Mit einem mächtigen Schlag seines Eisenhammers zersprang der Felsblock in seine Einzelteile. Ohne auf die umherfliegenden Splitter zu achten, wurden die Felsbrocken von den Arbeitern mit flinken Händen aufgesammelt und in die dafür vorgesehenen Karren geschichtet. Ein Ächzer wand sich aus James Douglas’ Kehle, die Anstrengung war ihm ins Gesicht geschrieben. Müde lehnte er den Hammer an die Felswand, gönnte sich eine kurze Pause und wischte sich mit dem Ärmel seines verdreckten Hemdes den Schweiß von der Stirn.
Es war ein kalter Dezembertag, die Männer froren, wenn sie sich nicht bewegten. Kaum einer hatte den eisernen Willen und die Kraft wie James, um die schwere Arbeit durchzuziehen. Der Dampf seines Körpers erzeugte kleine Wölkchen in der Kälte, das dünne Hemd war schweißdurchtränkt. Dunkle, nasse Strähnen kringelten sich um sein Gesicht, auf dem sich die Strapazen und Entbehrungen der letzten Monate abzeichneten. Seine ehemals blasse Haut war inzwischen dunkel von der Sonne, und die Winterkälte zog kleine rote Äderchen an seinen Wangen entlang. Die senkrechte Falte auf der Stirn hatte sich bereits als tiefe Furche in sein Gesicht gegraben. Widerwillig nahm er den Hammer wieder auf und holte zu einem weiteren Schlag aus. Sofort gab der spröde Stein nach und zerplatzte in kinderkopfgroße Stücke. Die Muskeln an seinen Armen und Schultern waren deutlich sichtbar unter dem dünnen Hemd. Die schwere Arbeit war eine weit härtere Übung, als es der Schwertkampf in seiner Jugend gewesen war.
Die Härte des Arbeitslagers forderte ihren Tribut. Viele seiner Gefolgsleute starben trotz ausreichend Nahrung jämmerlich an Krankheiten oder durch Unfälle. Sein jüngerer Bruder Hugh hatte sich bei einem Steinschlag den Arm gebrochen. Es gab keine Heiler in diesem Loch, und James hatte versucht, mit einem Stück Holz und Fetzen seines Hemdes den Arm notdürftig zu schienen. Aber der Bruch wollte einfach nicht heilen. Ein Brand wütete im Knochen, und es schien, als würde Hugh von Tag zu Tag schwächer. Er hielt sich gerade am Wagen fest, weil ihn ein weiterer Schwächeanfall zur Pause zwang, als eine der englischen Wachen ihm mit einem Stock brutal über den Rücken fuhr.
»Arbeite, du faules Stück Scheiße!«, schrie er ihn an, und Hugh zuckte unter dem Schlag zusammen. Benommen stolperte er auf die umherliegenden Steine zu und sammelte sie mit der unverletzten Hand weiter ein. Da er den kaputten Arm dabei an seine Brust drückte, konnte er nur jeweils einen Stein aufnehmen und in seine Schultertasche stecken, die er in den bereitgestellten Karren entlud.
James hielt seinen Hammer so festumklammert, dass die Knöchel seiner Faust weiß hervortraten. Seine Kieferknochen mahlten. Es fehlte nicht viel, und er hätte dem Soldaten den Hammer über den Schädel gezogen. Das hatte er sich schon so oft in seinen Träumen ausgemalt, wenn er nachts unter freiem Himmel zu den Sternen hochblickte.
Hugh schwankte bei jedem seiner Schritte, aber er hielt sich tapfer. James wurde es schwer ums Herz, wenn er ihn so leiden sah. Als Gefangene der Krone waren seine Leute und sein Bruder mit ihm hier ins Arbeitslager nicht weit von Leicester gebracht worden. Unter strengster Bewachung mussten sie die Steine für den Ausbau von Leicester Castle klopfen. Es sollte eine grimmige Burg werden, mit der König Edward seine Macht demonstrieren wollte. Steineklopfen war eine Arbeit, die unglaublich viel Kraft erforderte und von James mit stoischer Ruhe ausgeführt wurde. Solange sie keinen Ärger machten, wurden er und sein Bruder gut behandelt. Das hatten die Engländer ihm klargemacht, bevor sie ihn in die Steinbrüche schickten. Damit erkauften sie sich seine Kooperation und die Treue seiner Gefolgsleute.
Doch der schlechte Gesundheitszustand seines Bruders machte ihm Sorgen. Er brauchte dringend einen Heiler, der seinen Arm richten konnte und den Brand im Knochen bekämpfte. Frustriert hackte er wieder mit dem Hammer auf den Felsen, der unter seiner Wut nachgab und zerplatzte.
»Wir machen gleich Mittagspause, Hugh, dann kannst du dich ausruhen«, stieß er atemlos zwischen zwei Hammerschlägen hervor. »Ich spreche mit dem wachhabenden Offizier, ob du dich heute ausruhen kannst, und ich mache mit Lachlan allein weiter.«
Tatsächlich blieb sein Vormann und treuer Freund Lachlan MacKay auch hier im Steinbruch an seiner Seite. Lachlan war dabei gewesen, als sie die junge Frau seines Vaters und seinen Bruder Matthew erschlagen hatten, und hegte daher einen tiefen Groll gegen die Engländer, die den Besitz des Clans Douglas beschlagnahmt hatten. Er war auch zuvor schon dabei gewesen, als James’ Vater und seine Frau Eleanore den Earl von Carrick, Sir Robert de Bruce, davon überzeugt hatten, für die Schotten zu kämpfen. Genau wie James’ Vater war er ein glühender Verehrer des schottischen Thronanwärters. Tatsächlich war Sir Robert auf Befehl des englischen Königs Edward gekommen, um die Burg der rebellierenden Douglas-Familie zu stürmen, hatte sich dort aber – zum großen Ärger Edwards – zu seiner schottischen Heimat bekannt. Jetzt war Robert mit Hilfe seiner Landsleute auf dem Weg, der König von Schottland zu werden. Und James’ Vater William Douglas war tot, angeblich im Tower von London an den schweren Misshandlungen durch die englischen Schergen gestorben.
Wütend warf McKay die Steine auf den Karren, der sich bereits unter seiner schweren Last bog.
»Verflucht nochmal, Schottland ist dabei, gegen Edward endlich Land zu gewinnen, und wir gehen hier jämmerlich vor die Hunde!«, spie er aus, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Wenn der Junge nicht bald Hilfe bekommt, dann wird er den schottischen Sieg nicht mehr erleben …« Mit einer Bewegung seines Kinns deutete er auf Hugh, dessen schweißüberzogenes Gesicht schon eine auffallende Blässe zeigte. Eine der englischen Wachen blickte misstrauisch zu ihnen herüber.
