Kapitel 13

London im September 1305

Sie hatten mich wieder in dieselbe faulige Zelle gebracht. Der Kübel mit dem abgestandenen Wasser stand noch immer an derselben Stelle. Sie hätten doch in der Zwischenzeit wenigstens sauber machen können, schoss es mir durch den Kopf. Mach dich nicht lächerlich, Enja, das hatten die niemals vor.

Ich hatte vier Wochen Zeit, um nachzudenken. Vier Wochen, um einen Weg hier heraus zu finden. Wie hatte das alles nur passieren können? Ich hatte Edward doch meine Unterstützung angeboten? War es nur die Tatsache, dass ich eine Frau war, oder hätte ich ihm nicht mit dem zukünftigen Schottenkönig drohen sollen?

Meine Wut wurde nur noch von meiner Verzweiflung übertroffen und der Sorge darüber, hier in London zu sterben und meinen Clan allein zu lassen. Ich hatte versagt. Wenn ich mein eigenes Leben nicht einmal retten konnte, wie sollte ich dann einen ganzen Clan retten?

In der winzigen Zelle ging ich mit kleinen Schritten auf und ab. Irgendetwas musste ich tun, mich bewegen, schreien oder meine Faust in die Wand schlagen. Aber es half nichts, ich konnte es nicht ungeschehen machen und schalt mich selbst eine Idiotin.

Hals Reaktion auf das Urteil zerriss mir fast das Herz. Beinahe wäre er über die hölzerne Absperrung gesprungen und hätte mich mit Waffengewalt aus dem Saal geholt. Ich hatte kaum merklich den Kopf geschüttelt und ihm damit signalisiert, dass wir eine andere Lösung finden mussten.

Doch je mehr Zeit verstrich, desto verzweifelter wurden meine Gedanken. Wütend schlug ich mit der Faust in den groben Fels. Der stechende Schmerz tat gut und klärte meine irrwitzigen Gedanken. Die Knöchel waren bereits blutig und verschorft. Meine einzige Hoffnung war Hal. Er würde mir helfen, da war ich mir sicher. Ihm musste einfach etwas einfallen.

Aber der Tower war uneinnehmbar. Es waren immer zwei Wachen auf ständiger Patrouille, zwei weitere saßen vorn in der Wachstube. Die Zeiten der Rundgänge waren nicht regelmäßig, die Durchsuchung der Zellen kam unangekündigt, und das Essen wurde nie zur gleichen Zeit gebracht. Hier verrichtete jemand seinen Dienst äußerst gewissenhaft, und mir wurde langsam klar, warum der Tower von London so berüchtigt war: So schnell kam hier niemand raus, der nicht rausdurfte.

* * *

Hier unten verschwammen die Tage und Nächte, hier ging weder die Sonne auf noch unter. Daher verbrachte ich die wachen Stunden mit einer Art Meditation, die mich die bedrückende Zeit überstehen ließ. Oder ich versuchte mich mit kleinen Übungen körperlich fit zu halten, was in diesem kleinen Raum kaum möglich war. Aber wenigstens lenkten meine Kraftübungen mich für einige Zeit von der Eintönigkeit ab.

Nach etwa zwei Wochen wurde ich von Lärm vor meiner Zelle geweckt. Es hörte sich an wie die polternde Stimme eines Mannes, der zum einen die Soldaten, dann den König und schließlich Gott selbst verfluchte und das in einer Sprache, die mir ziemlich bekannt war: Gälisch!

Aufgerüttelt rannte ich zur Tür und starrte durch das vergitterte Guckloch. Wenn es der war, für den ich ihn hielt, sollte er nicht hier sein, nicht im Tower von London!

»Sir William Douglas!«, rief ich laut und klammerte mich an die Gitterstäbe. »Was macht Ihr denn hier in diesem Loch? Gibt es in den Highlands keinen Uisge beatha mehr?«

Er drehte sich zu mir herum und riss dabei die beiden Soldaten, die ihn begleiteten, einfach mit sich. Der kräftige Mann ging noch ein paar Schritte auf mich zu, aber die englischen Schergen hielten ihn gewaltsam zurück.

