Kapitel 14

Alamut im Jahre 1299

Die Schlucht war tief. Mein Körper fiel lange, eigentlich viel zu lange, und landete irgendwann mit einem lauten Schlag auf der Wasseroberfläche eines Gebirgsstroms, der hier mit lautem Getöse zu einem reißenden Fluss anschwoll. Mit kräftigen Armschlägen ruderte ich gegen die gnadenlosen Wassermassen, bis ich näher ans Ufer kam. Immer wieder stieß ich an Felsen und Gesteinsbrocken, die mir wie Bimsstein über die Haut schürften. Immer und immer wieder wurde ich vom Ufer weggespült und tiefer in den Sog des Wassers gezogen.

Irgendwann stieß ich mit wild rudernden Armen gegen einen Felsen und konnte mich festklammern. Meine Sinne schwanden bereits, und ich hatte kaum noch Hoffnung, lebend ans Ufer zu kommen. Mit letzter Kraft zog ich mich an dem Felsen hoch und blieb entkräftet liegen. Ich schnappte nach Luft.

Als ich verstört an mir heruntersah, stellte ich fest, dass ich nackt war. Die Strömung hatte mir sämtliche Kleider vom Leib gerissen. Zitternd und blutend lag ich auf dem kalten Stein. Es hätte mir nichts ausgemacht, wenn ich in diesem Augenblick gestorben wäre. Solch eine Todessehnsucht hatte ich noch nie zuvor verspürt.

Ich sah meine Mutter vor mir, deren Kopf im Wasser immer kleiner wurde. Sie schrie mir etwas zu, ich sah ihren Mund sich öffnen und wieder schließen. Aber ich konnte sie nicht verstehen, die Sprache war mir fremd. Welche Sprache hatte meine Mutter eigentlich gesprochen? Woher kam sie? Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Mein Vater hatte doch noch etwas zu mir gesagt, als er sich von uns verabschiedete, was waren seine Worte gewesen? Ich hatte es vergessen. Sein Gesicht? Nur ein vager Umriss. Dabei hatte ich ihm versprochen, ihn nie zu vergessen …

Panik wallte in mir auf. Ich stemmte mich auf dem glatten Felsen hoch, schwankte und versuchte verzweifelt, mit den Füßen Halt auf dem glitschigen Stein zu finden. Wie zum Hohn hörte ich auf einmal Gelächter über dem Rauschen des Wassers. Es kam vom Ufer, und meine brennenden Augen suchten zwischen den Bäumen nach Menschen.

Tatsächlich, dort kamen Nabil, Shi Fu und mein Diener Iljas. Mit letzter Kraft winkte ich und schrie aus Leibeskräften. Es dauerte lange, bis die drei mich endlich bemerkten. Sie liefen ans gegenüberliegende Ufer, zeigten aufgeregt auf mich und riefen ihrerseits etwas, das ich nicht verstand. Mein Kopf konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das Wasser rauschte, und der Lärm machte eine Verständigung unmöglich. Erst als sie die Hände wie einen Trichter vor den Mund legten und immer wieder ein Wort riefen, verstand ich: »Weib!«, schrien sie aus Leibeskräften. »Du bist ein Weib!«

Mir wurde schwindelig. Sterne tanzten vor meinen Augen, und die Welt drehte sich auf einmal um mich herum, bis ich das Wasser spürte, das mich mit seinen eisigen Armen auffing und mit sich riss. Mama …

* * *

Schweißgebadet wachte ich auf. Mit panischem Blick riss ich die Bettdecke zurück, besah meinen unversehrten Körper und atmete erleichtert durch; ich hatte nur geträumt. Benommen setzte ich mich im Bett auf und rieb mir die Müdigkeit aus den Augen. Als ich aufstehen wollte, fiel mir das frische Blut auf, das sich zwischen meinen Beinen sammelte und ins Laken sickerte. Hatte ich mich verletzt?

Hastig stand ich auf und tastete mich nach irgendwelchen Verletzungen ab, aber nichts tat mir weh. Es war nicht viel Blut, aber es hielt an, und mich erfasste eine groteske Panik, was ich nun tun und vor allem wie ich es Hassan erklären sollte. Die Schamesröte stieg mir ins Gesicht.