»Meine Bitte um Begnadigung wurde von Bischof de Lamberton unterschrieben, er wird sie König Edward direkt vorlegen. Er muss uns freilassen, das hier ist eine Hinrichtung auf Raten …«, raunte James leise seinem Vormann zu. »Ich bete jeden Tag, dass Hugh noch so lange durchhält.«
McKay schüttelte nur unmerklich den Kopf. James verdrehte die Augen. Oh, wie er es hasste, hier festzusitzen, während die Schotten überall rebellierten. Eines Tages würde er sich zurückholen, was König Edward ihm und seiner Familie genommen hatte. Solange er lebte, würde er kämpfen für die Wiedergutmachung dessen, was dieser englische Bluthund seiner Familie angetan hatte – an der Seite eines schottischen Königs. Mit unterdrückter Wut landete der Hammer einmal mehr krachend auf dem Felsen, die Steine flogen in hohem Bogen durch die Luft und prasselten auf die nasse Erde.
* * *
»Die Wachen wechseln alle drei Stunden, die Arbeiten beginnen bei Sonnenaufgang und enden, wenn es zum Abendgebet läutet. Eine Stunde Pause mittags.«
So fasste es Enja in ihrer gewohnt nüchternen Art zusammen. Ihre sonst so kräftige Stimme war nur ein leises Raunen. Hal lag neben ihr auf einer Anhöhe flach auf dem Boden und spähte hinunter in das Arbeitslager, das sich auf einem Gebiet, das dreimal so groß war wie das komplette Leicester Castle, erstreckte.
Froh, nach der Befreiung Enjas von den wütenden Schergen Edwards nicht aufgespürt und wieder in den Tower zurückgezerrt worden zu sein, hatte Hal erst geglaubt, sie würden auf schnellstem Weg zurück nach Schottland jagen. Es wäre auch alles gut gegangen, hätten sie nicht diese Handwerker in dem schäbigen Wirtshaus getroffen. Während Hal und Enja aufgrund ihres auffälligen Aussehens gut vermummt in den Ställen oder in den Wäldern nächtigten, verbrachten Kalay und ihre Freunde die Abende in den Spelunken und zechten mit den Reisenden, um von ihnen Informationen über die Lage zu erhalten. Nur durch Zufall waren sie so auf die Spur der Douglas-Brüder gestoßen.
Hal erinnerte sich noch an den Namen der Spelunke, Maidens Inn, die den Namen nicht wirklich verdiente. An diesem Abend hatte ihnen eine erschöpfte Kalay nach der Rückkehr in ihr Versteck mit schwerer Zunge von Handwerkern berichtet, die von Leicester Castle aufgebrochen und zurück nach London unterwegs waren, um nach Arbeit zu suchen. Es waren gelernte Kräfte gewesen, die ihren Frust in dem besagten Inn, an dem sie Halt gemacht hatten, in Ale ersäuften. Bevor sie den Grund ihrer Reise vergaßen, verrieten sie Kalay nach einigen Bechern des starken Gebräus, dass Sir Simon de Montfort, der Earl von Leicester, nun statt der teuren Handwerker schottische Zwangsarbeiter für den Bau seiner Burg einsetze. Unter diesen seien, so verrieten es die beiden redseligen Männer unter größter Geheimhaltung, wohl auch viele des zerschlagenen Douglas-Clans, die von den Frauen der Handwerker versorgt wurden. Der Aufenthalt der unwillkommenen Schotten habe sich schnell herumgesprochen, aber zugleich den Ärger der Handwerksleute entfacht. Kalay hatte sich bedankt, die Zeche bezahlt und die beiden Pechvögel hinter ihren Bechern weitergrübeln lassen.
Am Tag nach dieser Begegnung hatten sie auf Enjas Befehl hin ihre Route in Richtung Leicester geändert, um sich dieses Arbeitslager näher anzuschauen. Hal war es, als hätte er de Montforts Name schon einmal in Zusammenhang mit Edwards Generälen gehört. Sicher besaß der Earl gute Kontakte, um an Zwangsarbeiter zu kommen, die in Edwards Auftrag kaltgestellt werden sollten. Es stand außer Frage, dass es sich bei dem erwähnten Douglas-Clan um die Reste der ehemals so einflussreichen schottischen Familie handeln musste.
Hal hatte den Ausdruck auf Enjas Gesicht bemerkt, als Kalay von der Begegnung erzählt hatte, und seine Bedenken für sich behalten. Es war keine Frage, ob er ihr helfen würde, James zu befreien. Und er hatte auch mit keiner Wimper gezuckt, als sie ihren schwarzen Hengst den Kurs etwas weiter westlich hatte nehmen lassen. Seit sie diesem James Douglas begegnet war, benahm sie sich merkwürdig. Fast so, als wäre sie diesem Kerl etwas schuldig. Dabei hatte er sie doch nur gefunden und mitgenommen. Nach Hals Ansicht hatte er nichts getan, was ihre plötzliche Empathie für James erklärte.
Er grummelte still vor sich hin. Sein Blick fiel auf Enja, die neben ihm auf dem Bauch im Gras lag und angestrengt nach unten in das Arbeitslager starrte. Ihr schönes Gesicht wirkte im Profil mit der geraden Nase fast streng, die zurückgebundenen Haare betonten die hohen Wangenknochen. Es reizte ihn, die verlorene Haarsträhne, die sich aus der Frisur gelöst hatte, wieder hinter das Ohr zu streichen. Aber er behielt seine Hände tunlichst auf dem Boden.
Hal war damals vor Sorgen fast gestorben, als ihr Hengst Taycan vor dem See aufgetaucht war, der Caerlaverock umgab. Schweißnass und vor Anstrengung zitternd hatte er sich kaum beruhigen lassen, als sie ihn mit der Fähre in den Burghof bringen wollten. Der Sattel, ihr Schwert, der Bogen – alles hatte unangetastet gewirkt, nur von Enja keine Spur. Hal hatte, ohne nachzudenken, seinen Schimmel gesattelt, um Enja zu suchen. Seine Suche hatte ihn schließlich zum Clan Douglas geführt, die sie gerettet hatten.
Hal kam es vor, als hätte Enja eine Wolke ständig drohender Gefahren um sich, die sie befielen wie ein Schwarm Wespen. Enja war für ihn ein Mysterium, aber ein bezauberndes. Wie ein kleines Kind, das mit neugierigen Augen die Welt eroberte, lief sie von einem Abenteuer ins nächste. Hal verehrte sie, wie man nur jemanden verehren konnte, der, einer Gottheit gleich, so ganz aus seiner Reichweite war. Hal war ihre rechte Hand und ihr Gewissen. Und mehr konnte er für sie nicht sein, das war beiden stets klar gewesen. Aber ihr augenscheinliches Interesse an diesem James Douglas missfiel ihm mehr, als er zugeben wollte. Seine Stimmung verfinsterte sich schon bei dem Gedanken an ihn.