Der alte Laird William Douglas, Vater von James, stand leibhaftig vor mir. Er war schlanker, als ich ihn in Erinnerung hatte, aber immer noch ein mächtiger und großer Mann. Er zog die buschigen Augenbrauen zusammen und blinzelte zu mir herein. Seine geröteten Augen starrten mich nachdenklich an. Erst nach ein paar Augenblicken erkannte er mich und schrie in seiner lauten und schon ziemlich heiseren Stimme: »Lady Enja, was macht Ihr denn hier?« Dabei schüttelte er den Kopf mit der zerzausten grauen Mähne, die ihm bis auf die Schulter fiel. Ich hörte sein Bedauern darüber heraus, mich hier in diesen Mauern wiederzufinden. »Ich hatte keine andere Wahl, als diesen dreckigen englischen Bluthunden mein Leben in die Hand zu geben. Aber für Euch ist das hier kein Platz!«

»Die Engländer haben mich verhaftet und wollen mich als Hochverräterin hinrichten. Ich hatte nicht einmal die Chance, mich richtig zu erklären«, platzte es wütend aus mir heraus. »Solltet Ihr dem Gericht vorgeführt werden, nehmt Euch lieber keinen Advokaten, der macht alles nur noch schlimmer …«

Die Soldaten versuchten, William weiter den Gang entlangzuzerren, aber der ließ sich nicht einen Zentimeter wegbewegen. Ernst und enttäuscht blickte er mich an und deutete mit dem Kopf den Gang hinunter.

»Ich bin bereits verurteilt. Allein für meine Meinung und meine Einstellung zur englischen Krone gelte ich bereits als Verräter. Die Engländer machen sich vor Angst in die Hose, dass die Schotten einen eigenen König aufstellen könnten!« Verächtlich spuckte er aus, direkt vor die Füße eines der beiden Soldaten, der langsam die Geduld zu verlieren schien und nach Verstärkung schrie.

»Sie bringen mich gerade zur Tortur, sie werden mich so oder so töten«, übertönte Williams gewaltige Stimme das Geschrei der Soldaten, »ich werde hier drin sterben, und ich werde mit Stolz meiner geliebten Eleanore folgen. Diese Schweine haben sie auf dem Gewissen, einfach erschlagen haben sie sie, und Matthew, meinen kleinen Jungen …« Die letzten Worte fauchte er nur noch, Bitterkeit verschlug ihm die Stimme, und die beiden Soldaten zerrten wieder an seinen Armen. Einer schlug sogar mit einem Knüppel auf ihn ein. Er verfluchte und verdammte die englische Krone, während die beiden Soldaten ihn den Gang entlangzerrten.

»Wo sind James und Hugh?«, rief ich ihm noch hinterher, als er fluchend vorwärtsstolperte, meine Hände umklammerten verzweifelt die Gitterstäbe. Mit einem wilden Blick schaute er zurück und rief mir zu: »Ich weiß es nicht, sie wurden weggebracht, aber ich habe keine Ahnung, wohin. Vielleicht leben sie noch …«

Und damit war er aus meinem Sichtfeld verschwunden. Seine Worte hallten in meinen Ohren nach wie in einer tiefen Höhle. Vielleicht leben sie noch! Wenn James und Gordon noch lebten, wo sind sie dann? Wären sie dann nicht längst zurückgekehrt, um ihrem Vater zu helfen? Oder waren sie vielleicht in ein anderes Gefängnis verlegt worden? Oft wurden junge Männer als Arbeitskräfte für die zahlreichen Kriegsbauten der Krone missbraucht. Da der Vater für seine Schuld mit dem Tod bezahlen musste, konnte man seine Söhne nicht für dasselbe Verbrechen hinrichten. Aber wenn sie in ein Arbeitslager gesteckt worden waren, wäre ihr Tod auch dann irgendwann die unabwendbare Folge.