Mit Isaak hatte ich mich einmal über den Grund der Monatsblutung und den Turnus der weiblichen Geschlechtsreife unterhalten, aber nie darüber, wie ich damit umgehen musste. Ich konnte mich nicht einmal anziehen, ohne dass alles blutig wurde. Gut, dass ich als Assassine nun eine eigene Kammer besaß, die zwar einfach, aber zweckmäßig ausgestattet war. Neben meiner Matratze aus Rosshaar befand sich ein kleiner Holztisch, auf dem eine Schüssel und ein Wasserkrug standen. Ich begann mir mit einem Schwamm das Blut abzuwaschen. Nervös biss ich mir auf die Lippen. Wie sollte ich damit mein Schwert führen und kämpfen?

Mein Blick fiel auf meine Tasche mit all meinen Arzneien und Phiolen; sie lag neben meinem Bett auf der hölzernen Sitzbank. Eine verwegene Idee entstand in meinem Kopf, als ich mir die Anordnung der Geschlechtsorgane noch einmal vor Augen führte. Wenn ich die Blutung bereits im Körper stoppen könnte, würde kein Blut mehr herausfließen …

Aus den verschieden großen Leinenbinden in meiner Tasche suchte ich mir eine passende Größe und rollte sie mit festem Druck zu einer engen Rolle zusammen, die in etwa die Größe meines kleinen Fingers hatte. Dann umband ich die Rolle mit den von mir selbst geknüpften Seidenfäden, verknotete diese und ließ den Rest des Fadens einfach hängen. Vorsichtig führte ich sie ein, richtete mich auf und ging in meinem Zimmer umher. Sie rutschte durch die Krümmung des Uterus nicht weiter heraus, und das Blut war zunächst einmal gestoppt. Schnell drehte ich mir noch ein paar Rollen und steckte sie in meinen Umhang, den ich immer bei mir trug. Ich war stolz und gleichzeitig erleichtert, dass ich eine Lösung für diesen so weiblichen Nachteil gefunden hatte. Noch würde keiner erfahren, dass ich eine Frau war.

Schnell band ich mir meine Brust ab, die zwar klein, aber doch merklich gewachsen war in den letzten Monaten. Mit fünfzehn Jahren hatte ich mich auf meine körperliche Veränderung eingestellt. Schwieriger würde es bald sein, meine helle Stimme zu erklären, ich musste mir etwas einfallen lassen. Auch mein Bartwuchs ließ zu wünschen übrig. Mein Körper hatte sich ebenfalls verändert. Er war noch einmal gewachsen und dank der Kampfübungen muskulöser geworden. Die Witze über meinen spärlichen Bartwuchs kamen deshalb nur vereinzelt.

Mein blondes Haar war mir inzwischen wieder auf Schulterlänge gewachsen, und ich trug es mit einem Lederband im Nacken gebunden wie die meisten Männer hier. Lange Haare waren ein Zeichen der Freiheit und des Wohlstands, ein Bart hatte kurz zu sein und sollte auch nur teilweise das Gesicht zieren. Auch meine Kleidung hatte sich geändert, seitdem ich zu den Assassinen gehörte. Weite, feine Stoffhosen mit einer Tunika, die an der Hüfte mit einem goldbesetzten Gürtel gerafft wurde; der obligatorische Khanjar, der arabische Krummdolch, steckte natürlich darin. Die Stoffe waren sandfarben, also nicht eingefärbt, nur mein Umhang war mit vielen farbigen Mustern bestickt und mit Goldfäden durchwirkt. Auf ihn war ich sehr stolz, denn ich hatte ihn zu Ehren meiner dritten Weihe als Geschenk von Hassan erhalten. Bedächtig legte ich ihn jetzt über meine Schultern, steckte mit der goldenen und reich verzierten Brosche die Enden über der Brust fest und schlüpfte in meine weichen Lederschuhe, die von Hassans Schuhmacher auf meine Füße zugeschnitten worden waren. Mit ihnen konnte ich mich so lautlos bewegen, als liefe ich barfuß.

