein Hals zu doppelter Größe angeschwollen.
»Dann wird er mich töten, Herr …«, kam es kleinlaut von Iljas.
Bei allen Göttern …
* * *
Mittlerweile war ich vierzehn Jahre alt. Meine Haare hielt ich kurz unter dem Turban, und ich versuchte, männlich zu wirken. Mein spindeldürrer Körper war mir eine gute Tarnung.
Mein neuer Helfer Iljas entpuppte sich als pfiffiges Kerlchen mit großem Charme, und ich spielte die Gegensätze unserer beiden Rollen aus. Dadurch wirkte ich um ein Vielfaches älter und reifer, als ich tatsächlich war, und gewann das Vertrauen von König Hassan und seinen Prinzen. Diese sollte ich nach des Königs Weisung ärztlich betreuen, so gut es mein beschränktes Wissen zuließ. Dank meiner Kenntnisse in der menschlichen Physis wurde ich auch konsultiert, um eine möglichst schnelle und lautlose Tötung herbeizuführen. Eine gruselige Angelegenheit, denn ich war ja ausgebildet worden, um zu heilen. Auf der anderen Seite ermöglichte es mir auch einen Einblick in die Arbeit der Assassinen, die sich möglichst nah an ihre Opfer heranschleichen und mit einem einzigen Stich töten sollten. War er richtig gesetzt, war ein Stich aus unmittelbarer Nähe sofort tödlich, und der Ermordete spürte nicht einmal mehr den Schmerz des Einstichs.
Eine große Hilfe bei meiner Weiterbildung war Meister Kang Shi Fu, ein chinesischer Shaolin-Mönch, der aus seinem Heimatland hatte flüchten müssen und bei König Hassan als viel beachteter Kampfkunsttrainer seine Anstellung gefunden hatte. Warum er den beschwerlichen Weg aus seinem Heimatland in den weit entfernten Orient gewagt hatte, erwähnte er nie. Aber fast jeder, der in irgendeiner Weise bei den Assassinen untertauchte, hatte seine ganz eigene Geschichte zu erzählen, die nicht immer für fremde Ohren bestimmt war.
Von dem schweigsamen Shi Fu lernte ich viel über asiatische Heilkunst, Akupunktur und Heilmassagen. Ich wiederum lehrte ihn die Anwendung von Giften und Kräutern. Wir sahen es als eine Art Symbiose, die jeden von uns ein großes Stück weiterbrachte.
Shi Fu war zwischen zwanzig und hundert Jahre alt, weise wie ein Hundertjähriger und beweglich wie ein Zwanzigjähriger. Außerdem war sein Gesicht immer eine Maske der Freundlichkeit, ob er nun schlecht gelaunt war oder fröhlich, keiner sah es ihm an. Jedem begegnete er mit Respekt und Höflichkeit. Nie sagte er ein Wort zu viel, im Gegenteil, er war ein Meister im Verbergen von Worten und Gefühlen, und ich beschloss, diese Fertigkeit von ihm zu lernen. Nun ja, ich musste mir irgendwann eingestehen, dass ich hierin nicht besonders gut war.
Zwischen uns entwickelte sich eine besondere Freundschaft. Uns verband das große Interesse für die Natur und den Zweikampf. Daher blieb es nicht aus, dass wir uns häufig zu Kampfeinheiten trafen, die frühmorgens vor unserer eigentlichen Arbeitszeit stattfanden. Diese besonderen Umstände und die Tatsache, dass ich Iljas nicht ausliefern wollte, bewegten mich dazu, das großzügige Angebot Hassan I‑Shabbahs anzunehmen und als persönlicher Medicus für ihn zu arbeiten.
Immer noch verfolgte mich der gewaltsame Tod Isaaks, den er aber nach Shi Fus Theorie selbst verschuldet hatte. Denn kein Sunnit wäre bereit, unter einem Schiiten zu arbeiten, und Isaak war aufgrund seines Glaubensbekenntnisses gezwungen gewesen abzulehnen. Hatte Hassan das gewusst? Hatte er vorgehabt, Isaak sowieso zu beseitigen, und ihm mit seinem Angebot keine Wahl gelassen? Ein so durchtriebener Gauner wie Hassan machte nichts ohne Kalkül.
Ein weiterer Pluspunkt meiner Anstellung war die ärztliche Versorgung der wertvollen Pferde aus Hassans Pferdezucht. Diese Tiere, die sein ganzer Stolz waren, waren sehr schlank und elegant, nicht allzu groß, und hielten ihren Kopf mit dem leicht nach oben geschwungenen Nasenrücken voller Stolz. Nie habe ich Pferde gesehen, die schneller, intelligenter und ausdauernder waren als diese Vollblüter. Hassan selbst ritt und trainierte sie mit einer Leidenschaft, die ansteckend war, und ich konnte auf diesem Gebiet wirklich viel von ihm lernen.
Während Iljas sich geschäftig und mit Feuereifer mit meinen Pflänzchen und Tierchen abmühte, Salben, Pillen und Phiolen herstellte, um die Beschwerden der Burgbevölkerung zu lindern, hatte ich genug Zeit, um reiten zu lernen, Pferde zu verstehen und sogar Geburtshilfe bei so einigen Muttertieren zu leisten.
Ein schwarzes Fohlen hatte es mir dabei ganz besonders angetan. Wir mussten es am Tag seiner Geburt förmlich aus dem Mutterleib herausziehen, um ihm auf die Welt zu helfen. Aber nach den ersten bangen Stunden erholte es sich und wurde kräftiger. Ich durfte ihm den Namen Taycan geben, was in der arabischen Sprache so viel hieß wie »junges Pferd«, und es schien von Anfang an darauf zu reagieren.