Meine verkrampften Hände waren kalt geworden. Nachdenklich legte ich meine Stirn auf die Fäuste, mit denen ich noch immer die Gitterstäbe umklammerte, um sie zu kühlen. Ich musste hier raus. Ich musste herausfinden, wo die beiden Männer waren, und ihnen helfen. Würde ich an irgendeinen verfluchten Gott glauben, dann würde ich jetzt ein Gebet sprechen für die Seele von William, für die seiner Kinder und für mich …

* * *

Eine Heilerin bestätigte am Morgen der geplanten Hinrichtung, dass das königliche Urteil vollstreckt werden durfte. Die Nachricht zog wie ein Lauffeuer durch die Stadt und ließ die Menschen in eifriger Vorfreude zum Marktplatz streben. Passend zum Anlass zeigte sich der englische Himmel bedeckt. Die ungewöhnlich warmen Sommertage in London waren mit einem heftigen Gewitter beendet worden. Eine herbstliche Nässe hatte London mit einem grauen Schleier überdeckt, der die Menschen nach der Hitze durchatmen ließ.

»So ein Pisswetter für diese verdammte Hinrichtung«, schimpfte Hal, der am Ende des Marktplatzes unter einem kleinen Vordach stand, und zog seinen Fuß aus einer Pfütze zurück, in der sich der Dreck der Straßen sammelte. Hier am Marktplatz hatten sich schon zahlreiche Schaulustige eingefunden, um den Höhepunkt der Woche mit eigenen Augen mitzuerleben. Ein paar Vögel suchten in den Pfützen Würmer, Schnecken und Abfälle. Sie ließen sich nicht einmal im Regen vom Fleddern abhalten.

Zum ersten Mal sollte in London eine Frau den Tod eines Hochverräters sterben. Eine Frau, eine Verräterin der englischen Krone, die einen höchst grausamen und langsamen Tod sterben sollte, setzte selbst den faulsten Hintern in der Stadt noch in Bewegung.

Neben Hal stand Kalay, eine hoch aufgeschossene, schlanke Frau mit rotblonden Haaren, die in einem dicken Zopf bis auf den Rücken fielen. Ihre grauen Augen streiften immer wieder über die Männer und Frauen, die sich hier versammelt hatten. Sie trug das einfache Gewand der Handelsleute, eine Tunika, die in der Taille von einem Gürtel gehalten wurde, und ein Rock, der bereits deutliche Tragespuren zeigte und am Saum einige Fäden zog. Trotzdem war ihre Kleidung sauber und brachte ihre schlanke Figur zur Geltung. An ihrem rechten Arm baumelte ein Korb, der mit einem Tuch abgedeckt war.

»Sie wird wohl mit einem Gefährt kommen, das hat Winnie bereits herausgefunden. Wir müssen warten, bis sie aus dem Wagen gestiegen ist«, bemerkte sie nun leise. So wie sie neben Hal stand, hätte sie eine Marketenderin sein können, die ihm ihre Waren anbot. Keiner der Anwesenden schenkte ihr seine Aufmerksamkeit. Hal hatte sich die Kapuze seiner Tunika über den Kopf gezogen, um sein auffälliges Gesicht zu verdecken. Mit verschränkten Armen stand er nun im Schatten unter dem Vordach.

»Die Posten am Nordtor haben wir durch unsere Leute ausgewechselt. Alles lief glatt«, raunte Kalay und setzte ein routiniertes Lächeln auf.

Hal nickte nun unter der Kapuze wie beiläufig, und sein zufriedener Blick glitt wieder zum Publikum, unter das sich nun auch eine Musikgruppe mischte, die vorher noch an einem anderen Platz gespielt hatte. Ihre bunten Kostüme fielen auf im Einheitsgrau der Marktplatzkulisse. Die Musiker waren noch recht jung, Mädchen und Knaben, die sich gut gelaunt mit ihren Instrumenten unter die Leute mischten. Offensichtlich wollten auch sie sich die spannende Vorführung nicht entgehen lassen.