So herausgeputzt begab ich mich hinunter in die große Halle, in der die neuen Rekruten empfangen wurden. Ich sollte sie zusammen mit Nabil auf ihre Aufgaben vorbereiten. Wie immer war ich neugierig, welche interessanten Menschen sich eingefunden hatten, denn nicht alle eigneten sich für die harte Ausbildung zum Assassinen. Immer wieder kamen aus allen Ecken des Landes Männer, die sich freiwillig in den Dienst Hassans stellten und von ihm ausgebildet werden wollten. Als Heeresführer sandte er zahlreiche Späher aus, die für ihn die Augen offenhielten und Leute rekrutierten. Die ständigen Verfolgungen und Repressalien des Sultans gegen die Schiiten ließen genug verzweifelte Männer, die dessen Tyrannei überdrüssig geworden waren, in sein Netz laufen.

Die ständig wachsende Gefolgschaft des Anführers der Nizariten verteilte sich damit über das ganze Land und belief sich nach meinen Schätzungen auf mehrere Tausend Mann – und eine Frau. Hassans Volk der Assassinen war ihm treu und loyal ergeben. Die besten Prinzen ernannte er zu seinem persönlichen Stab, und diese durften wiederum die Nachrücker bestimmen. Als Medicus und Assassine hatte ich eine Sonderstellung, denn obwohl ich noch nicht die höchste Weihe erhalten hatte, wurde ich zu offiziellen Anlässen hinzugeholt. Undenkbar, wegen einer Monatsblutung ausgerechnet an diesem Tag unpässlich zu sein!

Die drei Neuankömmlinge, die heute in der Halle standen, waren die Frucht von Hassans Bemühungen, ein Heer aufzustellen, das im Verborgenen arbeitete, mordete und zuschlug und damit Saladins größter Feind werden sollte. Von dieser Euphorie war bei den drei Jungen im Alter zwischen zwölf und sechzehn nichts zu spüren. Sie hatten sich nebeneinander aufgestellt und ließen die Arme hängen. Die Kleider starrten vor Dreck, und die Gesichter waren so ausgemergelt wie das Suppenhuhn unseres Kochs. Nicht einmal die Bettelkinder in Bagdad waren in einem solch erbärmlichen Zustand gewesen.

Einer der drei fiel mir besonders auf: Er war hochgeschossen und erschreckend dünn. Seine Hände und Füße wirkten für seinen ausgemergelten Körper viel zu groß. Die in alle Richtungen stehenden Haare hatten das schmutzige Braun eines Straßenköters, und die Nase wirkte unnatürlich groß in seinem platten Gesicht. Alles an diesem Jungen schien hässlich zu sein, nur seine Augen waren von einem faszinierenden leuchtenden Grün. Er war westlicher Herkunft, und das umgedrehte Kreuz auf seiner Stirn war Zeuge seines Schicksals.

Was ihn hierher verschlagen hatte, wusste ich nicht, aber mein Herz öffnete sich sofort diesem armen Tropf, der in einem so jämmerlichen Zustand war, dass er meine Seele berührte. In dem Moment, als unsere Blicke sich trafen, wurde mir klar, dass ich meinen Seelenverwandten getroffen hatte. Er mochte verwahrlost sein, aber seine grünen Augen erzählten mir eine andere Geschichte, und darauf war ich neugierig.

* * *

Hal war sich bewusst, dass er keine andere Wahl hatte, als nun ein Werkzeug des gefürchteten Hassan I‑Shabbah zu werden. Nach seiner abenteuerlichen Flucht aus dem Palast Saladins war er nächtelang barfuß, bettelnd und nur noch mit Lumpen bekleidet umhergeirrt – immer auf der Suche nach einem Weg, der ihn aus diesem verfluchten Land brachte, das er so hassen gelernt hatte. Nach all der entwürdigenden Schmach, die er hatte erdulden müssen, kam es ihm wie eine Erleuchtung vor, als die prächtig ausgestattete Truppe seines neuen Herrn vor ihm zum Stehen kam. Stolz standen sie da mit ihren wehenden goldfarbenen Umhängen und den beeindruckenden Pferden mit dem aufwendigen Zaum, als kämen sie direkt aus den Märchen, die sich die Frauen in den Gemächern Saladins erzählten.

Die Männer in goldbestickten Umhängen berichteten ihm von ihrem großartigen Anführer Hassan I‑Shabbah und seinen Heldentaten, von seiner unbezwingbaren Festung und der großen Furcht Saladins vor den Assassinen. Die Verlockung, irgendwann als freier Mann und mit ansehnlichem Reichtum aus diesem Land gehen zu dürfen, war am Ende größer als das Heimweh, das ihn immer wieder überkam, und daher war er den Männern in eine ungewisse Zukunft gefolgt.