Hassan zeigte mir in seiner strengen und bestimmten Art, wie ich mit dem jungen Hengst umgehen musste und wie er auf seinen zukünftigen Reiter abgestimmt wurde, ohne seinen jungen Rücken mit zu viel Gewicht zu belasten. Bald folgte mir das gelehrige Tier auf dem Fuß und hörte auf meine Kommandos.
Umso härter traf mich der unglückselige Tag, an dem sich Taycan seinen Vorderlauf brach. Der Nizaritenkönig hatte es sich in den Kopf gesetzt, seine Festung auf dem Elburs-Gebirgskamm mit riesigen Steinschleudern auszustatten, um seine Feinde abzuwehren. Hunderte von Arbeitern schufteten Tag und Nacht, um die schweren Holzkonstruktionen in dem begrenzten Areal aufzustellen. Dazu wurde jede Menge Holz aus dem Tal herauftransportiert. Dies geschah mit Holzkarren, vor die man Ochsen gespannt hatte. Ochsen waren die einzigen Tiere, die kräftig genug waren, diese Anhöhe mit dem schweren Gewicht im Rücken zu schaffen.
Gerade als die zweijährigen Jungtiere von den Weiden im Tal ins Adlernest zurückgebracht wurden, riss die Deichsel von einem der Holzkarren. Das schwere Gefährt rumpelte rückwärts, kippte auf die Seite und ließ unter dem hysterischen Geschrei der Arbeiter einige der gefällten Baumstämme polternd den steilen Abhang herunterrollen. Die Pferde gerieten in Panik und rannten unkontrolliert in alle Richtungen auseinander. Taycan befand sich mitten unter ihnen. Ein rollender Stamm traf ihn mitten im Galopp und riss ihn von den Beinen.
Noch bevor ich bei ihm war und das ganze Ausmaß des Unfalls erkannte, wusste ich, dass er furchtbare Schmerzen litt. Er lag auf der Seite und schnaufte schwer. Immer wieder hob er seinen Kopf und ließ ihn hilflos wieder fallen. Die Augen waren panisch nach hinten gerollt, bis das Weiße zu sehen war. Ich stürzte auf ihn zu, hielt ihn fest und versuchte, ihn zu beruhigen. Fieberhaft gingen mir die verschiedensten Heilmethoden durch den Kopf, aber ich hatte noch nie einen Beinbruch bei einem Tier geheilt.
Hassan kam mit wehendem Kaftan herbeigeeilt, seine dunklen Augen waren voller Sorge und Schmerz. Ein ungewöhnlicher Anblick bei diesem so unbeirrbaren Mann. Drei andere Tiere waren ebenfalls getroffen worden. Sie waren so schwer verletzt, dass Hassans Männer sie von ihren Schmerzen erlösten. Als sie und Hassan schließlich auch auf mich und Taycan zukamen, schnürte es mir die Kehle zu. Panisch hielt ich den Kopf des verstörten Tiers an meine Schulter gedrückt. Um es am Boden zu halten, hatte ich mich hingesetzt. Schützend warf ich mich nun über den Hals des Hengstes.
»Wartet!«, kreischte ich, als Hassan mit starrem Gesichtsausdruck selbst das Messer ansetzte, um seinen wertvollen Hengst zu töten. Verstört wanderte sein Blick in mein Gesicht, die dunklen Augen traurig und sein Mund verkniffen von unterdrückter Trauer.
»Wenn ich ihn heilen kann«, bat ich ihn mit vor Angst zitternder Stimme, »wenn er wieder gesund wird, darf ich ihn dann behalten?«
Er sah mich schweigend an. Seine Mundwinkel zuckten. Irgendwann erkannte er, dass ich es ernst meinte, und sein Blick wurde auf einmal weich. Es war das Menschlichste, was ich je bei ihm gesehen hatte. Tatsächlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er blickte prüfend über das schwer atmende Tier und wieder zu mir zurück.
»Ich möchte nicht, dass er leidet, Eran.«
»Er wird nicht leiden, mein König, ich werde selbst dafür sorgen«, bat ich ihn eindringlich. »Er wird leben, ich schwöre, dass ich alles dafür tun werde. Bitte, lasst ihn leben!«
Ich legte all meine Kraft in meine Stimme, er musste mir einfach glauben. Deutlich sah ich Zweifel in seinen dunklen Augen. Der Bruch war am rechten Vorderlauf unterhalb des Knies, der Knochen ragte blutig und spitz aus dem schwarzen Fell, der Rest des Beines spreizte sich in unnatürlichem Winkel zur Seite.
Das Blut pochte in meinen Adern. In meiner Verzweiflung schloss ich die Augen und betete zu allen Göttern, die ich kannte. Und ich wurde erhört. Mit einem Seufzen nickte das gefürchtete Oberhaupt der Assassinen und begnadete Taycan, legte dessen Leben in meine Hände. Der kalte Mensch, dem Tod und Leid wie ein Schatten hinter seinem wehenden Kaftan folgten, hatte Mitleid mit einer Kreatur. Und ich war der Schlüssel dazu. »So sei es, Eran, wenn du ihn retten kannst, gehört er dir! Inshallah …«
Meine Schultern sackten nach vorn, so erleichtert war ich. Tränen fielen auf Taycans schwarzes Fell, als ich zitternd seinen schnaubenden Kopf hielt. Der Kloß in meinem Hals war so dick, ich brachte keinen Laut heraus, um meine Dankbarkeit auszusprechen. Ich wusste nur, dass ich alles daransetzen würde, damit mein Taycan wieder gesund wurde. Alles …
* * *
Noch nie war ich emotional und fachlich so gefordert gewesen wie bei diesem Patienten. Die schiere Größe, die Schwierigkeit, ihn stabil und trotzdem ruhig zu halten, die geringe Erfahrung mit der Heilung von Pferden, all dies stand gegen mich. Hassans Männer schienen große Stücke auf mich zu halten, und ich wollte niemanden enttäuschen, am wenigsten mich selbst. Nie werde ich vergessen, wie sämtliche Helfer sich freiwillig unter mein Kommando stellten.