Hal war froh, dass er es noch rechtzeitig geschafft hatte, seinen Clan zu benachrichtigen und einige seiner Krieger nach London zu holen. Dabei hatte er einen genialen Trick angewendet, den ihm Enja einmal gezeigt hatte. Enjas Hengst war darauf abgerichtet, nach Hause zu laufen. Sie hatten das auch mit seinem Schimmel geübt, und tatsächlich schienen die Tiere den Wink zu verstehen: Egal, wo sie die beiden freiließen, sie liefen immer schnurstracks nach Caerlaverock in den Stall. Das hatte er dieses Mal mit Taycan gemacht, mit einer kleinen Nachricht in einem Lederbeutel an seiner Mähne. Befreit von Sattel und Zaumzeug, war er in kürzester Zeit zurück in Caerlaverock.

Die Nachricht über Enjas Gefangenschaft hatte große Sorge ausgelöst. Kalay hatte die Zeit genutzt, um die besten Krieger zu sammeln und sich auf den Weg nach London zu machen, entschlossen, ihre Anführerin zu retten. Taycan hatten sie mitgebracht. So war die Gruppe aus Caerlaverock vor ein paar Tagen eingetroffen, und Hal war ein Stein vom Herzen gefallen. Denn ohne die Krieger um Kalay würde sein Plan nicht aufgehen. Ein Plan, den selbst Enja begrüßt hätte, da war er sich sicher.

Aber noch war sie nicht frei, und seine Nerven waren trotz der zur Schau gestellten Lässigkeit bis zum Zerreißen angespannt. Wieder lächelte Kalay nervös zu ihm hinüber, biss sich auf die Lippen und prüfte fahrig den Inhalt des Korbes.

Enjas bester Freund reckte den Hals und wich aus dem Schatten, als auf einmal Bewegung in die Menge kam, weil ein Wagen vom östlichen Weg auf den Marktplatz gezogen wurde. Es war ein einfacher einachsiger Wagen mit einem Esel davor, und darauf stand wie eine Statue, die Hände mit einem Strick vor sich gefesselt, Enja von Caerlaverock.

Ein Raunen ging durch die Menge. Hal und Kalay warfen sich einen hastigen Blick zu. Pfiffe und Rufe erschallten, während Enja völlig unbeweglich geradeaus blickte. Sie hatten ihr die Haare gelöst, die nun wie ein Schleier um sie herum wehten. Sie steckte in einem Büßerhemd, das die Delinquenten auf ihrem letzten Weg tragen mussten. An ihrer Schläfe klaffte von Weitem sichtbar eine Platzwunde mit geronnenem Blut, das über das Ohr und den Hals gelaufen war und Strähnen ihres Haars verklebte.

Eine nie gekannte Wut schlich sich Hals Magen hinauf bis zur Kehle und schnürte sie zu. Es war alles seine Schuld. Hätte er Enja nicht gebeten, sich nicht zu wehren, würde sie womöglich nicht auf diesem Schandkarren dort stehen. Wie hatte er ihr das nur antun können? Wer weiß, was sie im Tower noch alles hatte erleiden müssen? Seine Faust ballte sich um den Griff der Axt, die in seinem Gürtel steckte. Mit all seiner Macht musste er sich zur Ruhe besinnen. Er durfte es jetzt nicht verpatzen, sonst war alles verloren. Aber Enjas entsetzlicher Anblick hatte seine Wut entfacht.

Keiner durfte es wagen, dieser Frau auch nur ein Haar zu krümmen! Sie hatte ihm einst das Leben und seine Seele gerettet. Wäre sie nicht gewesen, würde er nicht heute hier am Marktplatz stehen und sich den Engländern entgegenstellen können. Sie hatte ihm die Kraft verliehen, die er heute besaß. Eher würde er sterben, als Enja den Engländern zu überlassen.