Sein Blick richtete sich wieder nach vorn, hinunter in das Lager, in dem dieser Douglas und sein gefallener Clan arbeiteten. Irgendwann würde Enja dieses Welpen auch überdrüssig werden, da war er sich sicher. Der konnte ihr nicht das Wasser reichen.
Als sie ihren Kopf drehte und Hal aufmunternd anlächelte, waren alle Bedenken wie fortgeblasen: Für dieses Lächeln allein hätte er sie bis nach Jerusalem auf Händen getragen.
* * *
Wie die Ameisen bewegten sich die Arbeiter dort unten in dem grauen Steinloch im immer gleichen Rhythmus. Es gab die Kräftigen, die Felsen zerklopften, die Flinken, die alle Steine sammelten und in die Karren schichteten, und die Schwachen und Alten, die die Esel mit den Karren zur Festung zogen.
Die Arbeitsteilung war effektiv, und der Bau wuchs entsprechend flott. Nur dass die Menschen dort unten dies nicht freiwillig taten. James’ kräftige Statur war gut auszumachen, wie er dort mit einem Hammer wuchtig auf die Felsen eindrosch, um sie zu zerkleinern. Seine Kleider waren dreckig und zerrissen, die Haare struppig, und der dunkle Bart in seinem Gesicht hatte bereits seit Monaten keine Rasur mehr gesehen. Daneben sammelte eine kleinere, ähnlich bärtige Gestalt die Steine auf und warf sie in den Wagen. Von seinem Aussehen und der Größe her vermutete ich sofort, dass es Lachlan McKay war, James’ langjähriger Freund.
Ein anderer Mann machte mir mehr Sorgen: Seine schlanke, bartlose Gestalt bewegte sich unsicher zwischen Karren und Felsbrocken hin und her, den Arm angewinkelt an der Brust. Sogar von Weitem konnte ich sehen, dass Hugh Schmerzen litt. Nachdenklich zog ich meine Unterlippe zwischen die Zähne und beurteilte die Situation.
»Der Zustand von Hugh erfordert ein schnelleres Vorgehen, Hal. Gestern sind die restlichen Krieger aus Caerlaverock mit den Ponys eingetroffen, auf die wir gewartet haben. Wir ändern den Plan und wechseln drei der Mädchen auf einmal. Wir können seine Befreiung nicht länger hinauszögern. Außerdem sollten wir eine Heilerin mitschicken, sie kann sich Hughs Arm anschauen.«
Hal drehte seinen Kopf mit einem erschreckend düsteren Blick zu mir um, zog eine seiner Augenbrauen hoch und sah mich fragend an. »Und wie willst du erklären, dass auf einmal drei neue Mädchen zum Kochen kommen und dass auch noch eines davon zufällig eine Heilerin ist?«, grummelte er ärgerlich.
»Ein Fieber«, erklärte ich spontan, froh über meinen Geistesblitz. »Die drei Mädchen wurden ersetzt, weil sie krank geworden sind. Möglicherweise haben sie es sich von den Gefangenen geholt, und jetzt kommen neue mit einer Heilerin, die sich auch die Gefangenen anschauen soll.« Ich sah ihn vom Boden aus herausfordernd an, mein Kopf dicht an dem seinen. Den Blick hatte er wieder abgewendet und starrte stur zum Lager hinunter. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gesagt, unter seiner aufgesetzten Ruhe brodelte gerade wieder ein auflodernder Vulkan. Ich war gespannt, wann er ausbrechen würde.
»Hal, wir müssen morgen da runter und brauchen die Waffen, die von den Köchinnen ins Lager geschmuggelt werden«, warnte ich ihn eindringlich. »Hugh geht es jeden Tag schlechter, seit wir ihn beobachtet haben.«
»Mmh«, war alles, was von Hal kam.
Ich zählte im Geiste die Namen derjenigen auf, die ich dort hinunterschicken wollte, um für die Gefangenen zu kochen. Bisher hatten das die Frauen aus dem Dorf gemacht, die von den Engländern dazu abgestellt worden waren, meist Frauen der Handwerker, die zum Bau der Burg angestellt worden waren. Unser Plan war es gewesen, sie nach und nach durch unsere Kriegerinnen zu ersetzen, aber das dauerte mir zu lange. Der Junge brauchte dringend Hilfe.
»Kalay geht mit Winnie zuerst«, dachte ich laut nach, »und dann kommt Moira als Heilerin nach.«
»Moira geht nirgendwo hin«, fauchte Hal heiser.
»Moira ist unsere beste Heilerin«, entgegnete ich irritiert.
»Moira bleibt, wo sie ist!«
Der Ärger in seiner Stimme machte mich neugierig. Ich blickte ihn wieder von der Seite an. »Moira …«
»… bleibt hier!«, zischte Hal verärgert und schob sein Gesicht plötzlich ganz nah an das meine. Seine Augen leuchteten bedrohlich unter zusammengezogenen Augenbrauen. Was war denn auf einmal mit ihm los? Moira war unter meiner Anleitung zu einer der besten Heilerinnen geworden, die ich jemals ausgebildet hatte. Sie war meine rechte Hand und organisierte den Krankenbereich völlig selbstständig. Ihre Klugheit wetteiferte mit ihrer Schönheit, und die hatte es Hal wohl angetan. Nun, dann sollte er eben einen Vorschlag machen.
»Wen soll ich denn sonst schicken?«, forderte ich ihn auf.
Er reagierte nicht.
»Hal, ich schicke zwei Kriegerinnen mit, Moira wird nichts passieren!«
»Was ist, wenn wir angreifen, und sie gerät zwischen die Fronten?«, hielt er mir plötzlich entgegen, die Stirn legte sich in Falten.
»Ich werde sie zu den Gefangenen in die Fallgrube abseilen lassen«, schlug ich vor, überrascht von seiner Sorge um Moira. Hal sog scharf den Atem ein. Und da ich wusste, was jetzt kommen würde, fügte ich schnell hinzu: »Es sind anständige Männer dort, keine Wilden, und sie werden sie beschützen, glaub mir. Sie werden sofort merken, was vor sich geht, und ihr Kampfinstinkt wird sie anleiten, die Frauen zu schützen. Kein Engländer wird sich freiwillig in die Fallgrube verirren.«
Ich war mir sicher, dass dieser verwegene Plan klappen würde, und wir könnten wertvolle Zeit sparen, Zeit, die wir so dringend brauchten. Vorsichtig robbte ich zurück und erhob mich. Hal folgte mir, und während ich noch den Dreck von meinen Kleidern klopfte, machte ich Nägel mit Köpfen, bevor Hal es sich anders überlegte: »Los, gehen wir zurück zum Lager und besprechen uns mit den Mädchen.«
Damit drehte ich mich auf dem Absatz um und stieg hinunter zu den Pferden. Aber ich konnte dennoch Hals mürrisches Brummen in meinem Rücken hören.