Nachdem ich es geschafft hatte, ihn mit der richtigen Dosis verdünnten Schlangengifts zu betäuben, konnte ich in aller Ruhe sein Bein richten, die Wunde nähen und eine feste Schiene aus Holz und mit in Kalk getränkten Binden basteln. Schließlich band ich sein verletztes Bein nach vorn hoch und hängte es mit Seilen an der Decke auf, damit er es nicht versehentlich auf den Boden stellen konnte.
Nun musste ich die folgenden Stunden abwarten und hoffen, dass er wieder zu sich kommen würde. Ich suchte mir in dieser Nacht meinen Schlafplatz neben Taycan. Als er benommen aufwachte, wurden mir vor Erleichterung die Knie schwach. Und als er vorsichtig begann, Heu zu fressen und Wasser zu trinken, wäre ich fast in Tränen ausgebrochen.
Die Männer klopften mir anerkennend auf die Schultern, und selbst Hassan sah ungläubig nach dem Rechten. Ich glaube, dass ich an diesem Tag in seiner Achtung noch eine weitere Stufe erklommen hatte. Er versicherte mir, zu seinem Wort zu stehen.
Es vergingen viele Wochen intensiver Arbeit und ständiger Angst, Taycan doch noch durch Fieber oder Überlastung zu verlieren. Doch er war jung und noch im Wachstum. Der Knochen schien wieder so stabil zu sein wie vorher. Nach vielen Wochen des Wartens nahm ich ihm erstmals die Schiene ab. Taycan war vorsichtig, er trat kaum auf seinen rechten Vorderhuf und humpelte. Er schien meine Aufmerksamkeit zu genießen und hatte sich im Laufe der Zeit an mich gewöhnt und Vertrauen gefasst. Wir wurden zuerst Freunde, und da er von nun an mir gehörte, wurden wir so etwas wie Partner.
* * *
Kein anderes Ereignis hätte meinen Einfluss an Hassans Hof so stärken können wie die Heilung Taycans. Nicht nur, dass Hassan sich an unsere Abmachung hielt und mir damit einen seiner besten Hengste überließ. Er schien mir seit diesen Tagen überaus gewogen und teilte seine Überlegungen nicht nur mit seinen engsten Vertrauten, sondern auch mit mir – eine Entscheidung, die mir viel Argwohn in seiner Gefolgschaft entgegenbrachte.
In diesem Kreis höchstens geduldet und in Kriegsstrategien völlig unbedarft, hielt ich mich stets mit meiner Meinung zurück. Nur hier und da warf ich einen meiner Meinung nach klugen Gedanken ein, der niemanden in der Runde brüskieren konnte, wenn ich denn gefragt wurde. Bis ich eines Tages die Chance ergriff, meinen Mut zu beweisen – wenn auch nicht ganz freiwillig.
Die schiitischen Nizariten, die sich um Hassan gruppierten und ganze Landstriche für Hassans Kampf gegen die verhassten sunnitischen Landesführer gewannen, behaupteten sich als eine achtbare Größe im eigenen Land. Sultan Saladin konnte ein solch eigenständiges Reich in seinem Land natürlich nicht dulden und erklärte Hassan I‑Shabbah den Krieg. Bald schon kamen die zahlenmäßig überlegenen Truppen des seldschukischen Reichsoberhaupts den breiten Pfad zur Festung heraufmarschiert.
Schon seit Wochen hatten wir uns im Inneren der Festung auf eine lange Belagerung eingestellt. Unsere Tauben wurden wichtige Boten, die uns die Ankunft der Seldschuken auf den Tag genau ankündigten. Die Tauben waren von einem dafür ausgebildeten Assassinen abgerichtet und gezüchtet worden – eine überaus effektive Methode, um Botschaften schnell durchs Land zu schicken. Damit konnten die zahlreichen verstreuten Sympathisanten Hassans ihn schon lange vor dem kommenden Angriff warnen. So hatte er jede Menge Zeit, sich auf eine Belagerung einzustellen, und das tat er auch.
Wasser und Getreide gab es daher bereits seit Wochen im Überfluss, Vieh und Waffen waren in mehrfacher Menge aufgestockt. Mit Iljas’ Hilfe verdoppelte ich meine Wundpräparate, schmerzstillenden Tränke und Instrumente. Wir hatten genug Zeit, sauberes Verbandmaterial zu wickeln und Lappen zu stapeln. Mit Einverständnis von Hassan durfte ich ein kleines Krankenzimmer einrichten, in das bis zu drei Männer gleichzeitig aufgenommen werden konnten. Mit einer spürbaren Anspannung bereiteten sich alle auf einen kommenden Ansturm vor.
Und der kam auch in Form eines gewaltigen Heeres an Seldschuken. Tausende Soldaten des Sultans unter ihrem Anführer, Saladins Statthalter und General Nisam al‑Mulk, strömten die Anhöhen des Gebirgszuges hinauf, auf dem das Adlernest uneinnehmbar thronte. Zu Pferd und zu Fuß quälten sich die Getreuen Saladins in unwirtliche Höhen, um vor den uneinnehmbaren Sandsteinfesten zu stehen, die Alamut wie eine schützende Hülle umgaben.
Die erste Angriffswelle der zahlreichen Bogenschützen verebbte, fast ohne Schaden anzurichten. Dies lag zum einen an den hohen Mauern von Alamut und zum anderen an der Wucht der auf den Zinnen montierten Wurfgeschosse, die für weit mehr Verluste beim Feind sorgten als angenommen. Die zweite Angriffswelle war fast genauso fruchtlos und hinterließ mehr Tote auf seldschukischer Seite als innerhalb der Festung. Die Mauern von Alamut waren so gut wie uneinnehmbar, dies musste der Kriegsgeneral Nisam al‑Mulk irgendwann feststellen. Aber wenn der Feind nicht hineinkam, dann durfte er eben auch nicht heraus. Er befahl seinen Soldaten, sich auf eine lange Belagerung einzustellen.