Jetzt stand er hier mit den zwei anderen heimatlosen Kindern, die sich ihnen angeschlossen hatten, und traf auf den berüchtigten Assassinenführer von Alamut und den Rest seiner Bande. Hassan musterte ihn mit seinen dunklen durchdringenden Augen, und auf seinen Wink hin nahmen zwei Prinzen die drei in Empfang, um sie für die erste Weihe vorzubereiten. Die Männer geleiteten sie zum Waschraum, wo sie sich umziehen, duschen und ankleiden konnten.

Hal empfand es wie eine Befreiung, endlich aus seinen stinkenden Lumpen herauszukommen und frisch gewaschen in saubere Hose und Weste zu steigen. Die Hose war ein wenig zu kurz, aber das störte ihn nicht. Er war, wie er stolz feststellte, der Größte unter allen anwesenden Männern, die er um weit mehr als einen ganzen Kopf überragte.

Der junge Mann mit dem blonden Haar, der ihn mit den anderen hierhergebracht hatte, reichte ihm gerade mal bis zu den Schultern. Aber ansonsten war er eine beeindruckende Figur: kräftige Arme und Beine an einem athletischen Körper. Sicher war der Mann ein guter und ausdauernder Kämpfer. Sein Gesicht war ebenmäßig mit hohen Wangenknochen, einer geraden Nase und einer Haut so weiß wie Milch. Wäre er ein Mädchen gewesen, dann ein verdammt hübsches. So wirkte er mit den schwarzen Augenbrauen und den blauen Augen eher bedrohlich.

Aber was Hal am meisten an diesem Mann faszinierte, den sie Eran nannten, war die Tatsache, dass er das gleiche eintätowierte Kreuz auf der Stirn trug wie er auch. Diese Verbindung gab ihm, einem Sohn irischer Bauern, Mut, all das hier durchzustehen.

Er blickte den Assassinen mit der hellen Haut an und fragte sich, ob er eines Tages auch so aussehen würde. Der Stolz, mit dem dieser seinen Umhang trug, beeindruckte Hal. Ja, er wollte eines Tages auch so sein. Ein Assassine zwar, aber ein freier Mann.

* * *

Die erste Weihe der drei Neuankömmlinge erinnerte mich an meine eigene im Jahr zuvor, die so prägend gewesen war. Nabil und ich führten die drei Jungen in die heiligen Hallen – so nannten wir Assassinen die unterirdischen Gewölbe, die sich unter der eigentlichen Festung befanden. Eine schmale Treppe, die mühsam in den Felsen gehauen worden war und vom flackernden Licht aus einer Vielzahl von Feuerkörben erhellt wurde, führte in das dunkle Herz von Alamut.

Ängstlich tasteten sich die drei Jungen in dem engen Gang vorwärts, bis er in einen großen Saal mündete, in dem sich die anderen Prinzen bereits eingefunden hatten. Dieser Saal diente uns für die Kampfübung, denn es drang kaum ein Laut nach oben. Dementsprechend waren die Wände mit allen möglichen Waffen gespickt: Schwerter in allen Größen und Längen, Äxte, Lanzen, Messer, Armbrüste und Pfeile. Daneben hingen Schilde und andere seltsame Geräte, die ich selbst noch nie gesehen hatte. Hassan schien solcherlei Waffen zu sammeln und testete sie auch bei manch einer Gelegenheit. Insgesamt lag über diesem Raum etwas Martialisches, es roch förmlich nach Tod und Gewalt.

Die Prinzen standen in ihren wertvollen Umhängen nun in einem Kreis vor einem Granitblock, der mich immer an einen Altar erinnerte. Nabil bugsierte die drei eingeschüchterten Jungen in die Mitte des Kreises und ließ sie niederknien. Großmeister Hassan hatte sich vor den Granitblock gestellt und die Arme vor sich gekreuzt. Auf dem Haupt trug er einen schwarzen Turban mit einer riesigen Saphirspange über der Stirn. Er sah ehrfurchtgebietend aus mit seinem langen schwarzen Gewand und dem kostbaren Überwurf aus Seide. Seinen Hals schmückte eine Kette aus Gold und Lapis, die schwer bis zu seiner Brust hing.