* * *
James Douglas beobachtete bereits seit einiger Zeit das Verhalten der Frauen, die hier arbeiteten und höflich, aber distanziert waren. Direkten Blickkontakt gab es keinen, sie waren wohl vorher eingeschüchtert worden. Das Essen war für ein Arbeitslager erstaunlich gut, entgegen seiner Befürchtung, dass sie ihn und seine Leute aushungern würden. Die Verteilung des Essens übernahmen drei Frauen aus dem Dorf. Sie kamen frühmorgens, gaben das Frühstück aus, kochten das Mittagessen und später das Abendessen für die Gefangenen. Danach räumten sie auf und kehrten wieder zurück in ihre Häuser. Die Engländer waren peinlich darauf bedacht, dass die Frauen mit den Gefangenen Englisch sprachen, damit sie keine heimlichen Informationen auf Gälisch austauschen konnten.
Hugh musste an diesem Nachmittag trotz seines Fiebers arbeiten; James’ Fürbitte hatte den Kommandanten des Lagers nicht erweichen können. Der junge Engländer war neu im Amt und unsicher, wie er mit den Gefangenen umgehen sollte. Sein abweisendes Gesicht zeigte kein Verständnis für den schlechten Gesundheitszustand des jungen Douglas.
Ausgelaugt und müde mangelte es Hugh immer noch an Appetit, und er schaffte gerade mal die Hälfte seines Abendessens. Er schlief nach dem Essen sofort fiebrig ein, nur mit einer Wolldecke bedeckt gegen die bittere Kälte.
Zum Schlafen kletterten sie in eine Art Fallgrube hinunter über eine Leiter, die nach oben gezogen wurde, sobald der Letzte von ihnen unten angelangt war. Sie war etwas über drei Meter tief und an den Rändern überhängend. Die Wände waren glatt und rutschig. Kein Mann hatte es bisher geschafft, aus dieser Grube zu klettern. Es waren Stroh und Decken ausgelegt für die Gefangenen. Eng zusammengedrängt hatten alle vierundzwanzig Männer ausreichend Platz. So überstanden sie einigermaßen die kalten Nächte.
Besser als eine Zelle irgendwo in einem dunklen Kellerverlies, dachte sich James und drehte sich zu Hugh um, der mit dem Rücken zu ihm eingeschlafen war. Vorsichtig berührte er den mageren Körper des Sechzehnjährigen, der sich trotz der Kälte heiß anfühlte. Herrgott, lass ihn nicht sterben, schickte James ein Stoßgebet zum Himmel. Er ist alles, was mir von meiner Familie geblieben ist.
Schwermütig legte er seine von der harten Arbeit schwielige Hand beschützend auf die Schulter Hughs und schlief erschöpft ein. Die Sterne funkelten gnädig über ihnen in der klaren Dezembernacht, als hätten auch sie ein Auge auf seinen kranken Bruder.
* * *
Am nächsten Morgen waren es plötzlich drei unbekannte Frauen, die das Brot und den Haferbrei verteilten – ein Umstand, der James erstaunte, denn die Engländer waren aus gutem Grunde sehr misstrauisch gegenüber Fremden. Wo waren die anderen Frauen aus dem Dorf geblieben? Hatten sie genug vom täglichen Anblick der zerlumpten Gestalten?
Aber als eine der drei Frauen, die sich als Moira vorstellte, sich sofort um seinen Bruder kümmerte, keimte in James neue Hoffnung. Sie schien sich mit kranken Menschen auszukennen, und vielleicht war das sogar der Grund für den Wechsel der Köchinnen. Moira verbreitete eine mütterliche Wärme, die selbst der Kälte des Steinbruchs zu trotzen schien, und besaß ein sanftes, aber bestimmtes Wesen. Damit brachte sie nicht nur Hugh, sondern alle Schotten und sogar die Engländer zum Lächeln. Sie war ein bildhübsches Mädchen mit einer zierlichen, weiblichen Figur. Das einfache Leinenkleid schmeichelte jeder ihrer Bewegungen, und ein Ledergürtel betonte ihre schlanke Taille.
Die Männer wandten die Köpfe, wenn sie mit wippendem Rock an ihnen vorbeischwebte und ihr wärmstes Lächeln aufsetzte. Gebannt hielten die Schotten in ihrer Arbeit inne, und die Engländer vergaßen für einen Augenblick, ihre Gefangenen zu bewachen.
Mit geübten Handgriffen richtete sie Hugh den Arm, umwickelte ihn mit einer kühlenden Kräuterpackung und schiente ihn notdürftig. Zusätzlich bekam er einen speziellen Tee, den er so oft wie möglich trinken sollte. Moira war es auch, die dafür sorgte, dass er von der Arbeit pausieren konnte. Ein Lächeln von ihr, und der wachhabende Kommandant ließ Hugh sich in der Fallgrube mit seinem Tee und einer warmen Decke ausruhen.
Die englischen Wachsoldaten ließen nach dem Frühstück die komplette Truppe in einer Reihe antreten. Der junge Offizier klärte die Gefangenen darüber auf, dass sich die Frauen aus dem Dorf am Vortag ein Fieber zugezogen hätten, das eventuell auch unter den Gefangenen grassiere. Eine Heilerin werde die Männer auf Fleckfieber hin untersuchen.
James ließ es zu, dass Moira – unter strenger Aufsicht – auch sein vom struppigen Bart überwuchertes Gesicht und den Oberkörper nach rötlichen Flecken untersuchte. Sie sah ihm in die Augen und zupfte dabei mit spitzen Fingern eine Laus aus seinem Bart. Jetzt konnte er ihr Gesicht aus der Nähe bewundern und verstand auf Anhieb, was die Männer so verzückte. Feine helle Haut, ein ebenmäßiges Gesicht, die Lippen waren voll und sinnlich, und die Augen hatten eine Farbe wie reifer Uisge beatha. Für Männer in seiner Situation musste sie wie ein Engel erscheinen. Er murmelte auf Englisch einen Dank für ihre Behandlung seines Bruders.