Während also die Seldschuken für Wochen vor den Toren Alamuts ausharrten, sanken in der Festung der Wasserspiegel und die Laune der Bewohner. Wir kämpften mit einseitiger Ernährung, blanken Nerven und schrumpfenden Vorräten. Jeden Abend bestellte Hassan seine Vertrauten in seine persönliche Kammer ein und wartete auf eine Eingebung.
Nach fast acht Wochen Belagerung plagte uns der Lagerkoller. Die Krankenzahl ging schlagartig nach oben, vor allem aufgrund ausgeschlagener Zähne und Nasenbeinbrüche, die von der Vielzahl an Raufereien untereinander herrührten. Bei allen Männern waren die Nerven zum Zerreißen gespannt: Lieber würden sie kämpfen, als untätig zu warten.
Am achtundfünfzigsten Tag der Belagerung rief Hassan I‑Shabbah seine engsten Vertrauten zu sich, um eine Lösung des Konflikts herbeizuführen. Wir trafen uns in seiner privaten Kammer, wie immer, wenn er ungestört sein wollte. An diesem Tag waren es nur sechs Vertraute, der Rest befand sich in der Krankenkammer. Die Stimmung war gereizt, und die Männer wirkten angespannt. Der König selbst schritt nervös vor seinem Bett auf und ab, die Arme auf dem Rücken. Es war das Bett, in dem ich ihn damals mit Isaak sterbenskrank aufgefunden hatte. Mit seinem schweren Baldachin aus dunkelrotem Brokat beherrschte es den Raum, der ansonsten nur mager ausgestattet war.
Die Kammer war abgedunkelt, um die Hitze nicht in das Gemäuer zu lassen. Nur einige Öllampen erhellten das ansonsten dunkle Zimmer und tünchten die Gesichter der Männer in eine geheimnisvolle Farbe. Fast wie bei einer Verschwörung hatten wir uns von dem Rest der Welt abgenabelt. Meine Stellung innerhalb dieses Zirkels war etwas Besonderes. Trotz meines Alters, meines Geschlechts – keiner dort ahnte etwas davon, dass ich weiblich war – konnte ich auf einen Mann Einfluss nehmen, den alle Perser und die Feinde der Perser fürchteten wie die Pest. Er war aus Fleisch und Blut, natürlich, und doch umgab ihn eine Aura des Übermenschlichen. Oft kam er mir vor, als würde er die Gedanken der Menschen manipulieren. Auch die meinen, wie ich zugeben musste.
Gespannt blickte ich in die Runde. Jeder trug die Lage mit Fassung, aber nicht alle konnten ihre Gefühle so verbergen wie Meister Shi Fu, dessen Gesicht im Schein der Öllampen so maskenhaft wie seine Buddha-Statuen wirkte. Vor allem Nabil al‑Hakam war seine innere Unruhe anzusehen. Er forderte Hassan gereizt auf, ohne Rücksicht auf Verluste einen Ausfall zu wagen.
»Wir könnten einen Überraschungsangriff starten. Keiner von den verdammten Seldschuken erwartet, dass wir auf einmal aus den Toren preschen mitten in die überraschten Gegner hinein«, rief er aufgeregt in die Gruppe und warf seine Arme in die Luft, um seinem Frust Ausdruck zu verleihen. Er erntete manch zustimmendes Nicken, aber auch skeptische Blicke. Darunter war auch Hassan, der die Arme vor der Brust verschränkte.
»Sie würden uns mit ihren Pfeilen sofort niedermähen, wir hätten keinerlei Schutz, und die Tore wären offen«, entgegnete er auf Nabils gewagten Vorschlag und nickte ihm anerkennend zu, »aber dein Mut beeindruckt mich, mein Freund.«
Bedächtig drehte er sich zu den anderen Vertrauten um und hob seine kräftige Stimme: »Habt Geduld, meine Freunde, irgendwann werden auch die Seldschuken merken, dass wir mehr Willensstärke haben als sie, und unverrichteter Dinge abziehen. Vertraut mir!«
»Aber ich werde nicht noch Monate untätig hier ausharren, es macht mich wahnsinnig!«, ereiferte sich Nabil hitzig, und die anderen Prinzen stimmten ihm lauthals zu. Nur Kang Shi Fu hielt sich zurück. Er verfolgte das Geschehen aus einer gebührenden Distanz.
Ich hielt mich unauffällig in der Nähe der Fenster auf. Von hier aus fiel es mir leichter, die Lage auszuloten und die Beteiligten abzuschätzen. Doch jetzt holte ich tief Luft, trat ein wenig vor, um wahrgenommen zu werden, und hob die Hände. Tatsächlich drehten sich einige zu mir um und musterten meine schmale Gestalt, darunter auch der König. Erwartungsvoll zog er die Augenbrauen hoch.
»Ich habe eine Idee, die nicht gleich einer Horde mutiger Männer bedarf, sondern nur eines einzigen.« Meine Stimme klang unsicher, auch in meinen Ohren. Jetzt verstummten auch die Letzten in der Runde. Hassan munterte mich auf weiterzusprechen.
»Dort unten lagern Hunderte von Männern mit all ihren Dienern und Schergen und Zelten. Ein Einzelner mehr fällt nicht besonders auf. Was wäre, wenn wir nur einen Mann ins Lager schleusen, der gezielt den Wesir Nisam al‑Mulk tötet?«
Ein Raunen ging durch die kleine Kammer.
»Das wäre doch genau unser Weg …«, hörte ich eine Stimme von weiter hinten, die mich ebenfalls ermutigte weiterzusprechen.