Schon bei meiner eigenen Weihe hatte mich der Aufwand dieser Zeremonie zutiefst beeindruckt, und wieder hielt mich der Zauber dieses Augenblicks gefangen. Mit großen Augen verfolgten die drei Jungen, wie Hassan sich umdrehte und auf dem Granitblock eine Flüssigkeit entzündete, bis die Flammen über die gesamte Oberfläche des Steins hinweg züngelten. Die Kinder keuchten auf. Das Licht der Flammen spiegelte sich in ihren weit aufgerissenen Augen.

Der Saphir des Anführers funkelte bläulich im warmen Licht des Feuerscheins, und die Wärme, die von den Flammen ausging, war allzu deutlich spürbar. Selbst meine Haut erreichte sie, obwohl ich etwas abseits der Gruppe stand, denn ich hatte ja den Titel eines Prinzen noch nicht erlangt. Hassan hob nun seine Arme, blickte ins Feuer und begann einen Singsang in einer Sprache, die ich vor jenem Ritual noch nie gehört hatte. Nabil vermutete, dass es Altarabisch sein könnte, eine uralte Sprache aus längst vergangenen Zeiten. Den genauen Inhalt konnte hier keiner verstehen.

Hassan sprach jetzt schneller und eindringlicher, die Prinzen hoben ebenfalls zu einem Gesang an, der mir eine Gänsehaut bereitete. Es war nur ein Summen, aber es erfasste sämtliche Sinne und formte die Sprache Hassans zu einem seltsamen Klangteppich. Das Feuer auf dem Granitblock schien von selbst zu brennen. Auf einmal fingen die ausgestreckten Hände Hassans Feuer, und er beendete seinen Singsang. Die Prinzen hörten daraufhin auch auf zu summen, und es entstand eine seltsame Stille.

Der Anführer drehte sich um und winkte den drei Kindern, zu ihm zu kommen. Einer nach dem anderen trat verschüchtert nach vorn, kniete sich nieder und schwor, dem weisen Großmeister Hassan zu dienen und sein Leben für ihn und Allah zu geben. Dann legte Hassan seine immer noch in Flammen stehende Hand auf den Kopf des Rekruten und versengte ihm die Haare. Erschrocken fasste er sich an den Kopf, aber dort, wo die Hand lag, waren sämtliche Haare abgebrannt.

Lebhaft erinnerte ich mich an meine eigene Weihe. Der Gestank nach verbranntem Haar hatte mir noch einige Tage nach dieser Zeremonie in der Nase gehangen. Über den plötzlichen Verlust meiner Haare war ich damals genauso erschrocken gewesen wie diese Jungen. Ab jetzt würden die Haare in ein neues Leben wachsen, das sollte die Geste ähnlich einer Taufe symbolisieren.

Das Feuer auf seinen Händen erlosch, darunter war seine Haut völlig unversehrt. Die Hitze, die wir selbst als heißen Wind spürten, schien ihm nicht das Geringste auszumachen. Vor Ehrfurcht erstarrt blickten die Jungen auf den Mann in dem schwarzen Gewand, der sie mit seinen betörenden Augen anstarrte.

»Ab heute seid ihr meine Kinder und steht unter dem Schutz unserer Gemeinschaft und Allahs«, hörte ich Hassan nun wieder in seiner Muttersprache Farsi sprechen. »Ihr werdet lernen, in meinem Namen Feinde zu töten und mich so zu lieben, dass ihr für mich sterben würdet. Seid ihr bereit dafür?«

»Wir sind bereit!«, kam es von den dreien, und sie durften dankbar die Hand ihres neuen Anführers küssen. Hassan war ein charismatischer Mann, und er verstand es, Menschen in seinen Bann zu ziehen und sogar für sich sterben zu lassen. Irgendwann würde ich ihn nach dem Trick mit den Händen fragen, der für uns alle immer wieder beeindruckend war.

Persönlich hegte ich eine große Bewunderung für diesen Mann, der nach außen hin so herzlos und brutal wirkte, doch seine Leute klug und weise führte. Sein Verstand war einzigartig und sein Handeln von geschickten politischen Schachzügen bestimmt. Kein anderer, ob Monarch oder Tempelritter, war zu dieser Zeit so gefürchtet und gleichzeitig so geachtet wie Hassan I‑Shabbah.