»Es wird ihm bald besser gehen«, erwiderte Moira mit gesenkter Stimme – auf Gälisch! James verbarg seine Überraschung mit einem Hüsteln hinter der hohlen Hand und versicherte sich mit einem schnellen Blick, ob einer der Wachhabenden den Austausch mitbekommen hatte. Moira drehte seinen Kopf mit der Hand in die andere Richtung und sah sich sein Gesicht an. Dann fühlte sie mit weichen, warmen Händen seine Stirn, blickte ihn direkt an und blinzelte mit einem Auge. Sein Herz blieb für ein paar Sekunden stehen. Was wollte sie ihm damit sagen? Schließlich drehte sie sich um und schüttelte den Kopf in Richtung des Kommandanten, um zu signalisieren, dass dieser Schotte kein Fieber hatte. Zielstrebig wandte sie sich dem nächsten Gefangenen in der Reihe zu.
Die Frau ging ihm nicht aus dem Kopf. Irgendetwas sagte ihm, dass sie nicht hierhergehörte, auch nicht ins Dorf zu den anderen Frauen. Sie passte so gar nicht zu ihnen. Er konnte es kaum erwarten, sich in die Warteschlange für das Mittagessen einzureihen, um auch die anderen beiden Frauen zu betrachten. Die eine war groß, schlank mit einem langen rotblonden Zopf, der unter ihrer Haube bis zu den Hüften reichte. Sie machte einen robusten und zähen Eindruck. Sie hätte aus den Highlands stammen können mit ihren grauen Augen und den vielen Sommersprossen im Gesicht. Sie trug ein einfaches Leinenkleid, wie es bei den Mägden und Bäuerinnen aus dem Dorfe üblich war. Trotzdem wirkte es bei ihr irgendwie fehl am Platze. Sie strahlte in jeder ihrer Bewegungen eine eigenartige Lässigkeit aus.
Sie hielt den Griff der Suppenkelle wie eine Waffe und verschüttete trotz zügiger Arbeit kein bisschen kostbares Essen beim Einfüllen in die Holzschüsseln. Das hochgeschossene Mädchen sah dabei niemanden an, konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit.
Die Zweite dagegen war ein freches Ding. Komplett in ein etwas zu groß geratenes Kleid eingehüllt, wirkte ihr Körper auffällig klein. Aber ihre mangelnde Körpergröße machte sie durch ihren Auftritt wieder wett. Sie grinste ihn von unten keck an und hielt ihm ein Stück Brot hin. Als er es nehmen wollte, ließ sie es fallen, und er konnte es gerade noch auffangen. Dabei hätte er beinahe die Suppe verschüttet. War sie etwa verrückt?
Mit theatralischer Geste verbeugte sie sich entschuldigend vor ihm. Einige aus der Reihe konnten sich ein Grinsen kaum verkneifen. Selbst die Engländer lachten mit, als wäre sie zu deren Unterhaltung hier.
Den Spaß gönnte die Kleine sich noch ein paarmal und zauberte damit ein kleines Lächeln auf die Trauermienen seiner Leidensgenossen. Sie sah auch wirklich lustig aus mit ihren kurzen schwarzen Haaren, die wirr um ihr Gesicht wippten, den blauen Augen und der kleinen Stupsnase. Ihre lebhafte Mimik unterstrich den Eindruck, dass sie ein wahres Energiebündel war, bis einem Wachhabenden schließlich doch der Kragen platzte und er sie anherrschte, damit aufzuhören.
Da drehte sie sich um und konterte mit einer piepsigen Stimme: »Dein Leutnant sagte, wir dürfen nicht mit ihnen sprechen, aber er hat uns nicht verboten, mit ihnen zu scherzen. Und wenn du in deinem Teller nicht den Schwanz einer Ratte finden willst, dann hältst du jetzt besser die Klappe!«
Der Soldat riss vor Schreck die Augen auf, dann wurde er rot, wandte sich verärgert mit geballten Fäusten ab und bezog etwas weiter weg erneut Stellung. Die Kleine grinste in die Reihen der Gefangenen, die gar nicht fassen konnten, wie selbstbewusst sie die Runde für sich entschieden hatte. Moira, die das Geschirr säuberte, lachte James offen an, und er zwinkerte ihr zu.
James war sich jetzt sicher, dass keine der Frauen aus dem Dorf war. Nur wer waren sie dann? Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, wie die drei an diesen trostlosen Ort gelangt waren. Sie mussten geschickt worden sein, aber von wem?
* * *
Die Anwesenheit der hübschen und unerschrockenen Frauen, die ein wenig Farbe in das triste Grau des Steinbruchs brachten, hatte vielen Gefangenen den Arbeitstag erleichtert. Selbst die Engländer hatten begriffen, dass ein wenig Abwechslung nicht schadete, und scherzten mit den Mädchen, die sich in ihrer Pause ins warme Zelt der Soldaten zurückziehen durften.
Vor dem Abendessen zog plötzlich eine Gruppe Berittener in den Steinbruch ein, in deren Mitte sich Simon de Montfort, der Earl von Leicester, befand. In seinen jungen Jahren mochte er ein stattlicher Mann gewesen sein. In seiner kostspieligen Aufmachung mit dem üppig verzierten Brustpanzer zog er schon von Weitem die Blicke aller Arbeiter auf sich, und auch die Mädchen blickten neugierig von der Essensstelle auf. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. Er sah aus, als hätte er schon in frühen Jahren das Lachen verlernt. Entsprechend schnell war die gute Stimmung verflogen, und eine seltsame Anspannung senkte sich wie Blei auf die Anwesenden. Behäbig stieg der Earl aus dem Sattel seines Schlachtrosses, das den Kopf schüttelte und versuchte, sein Zaumzeug klirrend an seinem Fuß abzureiben. Selbst das Pferd schien genug von seinem missmutigen Reiter zu haben.
Der diensthabende Kommandant ließ die Gefangenen antreten und meldete seine Truppe, den Tageserfolg und den Zustand des Lagers an. Damit wurde aber die schlechte Laune des Earls nicht besser. Nervös und frierend traten die Gefangenen von einem Bein auf das andere, das Unheil ahnend. Es war so kalt, dass der Atem vor dem Mund kleine Nebel bildete. Viele rieben sich die Hände aneinander, um damit ein wenig Wärme zu erzeugen. Die Mädchen mussten auf Befehl des Earls hin die Vorbereitungen für das Abendessen unterbrechen und traten schüchtern zu den in zwei Reihen aufgestellten Gefangenen. Gegen die Kälte trugen sie jetzt wärmende Plaids über den Schultern.
»Durchzählen!«, befahl Simon de Montfort in hartem Befehlston, der keinen Widerspruch duldete. Jeder Gefangene zählte in seiner Reihe weiter, bis der letzte laut die Zahl dreiundzwanzig verkündete. Totenstille.