»Wir müssten nur jemanden unbemerkt aus der Festung schleusen, der sich dann in sein Zelt schleicht. Am besten bei Nacht, wenn al‑Mulk schläft«, erklärte ich mit etwas mehr Selbstbewusstsein. »Das Problem ist nur, wie kommt er wieder zurück?« Ich blickte fragend in die Runde, denn so weit hatte ich noch nicht gedacht.
»Gar nicht«, sagte Nabil unwirsch. »Er wird getötet, auf der Stelle, und wenn er Glück hat, mit seiner Haut am Fleisch.«
»Ein Selbstmo’dkommando?«, fragte Shi Fu nachdenklich. Es war das erste Mal, dass mein Lehrer sich einmischte. Ermutigt straffte ich meinen Körper.
»Klar, wenn derjenige geschnappt wird. Aber wenn er es schafft, unbemerkt wieder aus dem Zelt herauszukommen, dann könnte er auf demselben Weg zurück, wie er auch aus der Festung herausgekommen ist«, entgegnete ich und blickte triumphierend in die Runde.
Alle blickten mich an, als hätte ich gerade erklärt, dass ich fliegen könnte. Nabil, diese giftige Schlange, schürzte schließlich unfreundlich die Lippen. »Und wie sollte das ein Mann bewerkstelligen, einfach so dort rein- und rauszumarschieren?«, spottete er zynisch. »Geschweige denn einen Mann zu töten, der inmitten von blutrünstigen Seldschuken bestens bewacht wird?« Seine Stimme verhärtete sich mit jedem Wort.
»Nun«, wartete ich, ohne meine Fassung zu verlieren, mit dem zweiten Teil meiner Idee auf, »als die Getreidespeicher gebaut wurden, hat man Luken vorgesehen, durch die das Getreide von außen in die Kammern gefüllt werden kann. Dort hindurch könnte jemand nach draußen gelangen, völlig unbemerkt, weil die Luken in den Erdboden eingelassen sind. Und auf demselben Wege auch wieder herein.«
Jetzt brach großes Gelächter aus, und ich spürte, wie die Hitze in mein Gesicht schoss. Besonders Nabil, dieser arrogante Pfau, wieherte wie eine rossige Stute. Was war eigentlich mit ihm los?
»Und wer von uns soll durch die Luke passen, du Hornochse? Die ist für Getreide gemacht und nicht für einen Menschen!«, prustete er los und alle anderen lachten mit ihm.
Er hatte recht, es war nur eine schmale Öffnung, gerade groß genug für ein Kind … Bevor ich nachdenken konnte, platzte es aus mir heraus: »Ein Kind oder ein schmächtiger Junge würde durchpassen!«
Wieder war es Hassan, der für Ruhe sorgte, indem er herrisch die Hand hob. Mit entschlossenem Blick sah er mich aus dunkel umschatteten Augen an und nickte mir anerkennend zu. »Deine Idee ist gut, Eran, an welchen Knaben hattest du gedacht?«
Seine Worte ließen mich ein wenig zusammenzucken. So weit hatte ich die Idee wirklich nicht ersonnen. Wieder einmal hatte sich der Gedanke gerade eben in meinem Kopf geformt und war unbedacht aus meinem Mund gerutscht. Welcher Junge wäre fähig, einen Mann kaltblütig im Schlaf zu töten? Und sich nachts durch einen Getreideschacht zu zwängen?
Nachdenklich schloss ich die Augen. War es möglich? Eine Welle von unerklärlichem Selbstbewusstsein musste mich erfasst haben, als ich meine Augen wieder öffnete und in die belustigten Gesichter um mich herum sah. Vielleicht fühlte ich gerade deshalb meinen eisernen Willen wachsen. Mit einem tiefen Atemzug presste ich trotzig heraus: »Ich, mein König, ich werde es tun!« Meine Hände ballten sich dabei zu Fäusten, die ich in meiner Aufregung gegen den Hals presste, um das Pochen dort zu stoppen.
Nabil warf die Hände in die Luft. »Ein Knabe, der Menschen heilt, will Assassine spielen! Geh wieder zurück in deine Träume, Kleiner!«
Die meisten lachten mit ihm, keiner traute mir so einen gewagten Coup zu. Nur Shi Fu bedachte mich mit einem nachdenklichen Ausdruck in seinen schmalen Augen, der mir genug Vertrauen gab, um weiterzusprechen.
»Ich weiß, wie ich einen Menschen töten kann«, warf ich mit stolz gerecktem Kinn dem Einwand Nabils entgegen. »Ich habe in Bagdad unter Bettelkindern gelebt. Wenn ich mich nicht durch den Schacht zwängen und leise in der Dunkelheit bewegen kann, wer denn sonst?«
Zutiefst überzeugt von meinen Fähigkeiten, faltete ich meine Arme vor der Brust. Jetzt, wo ich es in die Welt posaunt hatte, war ich auf einmal wirklich fest davon überzeugt, dass ich es schaffen konnte.
Hassan grübelte und zögerte. Traute er mir das nicht zu? Schließlich wandte er sich mit einem nachdenklichen Ausdruck, aber fest entschlossener Stimme an Nabil und Shi Fu.
»Ihr beiden werdet Eran zeigen, wie man sich unbemerkt unter Feinden bewegt. Zeigt ihm, wie er seinen Gegner lautlos töten kann. Gebt ihm eine Waffe, mit der er umgehen kann.« Und den restlichen Männern befahl er ebenso knapp: »Und ihr werdet heute den Zugang zum östlichen Getreidespeicher freimachen, direkt neben dem Eingangstor.«
Müde stützte er die Hände in seine Hüften und blickte ernst in die Runde, die ihm atemlos zuhörte. »Es ist eine gute Chance, und wenn Eran Erfolg hat, dann werden sie entweder führerlos abziehen oder mit einer Wut im Bauch versuchen anzugreifen, beides soll mir recht sein. Aber es wird endlich Bewegung in diese verdammte Situation kommen …«
* * *
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, meine Kehle war trocken, und meine Beine gehorchten mir nicht. Worauf hatte ich mich da eingelassen? Innerhalb weniger Tage hatten mir Shi Fu und Nabil gezeigt, wie ein Assassine dachte und handelte. Wie er sich bewegte und einen Menschen lautlos tötete.