Sein Prinzip war einfach: Gezielt und mit nur wenigen Assassinen schaltete er – manchmal gegen Bezahlung, manchmal ohne – seine Gegner aus und hielt seine Feinde damit in ständiger Angst. Mit Absicht ließ er seine Feinde im Unklaren, wer der Nächste sein könnte, und rühmte sich seiner Missetaten. Nicht selten bezahlten Auftraggeber zusätzlich Geld an Hassan, um nicht selbst Opfer seiner Assassinen zu werden. Bestechung gehörte im wahrsten Sinne des Wortes zu seinen besten Waffen.

Durch das Auge eines Außenstehenden betrachtet, würde jeder behaupten, Hassan sei ein skrupelloser Mörder. Doch ich würde ihn lieber einen Opportunisten nennen, denn er nützte die Feindschaft der Menschen, vor allem den Kampf der Religionen, geschickt für sich. Er verstand es, sich niemals zwischen die Fronten zu begeben, weder zwischen die der Kreuzritter und Saladins noch zwischen die der arabischen und persischen Sultane. Im Gegenteil, er jagte lieber gegen Bezahlung erst dem einen, dann dem anderen einen Dolch in den Hals, kassierte und ließ die Feinde wieder aufeinander los. Der Assassinenführer wurde gleichermaßen gehasst, wie er gebraucht wurde. Sein Netz umspannte ganz Arabien und weite Teile Persiens, er war unangefochten eine machtvolle Figur, nur dass er niemals selbst den ersten Zug machte. Ich musste unwillkürlich lächeln beim Gedanken daran, wie Hassan mit den mächtigen Herrschern spielte wie die Katze mit den Mäusen, und doch konnte keiner die Katze ausschalten. Heute waren drei neue Jungen in den Kreis der Assassinen aufgenommen worden, und es wurden stetig mehr. Die frisch geweihten Kinder Hassans wurden nun an seinen Tisch in der großen Halle geladen, um die Weihe gebührend mit einem Festessen zu feiern, und sie lächelten erleichtert. Als ich sie nach der Zeremonie wieder die Steintreppe nach oben begleitete, wehte mir noch der Geruch verbrannten Haares in die Nase.

* * *

Meister Kang Shi Fu sah mich an, als wäre mir gerade ein zweiter Kopf gewachsen. Ich hatte ihn zum wiederholten Male auf den Boden des Übungssaales gezwungen. Hier war der kalte Felsboden mit Teppichen und Kissen ausgelegt, um den Fall zu dämpfen. Shi Fu war der Meister des Nahkampfs und konnte mit mir bereits sämtliche Übungen durchführen, die eigentlich erst nach der sechsten Weihe gedacht waren. Dies lag an meinem Ehrgeiz und meiner Beharrlichkeit, jede neue Übung mit äußerster Präzision so lange durchzuführen, bis ich sie perfekt beherrschte.

Auch heute ließ er mich immer wieder mit gnadenloser Akribie seine Angriffe abwehren, die er mal mit dem Messer, mal mit der Faust umsetzte, und jedes Mal sah ich seine Bewegungen wie in Zeitlupe, sah seinen Hieb, bevor er mich traf, und konnte ihn damit rechtzeitig abwehren und zurückschlagen.

Frustriert schnaufte der Chinese durch seine Nase und schüttelte ungläubig seinen Kopf. »Du kämpfst, Eran, als wüsstest du genau, was ich vorhabe«, grollte er mit seinem unverkennbaren Akzent.

»Wenn ich hierhin schlage«, sagte er und lenkte seine Faust gegen meinen Hals, »dann drehst du dich und haust mir die Faust ins Gesicht. Schlage ich hierhin«, fügte er hinzu, und seine Faust zeigte in Richtung Unterleib, »dann gehst du zurück und kickst meine Eier. Wie machst du das? Kannst du in mein Gehirn sehen?«

Er war sichtlich bestürzt, und ich hätte beinahe gelacht, wenn er es nicht so ernst gemeint hätte. Ich kratzte verlegen an meinem Ohr und zog mein Ohrläppchen in die Länge. Wie sollte ich das erklären, ohne wieder überheblich zu wirken, wie es mir schon Meister Abdallah angekreidet hatte? Ich versuchte eine vage Erklärung.