»Letzte Woche waren es noch vierundzwanzig, und mir wurde kein Todesfall gemeldet. Also, wo ist der Fehlende?«, fuhr der Earl den Kommandanten an. Der zeigte eifrig auf die Fallgrube.
»Dort in der Fallgrube, Mylord. Er ist krankgemeldet auf Geheiß der Heilerin. Er fiebert, Mylord.«
Die Lippen des Earls wurden schmal. Er fuhr den Kommandanten an: »Bringt diesen Kerl und diese verdammte Heilerin sofort zu mir. Wer in Teufels Namen soll das eigentlich sein?«
Dann ging alles sehr schnell. In Windeseile zog man den schlaftrunkenen und verwirrten Hugh aus der Fallgrube, und Moira fand sich bald neben ihrem Patienten wieder, den sie fürsorglich am Arm stützte, damit er nicht hinfiele. Er litt noch immer unter der Wirkung des Schlaftrunks, den sie ihm verabreicht hatte.
Mit auf dem Rücken verschränkten Armen ging der Earl auf die beiden zu und stierte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
»Der junge Douglas, hatte ich es mir doch gedacht …«, sagte er mehr zu sich selbst. »Warum kannst du faules Stück hier nicht arbeiten?«, fauchte er Hugh an. »Selbst mit einem kaputten linken Arm kann man immer noch mit der Rechten die Steine aufsammeln!«
Moira nahm ihn mutig in Schutz. »Sein Arm heilt nicht richtig und hat das Fieber auf sich gezogen. Er kann nicht für Euch arbeiten, er wäre unnütz im Steinbruch, und ich habe ihn heute mit einer Medizin schlafen lassen.«
»Während alle anderen arbeiten, ruht sich dieser schottische Dreckskerl aus?«, spie der Earl ihr entgegen. »Und wer bist du, Dreckshure, dass du dich über meine Befehle hinwegsetzt?«
»Mylord, ich bin eine Heilerin, und wenn sich der junge Mann nicht erholt, wird er sterben und kann Euch nicht mehr nützlich sein«, erklärte Moira mit fester Stimme.
James beugte sich unwillkürlich vor. Er stand nicht weit weg von den beiden und machte sich bereit, jederzeit dazwischenzugehen, wenn der Earl dieser Frau etwas antun sollte.
»Heilerin also«, grübelte der auf einmal gefährlich leise. »Wie ist dein Name?«
Moira schluckte sichtbar. »Ich heiße Moira, Moira Colhoun«, sagte sie zögernd.
»Ich kenne keine Moira Colhoun«, entgegnete der Earl mit leiser Stimme, die sehr viel bedrohlicher war als das laute Bellen.
»Ich bin erst seit Kurzem im Dorf, Mylord. Mein Gatte ist gestorben, und daher musste ich vor wenigen Monaten zurück zu meiner Familie ins Dorf.« Moiras Stimme zitterte, die Lüge stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Ich kenne auch keine Familie mit Namen Colhoun, Weib!«
Totenstille. Der Earl drehte sich langsam zum Kommandanten um, der nun ebenfalls nervös wurde. »Hat man sie überprüft?«
»Eh, ehrlich gesagt, nun ja, da sollte ein Fieber im Lager sein …«, stammelte der junge Offizier, bevor de Montfort ihn mit einem kräftigen rechten Haken aus den Schuhen hob. »Nimm deine Sachen und verschwinde von hier, du Anfänger! Ich nehme die Sache selbst in die Hand«, brüllte er ihm mit rot verfärbtem Kopf hinterher, als der junge Mann sich verstört aufrappelte und vor ihm zurückwich.
»Fieber, pah!«, stieß der tobende Earl aus. »Mir scheint, hier kann jeder rein- und rausspazieren, wie es ihm beliebt!« Seine Stimme hatte wieder den bellenden Klang. »Wache! Peitscht dieses faule Stück schottischen Gedärms hier aus, der auf Kosten der anderen simuliert. Elf Peitschenhiebe, für jede der heute verpassten Stunden einen!«
Moira stieß einen Schrei des Entsetzens aus und stürzte auf den Earl zu. »Das dürft Ihr nicht machen, Mylord, er wird daran sterben! Er ist so geschwächt.« Sie ließ sich vor ihm sogar auf die Knie fallen, ihr Kopftuch verrutschte, als sie ihn bitterlich anflehte: »Ich bitte um Vergebung, es war meine Schuld, ich …«
Sie kam nicht weiter, seine riesige Hand sauste herab in das Gesicht der entsetzten Moira, die wie ein Sack nach hinten fiel. Das Geräusch dabei erinnerte an knirschende Knochen, und James sprang nach vorn, blind vor Wut. Brüllend stürzte er sich auf den Earl, der völlig überrascht war von diesem blindwütigen Angriff. Nicht nur er, alle Männer – allen voran Lachlan McKay – schienen auf einmal verrückt zu spielen und stürzten sich mit Gebrüll auf den verhassten Simon de Montfort und seine Leute.
Der wich hastig zurück in den Kreis seiner Soldaten, die sich den Angreifern in den Weg stellten. Ein unorganisierter Aufstand gegen bewaffnete Soldaten war zwar mutig, aber ausgesprochen schmerzhaft für die Angreifer. James bekam mit einem Stock einen Hieb in den Bauch, der ihn stöhnend zusammenklappen ließ. Ein Fußtritt ins Gesicht ließ ihn endgültig benommen zu Boden gehen. Seinen Mitgefangenen erging es nicht anders, und sie wurden schnell außer Gefecht gesetzt oder ergaben sich.
Nur vage bemerkte James, dass er von den Soldaten in die Fallgrube geworfen wurde. Das weiche Stroh fing ihn auf, aber seine Eingeweide schmerzten beim Aufschlag. Der restliche Trupp durfte die Leiter benutzen. Kaum einer, der nicht ein blaues Auge oder eine blutende Nase hatte, hier und da ein ausgeschlagener Zahn, aber keinerlei Verluste. Nur Hugh fehlte, er musste zusammen mit den drei Mädchen oben bleiben.
James’ Kopf dröhnte von dem Fußtritt, und er tastete mit seinen Fingern vorsichtig sein Gesicht ab. Er spürte eine aufgeschürfte Stelle seitlich am Kinn, wo ihn der Stiefel getroffen hatte, und stieß einen Fluch aus, der so viel von dem Schmerz, der Qual und dem Leid ausdrückte, das er gerade empfand. Hugh! Mein Gott, Hugh, was habe ich nur getan …
Und als er die Peitschenhiebe von dort oben hörte, die entsetzten Schreie von Moira und das schmerzvolle Brüllen seines kranken Bruders, schloss er die Augen und fing an zu beten.