Jetzt stand ich im Dunkeln in diesem Speicher bis zu den Knien im Getreide und sah die schwarze Öffnung des Schachtes vor mir. Er war so eng wie meine Kehle, nur ein klein wenig Licht fiel durch den Luftauslass über mir herein und erhellte die Szene notdürftig. Meine Augen mussten sich schnell an die Dunkelheit dort drinnen gewöhnen, denn auch im Schacht war es völlig dunkel.
Shi Fu hatte mich angewiesen, enge schwarze Kleidung zu tragen. Mein Kopf war in ein schwarzes Tuch gewickelt, nur schmale Schlitze waren für meine Augen frei gelassen. Keine Stelle meines Körpers war im Schatten zu erkennen, selbst die Füße steckten in schwarzen Strümpfen. Der Spitzdolch, der dem Opfer durchs Auge ins Hirn gestoßen werden musste, steckte in einem verhüllten Schaft an meinem Gürtel, eine Spezialanfertigung Nabils. Shi Fu und Nabil ließen es sich nicht nehmen, mich bis zum Eingang des Schachtes zu begleiten, wo sie auf mich warten würden, bis ich zurück war.
»Viel Glück, E’an!«, wünschte mir Shi Fu, der das R in meinem Namen wie immer einfach verschluckte, »Zhù nĭ haˇo yùn«, »viel Glück« ergänzte er und verneigte sich höflich vor mir.
»Xiè xiè! – danke, mein Freund«, antwortete ich, und wir gaben uns die Hände.
Ein letztes Mal holte ich noch tief Luft und zwängte mich dann entschlossen in den engen viereckigen Schacht. Er war nicht lang, aber ich musste mit den Händen voraus eintauchen, um die Luke vorn am Eingang zu öffnen. Meine Bewegungsfreiheit war damit extrem eingeschränkt, von meiner Angst, einfach mittendrin stecken zu bleiben, ganz zu schweigen. Die unverschlossene kleine Tür am Ende des Schachtes ließ sich jedoch leicht öffnen. Obwohl mein Körper so schmal war, blieben meine Hüftknochen am Rahmen der engen Öffnung stecken. Mit Gewalt zog ich mich mit außen aufgestützten Armen hindurch, wobei ich mir die Haut am Hüftknochen abschürfte.
Der Weg zum Zelt gestaltete sich einfach. Kein Mensch erwartete einen Ausfall der Nizariten aus den schützenden Mauern der Festung, schon gar nicht bei Nacht. Trotzdem war ich vorsichtig. Mein gesamter Körper war gespannt wie eine Bogensehne, und ich achtete auf jeden Schritt. Ich hörte die Belagerer laut schwatzen und trinken, als wäre es eine Feier und keine Belagerung. Verführerisch zog mir der Duft von gebratenem Fleisch in die Nase. Dies war bei unseren Leuten eine seltene Speise geworden, die Portionen waren zudem rationiert. Mein Mund wurde wässrig, und ich schluckte ärgerlich. Schalte deine Gedanken aus, konzentriere dich auf dein Ziel! Shi Fu war ständig mit seinen Anweisungen in meinem Hinterkopf.
Die Beschreibungen des Zeltes und des Wesirs waren Teil meiner intensiven Vorbereitung. Es wäre fatal, würde ich versehentlich den Falschen töten. Dort, zwischen den beiden kleineren Zelten, blieb ich kurz stehen und erspähte ein dunkleres Zelt mit rotem Banner. Wie blödsinnig, so auf sich aufmerksam zu machen, dachte ich bei mir. Aber er musste sich sicher fühlen unter so vielen seiner Soldaten. Und einen irren Knaben, der mitten in der Nacht allein ins Lager schlich … wer rechnete schon damit? Wieder überrollte mich die Angst wie eine kalte Welle. Einatmen, ausatmen, zittrig zählte ich die Sekunden, bis sich mein jagender Puls wieder beruhigt hatte.
Tatsächlich standen eine Menge Zelte hier herum. Mindestens fünfzig Mann zählte ich allein hier auf der östlichen Seite des Bergkamms. Mit all meiner Kraft und Shi Fus guten Ratschlägen pirschte ich vorsichtig weiter. Die Steine unter meinen Socken knirschten kaum, als ich im Schutz der Dunkelheit langsam in einem Bogen unterhalb der Zelte vorbeischlich. Die Nacht war mondlos und kalt, ideal für mein Vorhaben. Vom Lagerfeuer geblendet, sahen die Belagerer nicht weit in die sie umgebenden Schatten hinein.
Im Bogen schlich ich mich an die Rückseite des Zeltes. Ich konnte nur inständig hoffen, dass der Wesir nicht gleich hinter der Zeltwand schlief. Ein entferntes Schnarchen zeigte mir an, dass Nisam al‑Mulk den strategisch richtigen Platz an der Hinterseite des Zeltes gewählt hatte.
Mit dem messerscharfen Dolch schnitt ich eine Linie in der Höhe meiner Brust bis hinunter zu den Füßen in die Leinwand und schob mich schnell hindurch. Atemlos blieb ich stehen und ließ meine Augen sich an das gedämpfte Licht im Innern gewöhnen. Links neben mir konnte ich die Schlafstätte mit den Fellen erkennen und darauf den Umriss eines voluminösen Körpers, dessen Brust sich gleichmäßig hob und senkte. Rechts von ihm stand eine Kerze, bis zur Hälfte heruntergebrannt. Ich hielt eine Weile still, bis mein Atem wieder gleichmäßig und ruhig ging. Achte auf deine Atmung, hatte mir Nabil beigebracht, und bisher waren Herzschlag und Atmung in erstaunlichem Einklang. Mit dem Dolch in der Hand bewegte ich mich langsam auf die schlafende Gestalt zu. Nur noch wenige Meter.