»Ich weiß nicht, wie ich das mache, Shi Fu, ich sehe einfach, was du machen wirst, und reagiere, bevor du deine Faust bewegst. Und es ist egal, ob du mich mit dem Messer angreifst oder ob jemand einen Pfeil auf mich abschießt. Ich sehe es vorher.« Mein Ohrläppchen schnappte zurück.

Es war mir bis dahin selbst nicht wirklich klar gewesen. Jetzt, wo ich es ausgesprochen hatte, begann ich darüber nachzudenken. Aus irgendeinem Grund hatte ich wohl so etwas wie einen sechsten Sinn, der mich warnte, wenn ich in Gefahr war. »Ist das bei dir nicht so, Shi Fu?« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein geübter Kämpfer wie er nicht die gleichen Instinkte besäße wie ich. Auf die Idee, dass ich damit allein war, war ich bisher nicht gekommen.

Der drahtige Mann sah mich nachdenklich an und strich sich mit seiner linken Hand über den Ziegenbart, der ihm dünn und fransig vom Kinn herunterhing. Schließlich nickte er, als hätte er verstanden, verneigte sich kurz vor mir und meinte dann feierlich: »Wenn du die Gabe hast, die unmittelbare Zukunft zu sehen, dann hast du die siebte Weihe längst verdient. Shi Fu kann dir nichts mehr beibringen. Deine Kraft und dein Mut sind die eines Löwen, ich verneige mich vor dir.«

Es berührte mich seltsam, dass ein Mann, der selbst so viel Erfahrung und Wissen hatte, mein Können so lobte. Dabei konnte ich gar nicht wirklich in die Zukunft sehen. Aber insgeheim musste ich ihm schon recht geben, denn ein Erlebnis beschäftigte mich seit Langem: Als bei einem Angriff der Seldschuken ein Pfeil in meine Richtung geflogen war, hatte ich ihn sehen können, bevor er mich traf. Es war, als bliebe die Zeit kurz stehen, ich konnte den Pfeil in aller Ruhe betrachten und brauchte mich nur nach links zu beugen, um ihm auszuweichen. Ihn zu fangen, wäre auch kein Problem gewesen. Offenbar wurden die Bilder langsamer, je schneller die Bedrohung auf mich zukam. War es das? War das die Vollkommenheit, von der Shi Fu so oft sprach? Die Vollkommenheit eines Kriegers, der die siebte Weihe durchlaufen hat?

Der kleine Shi Fu hatte sich zur Wand gewendet, an der die seltsamen Waffen hingen, die ich nicht kannte. Pflichtschuldig folgte ich ihm, ohne dass er mich dazu aufforderte. Schließlich nahm er ein leicht gebogenes Schwert von einem Holzständer und zog es aus der Scheide. Andächtig hielt er es vor sich, legte es auf beide Handflächen, um es mir mit einer kleinen Verbeugung zu übergeben.

Es war wunderschön! Der Griff war aus sorgfältig geschnitztem Elfenbein, und die Klinge glänzte im Fackelschein wie ein Kristall in der Sonne. Mit einem andächtigen Kopfnicken nahm ich es entgegen. Es fühlte sich schwer und kühl in meinen Händen an.

»Das ist die Kantana eines großen Kriegers aus einem fernen Land«, erklärte Shi Fu. »Er starb vor langer Zeit, niemand kann dieses Schwert führen, wenn er nicht vollkommen ist. Du bist ein großer Krieger, es soll jetzt deins sein.«

Für einen Moment stockte mir der Atem. Die Bewunderung für meine Fertigkeiten, die er mir mit dem Überreichen dieser Waffe vermittelte, drückte auf meine Brust und ließ mein Herz schneller schlagen. Das Schwert, eine asiatische Kantana, war äußerst selten, denn die Krieger wurden normalerweise mit ihren Schwertern begraben. Warum Shi Fu eines in seiner Sammlung hatte, wusste ich nicht, aber anscheinend war er froh, es an mich weitergeben zu können. Ich bedankte mich daher, und während ich so tat, als betrachtete ich die ungewöhnliche Waffe, versuchte ich, diesen dicken Kloß an unbändigem Stolz herunterzuschlucken, der in meinem Hals feststeckte. War ich diesem einzigartigen Schwert überhaupt gewachsen? Würde der große Krieger, dem es einst gehört hatte, meinen Besitz gutheißen?