* * *
Er machte seine Augen erst wieder auf, als er den geschundenen Körper seines Bruders neben sich aufschlagen hörte. Sie hatten ihn einfach heruntergeworfen wie ein Stück Vieh, und er landete schwer im Stroh auf dem Rücken, sein gebrochener Arm in seltsamem Winkel verdreht. Er war ohne Bewusstsein, sein zerrissenes Hemd hing ihm in Fetzen vom blutenden Rücken. James nahm ihn in die Arme, in seinen Augen standen Tränen. Fest drückte er den reglosen Jungen an seine Brust. Die Wut und das Entsetzen nahmen ihm fast den Atem, und er stammelte immer und immer wieder Hughs Namen.
Kurz darauf fiel eines der Mädchen in die Grube, rollte sich geschickt ab und sprang behänd wieder auf. Es war die Kleine mit den kurzen Haaren. Danach folgte die Rothaarige, die mit beiden Beinen aufkam, sich abfederte und stand. Beide versuchten, nun auch noch die dritte aufzufangen, die vom Rand heruntersprang. Die anderen Männer, die diese Aktion mitbekamen, halfen ihnen, damit Moira sich nicht wehtat.
James sah die grinsenden Engländer über den Rand blicken. Sie feixten und spuckten auf sie herab. Anscheinend waren die Mädchen lieber in die Grube gesprungen, als Freiwild für die Engländer zu werden. Über allen erhob sich nun das Faltengesicht des Earls, der für alle hörbar den Schuldspruch über die Mädchen fällte.
»Sie wollten lieber zu euch Kellerasseln als mit uns den Abend zu verbringen, so sollen sie auch dort unten bleiben. Ein Simon de Montfort lässt sich nicht verarschen, habt ihr verstanden? Heute Nacht könnt ihr darüber nachdenken, welche Seite ihr wählt, meine Täubchen!« Das hässliche Gelächter seiner Schergen begleitete seine kalten Worte.
»Wenn morgen überhaupt noch was von denen übrig ist«, hörte er ihn noch lachend zu seinen Männern sagen, als er schon wieder zurück zum Zelt stapfte, um sein Abendessen einzunehmen.
Die drei Mädchen umklammerten einander, Moira schien immer noch unter Schock zu stehen. Ängstlich sah sie sich um. Die beiden anderen starrten regungslos in die Runde. Trotzig hatten sie ihr Kinn gereckt. Von Angst war in ihren Gesichtern nichts zu erkennen. Die Männer hatten sich im Kreis um die Frauen gestellt, hielten sich aber zurück und warteten auf die Befehle ihres Anführers. Auch in Gefangenschaft war die Hierarchie völlig klar, James Douglas blieb ihr Laird.
Auf einmal fiel Moiras Blick auf Hugh, und sie stürzte mit einem entsetzten Keuchen auf ihn zu. »Lasst mich ihn ansehen! Mein Gott, wie entsetzlich, wie konnten sie dem Jungen das nur antun«, entfuhr es ihr, als sie ihn vorsichtig mit James’ Hilfe auf den Bauch legte. »Und ich kann nichts für ihn tun, meine Tasche ist oben. Vielleicht kann ich die Engländer bitten …?«
In diesem Moment fiel ihr Blick auf James, und sie verstummte. Sein wütender Blick sagte ihr, dass sie außer ein paar Beleidigungen nichts von dort oben bekommen würde. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und wendete sich ab. Still rannen ihr die Tränen über die Wangen.
James wandte sich an die beiden anderen Mädchen, die abwartend danebenstanden. »Wer seid Ihr eigentlich, und was habt Ihr hier verloren?«, verlangte er eine Erklärung.
Die Größere sprach nun zum ersten Mal. Ganz ruhig und mit dieser beeindruckenden Lässigkeit deutete sie mit einem Finger nach oben und sprach in breitem Gälisch: »Wir dachten, wir wären hier sicherer als dort oben.« Dabei grinste sie verwegen. »Mein Name ist Kalay, und die Kurze mit dem losen Mundwerk dort ist Winnie.«
Winnie verbeugte sich und grinste frech. »Gestatten, Mylord, dass wir so unangemeldet hier hereinplatzen, aber ich wusste nicht, wo ich anklopfen sollte …«
Kalay schlug Winnie mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf und entschuldigte sich bei James. »Dieser Zwerg hat einfach kein Benehmen und schon gar keinen Anstand.«
»Und dein Hirn ist der Sonne näher und von der Hitze völlig verbrannt, deswegen gibst du nur Blödsinn von dir«, keifte Winnie zurück.
James erhob sich stöhnend, baute sich vor den beiden Streithälsen auf und wiederholte in einer erstaunlich ruhigen Stimme, die nichts von dem Aufruhr in seinem Herzen preisgab: »Ich bitte Euch, sagt mir einfach, was hier los ist. Wer in Gottes Namen hat Euch geschickt?«
»Nun«, erklärte Winnie, »da ist wohl was schiefgelaufen.« Sie neigte den Kopf, als wäre ihr die Situation unangenehm. »Wir sollten überhaupt nicht hier sein, zumindest Kalay und ich nicht.«
»Wo solltet Ihr denn sonst sein?«, fragte James geduldig nach, obwohl ihm langsam der Kragen platzte.
»Nun ja, oben im Steinbruch, die Waffen verteilen und die Soldaten erschlagen«, ergänzte Kalay, als wäre das völlig normal.
»Ihr beide? Ihr allein?«, krächzte er, sein Kopf dröhnte wieder.
Winnie lachte. »Nein, du Hornochse, mit allen anderen natürlich!«
Kalay versetzte ihr einen leichten Stoß. »Das ist Sir James, du redest ihn in der dritten Person an und mit Mylord, kannst du dir das nicht merken?«, zischte sie ihr zu.
»Ach so, ja, entschuldigt Mylord. Ihr Hornochse natürlich«, korrigierte sich Winnie und knickste.
James’ Schultern sanken merklich. Schlimmer konnte es nicht kommen. Drei Frauen, die versuchten, vierundzwanzig Männer aus einem Erdloch zu retten, davon einer halbtot, und zwei der Frauen schienen noch nicht einmal bei klarem Verstand zu sein. Er wischte sich mit der Hand über die Augen. Auf einmal überkam ihn eine bleierne Müdigkeit.
»Wer hat Euch geschickt? Wo kommt Ihr her?« James setzte noch einmal zu einem Versuch an, Klarheit in das Geschehen zu bekommen. Aber die beiden ungleichen Frauen schwiegen. Keine wollte mehr zu der verfahrenen Situation sagen als nötig, und alle hatten sie die Arme vor der Brust verschränkt. Hilflos und müde zuckte er mit den Schultern, wischte sich mit der Hand über die Augen.