Wieder fiel sein Blick auf die Menge. Englische Soldaten tauchten an den Seiten auf, darunter der junge Mann mit dem roten Bart, der sie beide Wochen zuvor ins Königshaus geleitet hatte. Diese Person würde heute sterben, beschloss Hal grimmig, und nicht nur Rotbart, sondern auch einige seiner Kameraden. Die Aussicht darauf ließ ihn sich wieder auf sein Ziel konzentrieren. Er wurde mit einem Mal ganz ruhig. Sein Vorteil war der Hinterhalt. Keiner der Anwesenden durfte misstrauisch werden, die Aktion durfte nicht früher als geplant starten. Zögerlich ließ er die Axt los, entspannte sich wieder und suchte Blickkontakt mit Enja, um sie auf ihn aufmerksam zu machen.

Enja würdigte weder ihn noch den Priester oder den Henker eines Blickes, als sie vom Karren heruntergezogen und die Treppe zum Podest hinaufgeschoben wurde. Das Hemd bedeckte ihre Beine nur bis zum Knie, und die geifernde Menge betrachtete ungeniert ihre nackte Haut. Durch den groben Stoff erkannte man die Wölbung ihrer Brust.

Die Schergen zerrten sie zu dem Strick, der von einem Galgen baumelte. Der Priester in braunem Gewand, nur mit einem Rosenkranz und einer Bibel bewaffnet, sprach zu ihr. Doch sie schüttelte nur ungeduldig den Kopf, woraufhin der Geistliche sichtlich verärgert zurücktrat. Ein Gerichtsdiener in einer dunklen Tunika und mit schief sitzender Kappe stieg die wenigen Stufen zu dem Podest hinauf und stellte sich vor die Menge. Er hielt eine Peitsche in der linken Hand. Mit der Rechten öffnete er nun umständlich die Pergamentrolle und verlas das Urteil in seiner näselnden Stimme:

»Wir, Edward, König von England, Lord von Irland und Herzog von Aquitanien, verurteilen die hier stehende Angeklagte Enja I‑Shabbah ibn Hassan I‑Shabbah, auch bekannt als Enja von Caerlaverock, wegen Hochverrats an der englischen Krone. Sie wurde …«

In diesem Moment erklangen die Instrumente der Musiker, die sich auf dem Platz versammelt hatten, mit einem Lärm, der sich über den ganzen Marktplatz legte wie ein Klangteppich und die Worte des Redners verschluckte. Sie spielten einen wilden Reigen, der von Rasseln, Pfeifen und einem Dudelsack begleitet wurde. Allerdings ließ sich keine Melodie erkennen. Es klang so, als wüsste der Linke nicht, was der Rechte spielt. Hätte jemand nachgedacht, hätte er sich wundern müssen, wieso die Gruppe vorher noch so harmonisch in den Straßen der Stadt gespielt hatte.

Der Gerichtsdiener gab seine Rede entnervt und mit hochrotem Kopf auf und wartete ungeduldig, bis die Gruppe zu spielen aufhörte. Die belustigten Menschen applaudierten höflich, und die Musiker verbeugten sich. In das maskenhafte Gesicht der neben dem Galgen wartenden Enja schlich sich ein Lächeln.

Als endlich wieder Ruhe auf dem überfüllten Marktplatz eingekehrt war, setzte der Gerichtsdiener noch einmal an und las mit lauter Stimme weiter vor: »Und daher wurde sie zum Tod durch Erhängen, Ausweiden und Vierteilen verurteilt, und ihr Kopf wird später an …«

In diesem Moment fingen die Musiker wieder an zu spielen, noch lauter als vorher, als hätten sie jetzt erst richtig Spaß an ihrer Vorstellung gefunden. Sie hauten in die Saiten und pfiffen mit einer Inbrunst, dass es schon etwas Komisches an sich hatte. Selbst Hal und Kalay begannen jetzt zu grinsen, und die meisten Leute auf dem Platz lachten ungeniert. Auf dem Holzpodest wirkte der entwürdigte Gerichtsdiener nun völlig erzürnt. Das war ihm ja noch nie passiert! Und die Menge tat auch noch so, als wäre dies eine lustige Einlage. Er hatte doch eine Aufgabe, und die Verkündigung eines königlichen Urteils sollte den Respekt seiner Landsleute verdienen!