Mit tiefer Ehrfurcht wog ich es in meiner Hand, und schnell überkam mich ein Gefühl, als wäre die Waffe wie für mich gemacht. Die Härchen in meinem Nacken kribbelten, während ich das Schwert liebevoll betrachtete. Die Schneide war so scharf, dass ich mir in den Finger schnitt, als ich daran entlangfuhr.

»Bei allen Göttern«, entfuhr es mir, und ich zog den blutenden Finger zurück, »wie kann es sein, dass ein Schwert so scharf ist!«

Shi Fu nickte wissend und legte die Arme vorn auf seiner Brust zusammen, als hätte er geahnt, was passieren würde. »Die Klinge ist tausendfach gefaltet und gehärtet. Viel härter als Eisen oder Stahl. Nur wenige Menschen wissen, wie das gemacht wird. Eine Kantana ist sehr wertvoll, sie bedeutet viel Macht für ihren richtigen Besitzer.«

Shi Fu lächelte wieder sein geheimnisvolles Lächeln, und sein Ziegenbärtchen zitterte. »Aber du musst wissen, wie es geht. Shi Fu wird es dir zeigen.«

An diesem Tag fing er an, mich mit einem asiatischen Schwert zu trainieren, das in meinen Händen zu einer tödlichen Waffe wurde. Mir schien, als wäre es die Verlängerung meiner Bewegungen, fließend und tödlich zugleich. Nabil sagte mir einmal, die Waffe suche ihren richtigen Besitzer und nicht umgekehrt. Vielleicht hatte mich die Waffe nun gefunden. Es war tatsächlich das, was mir noch gefehlt hatte, um eine perfekte Kriegerin zu sein. Dieses Schwert und die Kunst, es zu führen, gaben mir die Macht, Leben in einem Wimpernschlag auszulöschen.

* * *

Im Dasein eines Kriegers gab es immer auch Niederlagen. Selbst der beste Kämpfer hatte einen wunden Punkt. Nach drei Weihen hatte ich bereits alles erreicht, was ich erreichen wollte. Nur eines fehlte mir, das mir die anderen Männer trotz meiner harten Übungen immer voraushaben würden: die schiere körperliche Kraft. Ich war schnell, wusste, wo ich zuschlagen oder zustechen musste, um einen Gegner auszuschalten. Aber sollte mich ein Mann überrumpeln, war er mir an reiner Muskelkraft überlegen.

Dies war mein sorgfältig gehütetes Geheimnis, um das nur Shi Fu wusste. Manchmal hatte ich das Gefühl, Shi Fu kannte alle meine Geheimnisse, auch, dass ich eine Frau war. Mit so engem Körperkontakt, der im Nahkampf zwangsweise entstand, musste er fühlen, dass mir ein essentielles Stück meiner angeblichen Männlichkeit fehlte. Wie es seine Art war, gab seine Mimik nichts preis, wofür ich ihm sehr dankbar war. Aber er trainierte mit mir weit härter und intensiver als mit den anderen Assassinen, denn er schien zu ahnen, dass ich härter kämpfen musste als andere.

»Du hast den Körper einer Frau«, hatte er mir einmal ganz am Anfang unserer Freundschaft verraten, »aber den Geist eines Mannes mit Eiern. Mit dem Körper kannst du arbeiten, dein Geist ist sehr stark!«

Wusste er es? Mit einer Waffe wie diesem einzigartigen Schwert konnte ich mir die Männer auf Abstand halten, davon war ich überzeugt. Weil die Kantana als Übungsschwert viel zu gefährlich war, benutzten wir große Bambusstöcke mit umwickelten Griffen.

Nie hatte ich mehr blaue Flecke und schmerzende Gliedmaßen gehabt als zu dieser Zeit. Ich lernte schnell, seinen Hieben auszuweichen. Schon bald wurden auch die anderen, die mit mir im Saal übten, auf uns aufmerksam und sahen interessiert zu. Wie immer steigerte ich mich mit Shi Fu förmlich in diese Art der Verteidigung hinein: vor Schweiß triefend und ächzend.

In der Hitze des Übungskampfes bemerkte ich erst spät, wie mich ein besonderes Augenpaar begierig beobachtete. Es waren leuchtend grüne Augen, und sie registrierten jede meiner Bewegungen mit gebührendem Respekt.