Schwach machte ich die Details des Wesirs aus. Gelockte graue Haare, einen dicken Wanst und eine kleine Statur – die Beschreibung passte. Jetzt stand ich neben ihm, meine Hand mit dem Dolch in der Rechten, die andere Hand weilte über dem halboffenen schnarchenden Mund. Dann ging alles ganz schnell: Ich hielt ihm den Mund zu, während ich mit der erhobenen Rechten den Dolch in seinen Kopf stieß. Der dicke Körper bäumte sich auf, dann erschlaffte er auch schon, der Tod kam schnell und ohne großes Aufsehen.
Ich empfand es selbst als unheimlich, wie leicht mir alles von der Hand ging, als hätte ich das schon öfter gemacht. Mein Atem entwich pfeifend aus meinem Mund, die Kerze flackerte. Ich sollte sie ausmachen, schoss es mir durch den Kopf, sonst käme noch jemand ins Zelt.
Die Augen krampfhaft auf den Zelteingang gerichtet, schlich ich mich um die Schlafstätte herum und stieß auf einmal mit den Füßen gegen etwas Weiches, Warmes. Ein Ächzen kam von unter mir, dann hörte ich eine zarte Stimme.
»Mein Herr, was ist …?« Es war das verschlafene Krächzen eines Kindes.
Verdammt! Auf einmal waren mein Herzschlag und meine Atmung ganz und gar nicht mehr im Einklang. Ich stand vor Entsetzen wie versteinert da. Im selben Moment bemerkte der Junge, der am Fußende des Bettes geschlafen hatte, dass ein Eindringling im Zelt war. Ich hörte nur, wie er Luft holte, um zu schreien, und krallte instinktiv meine Hand um seine Gurgel. Seine Finger umklammerten die meinen, um sie wegzuziehen, und durch die Wucht meiner Bewegung fielen wir beide wie ein nasser Sack auf den Boden. Dabei krachte der Kopf des Kindes gegen den Holzpfeiler, der das Zelt aufrecht hielt. Es war kein heftiger Aufprall, aber offensichtlich genug für ihn, um die Besinnung zu verlieren.
Draußen vor dem Zelt erschallte ein leiser Ruf. Ich erstarrte. Jetzt raste mein Puls, Herzschlag und Atmung waren wieder da. Schnell rappelte ich mich auf und löschte die Kerze. Ein Kopf schnellte durch den Zelteingang. »Alles in Ordnung, Sahib?« Es war wohl die Wache vor dem Zelt.
»Psst«, flüsterte ich drängend, »nicht so laut, der Wesir schläft!« Hoffentlich hörte sich meine Stimme nicht allzu fremd an. »Ich hatte etwas gehört!«, flüsterte es jetzt ebenso zurück.
»Ich habe geträumt! Alles gut …«, beruhigte ich ihn wieder flüsternd, um meine Stimme zu verfremden, und er wandte sich tatsächlich mit einem Grunzen wieder nach draußen. Meine Güte, das war knapp …
Mit größter Anstrengung versuchte ich, meine holprige Atmung wieder in den Griff zu bekommen. Es war stockdunkel im Zelt. Aber da meine Augen sich rasch an die Dunkelheit gewöhnten, fand ich schnell den Schlitz in der Zeltwand wieder. Um kein Risiko einzugehen, nahm ich denselben Weg zurück, öffnete die Luke und zwängte mich mit den Füßen voraus wieder hinein, damit ich sie mit den Händen hinter mir schließen konnte. Die enge Öffnung hatte noch einmal ein Stück Haut an meiner Hüfte abgeschürft. Aber das spürte ich in meinem erregten Zustand gar nicht mehr.
Kaum war die Luke zu, merkte ich, wie mich jemand an den Füßen in den Getreidespeicher zog. Es war Shi Fu, und im blassen Licht sah ich ihn zum ersten Mal grinsen, von einem Ohr zum anderen. Ohne ein Wort zu sagen, drückte er mich fest an sich und haute mir dabei auf die Schulter. Es war gut, dass er mich stützte, denn meine Beine waren weich wie Butter. Ich war wieder zurückgekommen, ich hatte es tatsächlich geschafft! Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich getötet – ich konnte es kaum fassen! Ein Leben für das von vielen. Ich genoss die Anerkennung der anderen Assassinen, die mir abwechselnd auf die Schultern klopften oder die Hand schüttelten. Es war berauschend.
* * *
Tatsächlich wurden die Zelte der Seldschuken am Tag nach dem Bekanntwerden des gewaltsamen Todes von Nisam al‑Mulk und seines unglückseligen Dieners abgebaut, und die Truppen zogen unverrichteter Dinge wieder ab. Ob es daran lag, dass Hassan den Seldschuken eine Ablöse bezahlte oder dass es einem Assassinen gelungen war, in ein Lager einzudringen und den Wesir inmitten seiner eigenen Leute zu töten, das hatte ich leider nie herausgefunden.
Der Mut musste die Seldschuken so schnell verlassen haben wie die Seele des Wesirs seinen Körper. Meine eigene Rolle in diesem Drama empfand ich im Nachhinein als nicht ganz so mutig, immerhin hatte der Wesir geschlafen, und sein Diener war noch ein Kind gewesen. Beinahe hätte ich ihn auch töten müssen, wenn er zu meinem Glück nicht bewusstlos geworden wäre. Mein schlechtes Gewissen hatte mich eingeholt. Ich haderte damit, einen Menschen kaltblütig getötet zu haben. Mein Schlaf war gequält von Schweißausbrüchen und immer wiederkehrenden Bildern.