Missmutig wollte er die Soldaten für Ruhe sorgen lassen. Doch als sie sich den Musikern näherten, entstand plötzlich ein Tumult in der Menge. Wie auf ein unsichtbares Kommando hin stürmten ein paar der Schaulustigen auf die Soldaten zu, rissen sie von ihren Pferden und töteten sie. Zwei oder drei sprangen auf das Podest, schnitten der Delinquentin die Handfesseln durch und drückten ihr ein seltsam anmutendes Schwert in die Hände, das einen Griff aus geschnitztem Elfenbein besaß.

Mit vor Entsetzen offenem Mund musste der Gerichtsdiener mit ansehen, wie die Angeklagte dem Henker damit in einer fließenden Bewegung den Kopf abschlug und dem erstaunten Priester seine Hände mitsamt der Bibel. Sein entsetzter Schrei dröhnte ihm in den Ohren und vermischte sich mit dem Brüllen der entsetzten und verängstigten Menge.

In einer katzenhaften Bewegung sprang die Frau im Büßergewand direkt auf ihn, den Gerichtsdiener, zu. Erschrocken trat er einen Schritt zurück und hielt abwehrend seine Hände mit dem Urteil vor sich. Er zitterte wie Espenlaub und fing an, wimmernd um sein Leben zu betteln. Aber anstatt ihm ebenfalls ein Körperteil abzuschlagen, packte sie ihn an der Tunika und schrie ihn an: »Der König hat mich zu seinem Feind gemacht. Wenn er mich haben will, muss er mit mir kämpfen. Und wenn er mit mir kämpft, dann muss er gegen ganz Schottland kämpfen. Sag ihm das, du Taugenichts!«

Damit ließ sie ihn los, und der Gerichtsdiener, der sich vor Angst selbst beschmutzt hatte, sank auf seine zitternden Knie. Hilflos musste er mitansehen, wie eine Horde Pferde in die völlig außer Kontrolle geratene Menge auf dem Marktplatz getrieben wurde. Die Frauen und Männer, die mit einer unheimlichen Präzision die Soldaten getötet hatten, hielten nun mit ihren Schwertern die Unbeteiligten in Schach, die zurückwichen und eine Gasse bildeten. Langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, näherte sich ein beeindruckender Mann auf einem Schimmel dem Holzpodest, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen und einen schwarzen Hengst am Zügel, blieb davor stehen. Mit einem Satz sprang das Weib im Büßerhemd auf den Sattel des Rappen, der ungestüm den Kopf hochriss. Beide Pferde jagten im gestreckten Galopp durch die Menge zurück zum Nordtor.

Ein Aufschrei der Menschen folgte ihnen. Gemeinsam jagten sie ungehindert durch das verlassene Stadttor hinaus. Wie konnte das sein? Weit und breit war kein Soldat zu sehen, der sie noch hätte aufhalten können. Hatten sie sich versteckt? Waren sie alle tot?

Es musste mit dem Teufel zugehen, jawohl, das musste es! Der Gerichtsdiener ließ das Urteil fallen, griff sich verzweifelt an den Kopf und sank zu Boden. Das entsetzte Kreischen des verletzten Priesters drang nur noch als ein weit entferntes Geräusch an sein Ohr. Er war sich sicher, dass der Teufel persönlich gekommen war, um das Ketzerweib zu befreien. Der Gerichtsdiener entschwand dieser fürchterlichen Welt in einer dankbaren Umnachtung.