Die Männer um Hassan herum sahen dies allerdings ganz anders. Den Wesir im Schlaf zu töten war ein echtes Meisterstück. Sie ermunterten ihren König, mir diese Ehre einer Assassinenausbildung zuteilwerden zu lassen als Belohnung für meine Dienste. Diese unglaubliche Anerkennung hatte zuerst gereicht, mir meine Schuldgefühle abzunehmen. Es sei Allahs Wille gewesen, so sagten sie.
Tatsächlich war dies nur der Anfang einer tiefen Selbstkritik, denn ich begann bald mit Hassan zu hadern. Ich sah keinen der Prinzen, die sich oft auf Allah beriefen und so ihr Tun rechtfertigten, jemals beten. Es schien, als wäre ihnen ihr König näher als Allah.
Der Nizaritenkönig ließ mich gleich am Morgen nach dem ersten Gebet zu sich in das Privatgemach rufen, das er immer für seine geheimen Treffen benutzte. Nur Nabil stand neben ihm, ein seltsames Lächeln im Gesicht. Fast schien es mir, als hätte ich einen großen Fehler gemacht, und bereitete mich innerlich auf eine Strafe vor. Aber der König verlangte nur, dass ich ihm noch mal mein nächtliches Abenteuer schilderte. Dabei blieb er direkt vor mir stehen und blickte mich mit diesen Augen an, vor denen ich irgendwie Angst hatte. Es war die Art, wie er mich anblickte.
Ich senkte meinen Kopf, während ich sprach, denn seine Pupillen waren so schwarz wie der Rest der Augen, und ich fühlte mich, als würde ich in einen tiefen Schlund blicken, in dem es kein Licht gab.
Immer wieder ermunterte er mich, von dem Wein zu kosten, den er bereit gestellt hatte. Da ich meine Sinne nicht vernebeln wollte, lehnte ich dankend ab, nahm aber die datiln und den Mokka an, die er mir großzügig reichte. Am Ende der Geschichte gab ich zu, dass ich die Seele des Wesirs betrauere, und er zog fragend seine schwarzen Augenbrauen hoch.
»Warum trauerst du um den Wesir, aber nicht um die vielen Soldaten, die zuvor gefallen sind?«, fragte er mich schließlich.
»Er lag wehrlos da und hat mir nichts getan«, antwortete ich kleinlaut. Jetzt hob ich den Kopf und sah ihm wieder in die schwarzen Augen.
»Und wäre er vor dir gestanden mit seinem Schwert?«, hakte er noch einmal nach.
»Dann würde ich jetzt wohl nicht mehr leben«, entgegnete ich entschlossen und reckte mein Kinn.
Er hatte recht, ich wäre von einem Mann wohl mit Leichtigkeit getötet worden.
»Sie hätten dich gepackt, dir die Haut abgezogen und deinen Kopf über meine Mauern geworfen«, führte er weiter aus. Irritiert schluckte ich und sah wieder auf den Boden. »Schau mich an, Eran!« Ich musste hochblicken in diese schwarzen Augen, die so hart und doch so klug waren. Jetzt musterten sie mich mit einer Intensität, die mir die Haare zu Berge stehen ließ. Was sah er in mir?
»Du bist ein tapferer und gewandter Knabe, Eran. Was du in dieser Nacht getan hast, hat vielleicht vielen Menschen hier das Leben gerettet. So hat es nur einen Großwesir getroffen.« Er legte mir seine rechte Hand auf die Schulter. »Die Seldschuken haben die Belagerung aufgegeben. Wir haben dieses Mal gesiegt, aber sie werden wiederkommen. Und vielleicht müssen wir dann wieder einen Mann töten, damit andere überleben können. Oder einen anderen Wesir.«
Wie schaffte er es nur, dass ich mich fühlte wie eine Maus vor einer Schlange? Ich konnte den Blick nicht von ihm nehmen und nickte nur ergeben. Mein Kopf begann zu surren, Kreise erschienen vor meinen Augen. Ich hörte mich selbst atmen, laut und unnatürlich schnell. Der Druck auf meiner Schulter wurde fester, heiß und schwer.
»Wirst du beim nächsten Mal auch wieder töten, um uns zu helfen, Eran?«
Mein Kopf nickte nur mechanisch, und ich stieß ein heiseres »Ja« heraus. Wieso sagte ich das? Wo war mein Verstand geblieben?
»Dann werde ich dich zu einem Assassinen ausbilden, einem Krieger wie Nabil Al‑Hakam, und du wirst eines Tages frei sein«, hörte ich seine Stimme. »Ein freier Mann wirst du sein und mir als Prinz dienen. Hast du mich verstanden, Eran?«
Damit nahm er seine zweite Hand und legte sie mir auf die andere Schulter. Seine Augen starrten immer noch in mein Innerstes, und ich fühlte mich seltsam hohl.
»Ja, Herr …«, brachte ich nur heraus, bevor meine Beine weich wurden, ich auf den Boden sackte und dabei stammelte: »Danke, mein Herr …«
Mein Körper und mein Geist waren so schwach, als hätte ich schweres Fieber. Meine Knie und Handflächen stützten mich auf dem weichen Seidenteppich, und mein Atem ging nur stoßartig. Mir wurde allmählich bewusst, dass ich gerade versprochen hatte, ein Assassine zu werden.
Der Bann seines Blickes war gelöst, ich konnte wieder frei atmen und mich bewegen. Und doch war es mir, als hätte mir ein Fremder gerade seinen Willen aufgezwungen. Jemand, der mächtiger war als meine eigene Seele. Ein Fremder, der von meinen Gedanken Besitz ergriff. Wie war das möglich?
Nabil half mir auf meine wackligen Beine und grinste dabei, als hätte ich tatsächlich zu viel Wein erwischt. Wütend und noch ein wenig benommen stieß ich ihn von mir weg.
»Was ist mit mir passiert?«
Jetzt lachte er. »Du hast gerade deine Seele verkauft. Und ich zeige dir, was du dafür tun musst.«
In meinen Ohren klang sein Lachen wie Hohn.