»Wir lösen das morgen«, murmelte er nur und wandte sich wieder seinem bewusstlosen Bruder zu.
Seine Männer, die das Treiben fassungslos mitverfolgt hatten, wurden unruhig. Sie kannten ihren Anführer als starke Persönlichkeit und machten sich nun Sorgen. Lachlan trat vor und machte einen Vorschlag, um seinem Laird aus der Klemme zu helfen. »Sollen wir versuchen, die Frauen in der Nacht hinaufzuhieven, damit sie weglaufen können? Wenn die da oben weiter so saufen und fressen, kriegen sie es vielleicht gar nicht mit, wenn die drei abhauen.«
»Sie würden nicht am Zelt de Montforts vorbeikommen, nicht solange dort Wachposten stationiert sind, und das ist nun mal der einzige Weg aus dem Steinbruch«, entgegnete James tonlos und schüttelte den Kopf. »Nein, sie bleiben vorerst hier, wir warten, bis die Nacht hereinbricht. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um sie abzulenken.«
James Douglas raufte sich verzweifelt die Haare. Er hatte keine Ahnung, wie er sie sicher aus diesem Loch herausbringen sollte. Sie waren hier gefangen, genau wie seine Männer.
Missmutig teilten sie sich die Decken auf und wickelten den bewusstlosen Hugh vorsichtig in eine davon. Moira konnte zwar für den gebrochenen Arm nichts mehr tun, schaffte es aber, die beim Sturz ausgekugelte Schulter wieder einzurenken. Hugh ging es sehr schlecht. Die neuen Wunden an seinem Rücken und der Blutverlust hatten seinen Zustand nur noch verschlimmert.
James legte sich zum Schlafen nieder und nahm seinen Bruder in den Arm. Er war elendig erschöpft und ausgezehrt. Sie hatten kein Abendessen bekommen, und der Hunger nagte zusätzlich an seinen Nerven. Die Frauen legten sich wärmend aneinander und warteten so die hereinbrechende Nacht ab. Noch lange war der Lärm der im Zelt zechenden Soldaten zu hören, die dort Simon de Montfort mit Wein und einem warmen Essen verköstigten. Wie unmenschlich und obszön, dachte James, wenn siebenundzwanzig Menschen daneben in einer kalten Grube vor Kälte und Hunger zitterten.
* * *
Irgendwann breitete sich im Steinbruch dann doch Stille aus. Eine Stille, die unheimlich war nach dem Lärm der vorangegangenen Stunden. James wachte davon auf. Er überprüfte Hughs Atem, der zum Glück gleichmäßig ging. Dann horchte er wieder nach draußen. Nur der Mond und der Sternenhimmel ließen etwas Licht in das dunkle Loch, und er konnte die aufgereihten Leiber unter den Plaids und Decken erkennen.
Nach einiger Zeit wurde ihm klar, was ihn so störte an der Stille. Nicht ein einziges Tier gab einen Laut von sich, und dies war für ihn ein Zeichen, dass irgendwo da draußen jemand war; jemand, den sogar die Tiere fürchteten. Kein Schrei einer Eule, kein raschelnder Hase, kein heulender Wolf. Er lauschte angestrengt. Es war wie die Stille vor einem Sturm.
Und der Sturm brach kurz darauf los. Enja und ihre Kampfgefährten fielen in das Lager der Engländer ein. Angst- und Todesschreie wurden laut, es entstand ein Kampfgetöse, in dem sich die Schreie der Soldaten mit dem Lärm von Metall, das auf Metall trifft, vermischten. Es war die unerbittliche Klaviatur des Todes, eine Melodie, die James und seinen Leuten so vertraut war.
James ließ, ohne nachzudenken, seine inzwischen hellwachen Gefolgsleute und die drei Frauen, die sich erschrocken aus den Decken schälten, an der Wand der Grube aufstellen, um sie vor herumfliegenden Teilen zu schützen. Er selbst hielt Hugh mit beiden Armen fest an seinen Körper gepresst, die schlaffen Gliedmaßen baumelten leblos herunter. Tatsächlich fielen kurze Zeit später Fackeln und Waffen in die Grube; ob beabsichtigt oder nicht, konnte er nicht sagen. Sofort nahmen die Männer sie auf, bevor sich das Stroh entzünden konnte. McKay hatte sich ein Schwert und die wieselflinke Winnie ein Messer geschnappt, das viel zu groß für sie wirkte. Alle lauschten gespannt und atemlos an die Wand gepresst, während oben der Kampf tobte.
Ein besonders erbitterter Kampf schien sich zwischen zwei Männern zu entwickeln, deren Grunzen und Schnaufen dem Rand der Grube immer näher kam. Dumpfe Schläge und krachende Knochen zeugten von einer unerbittlichen Auseinandersetzung. Plötzlich sah James, wie ein Körper mit Wucht über den Rand der Grube geschleudert wurde und vor ihm im Stroh aufschlug. Er spannte seinen Körper an. Im Schein der Fackeln erkannte er Simon de Montfort, der sich jetzt benommen aufzurichten versuchte. Hätte James nicht seinen Bruder in den Armen gehalten, wäre er hingesprungen und hätte den Earl mit bloßen Händen getötet.
Aber jemand anderes kam ihm zuvor: Ein zweiter Mann sprang in die Grube und setzte mit beiden Füßen auf. Selbst im Halbdunkeln erkannte James sofort, wer dieser grimmige Krieger war. Es war der Hüne, der Enja von der Burg seiner Eltern abgeholt hatte. Jetzt stand er vor ihm wie der Leibhaftige selbst, mit einem Ausdruck im furchterregend bemalten Gesicht, den er im silbrigen Mondschein nur als Mordlust beschreiben konnte. Die Fackeln erleuchteten die gespenstische Szene nur vage, doch die Flammen spiegelten sich in seinen Augen wider. Ohne auf die Umstehenden zu achten, zog er eine seiner Äxte aus dem Gürtel und schlug dem auf allen vieren aufgerichteten Lord von Leicester Castle mit einem kraftvollen Hieb den Schädel ein. Krachend gab der Knochen nach. Der Krieger zog seine Axt wieder heraus und ließ den reglosen Körper liegen. Angespannt, mit leicht vorgebeugtem Oberkörper sah er sich nach einem bekannten Gesicht um, bis seine Augen schließlich bei Moira hängenblieben.
»Moira!«, entfuhr es ihm, halb erleichtert, halb besorgt, als er im Fackellicht ihr zugeschwollenes Auge sah.
»Es geht uns gut, Hal. Winnie und Kalay sind hier, uns ist nichts passiert«, beruhigte Moira ihn in gälischer Sprache. Sie erklärte ihm kurz die Situation und stellte ihm James Douglas vor.
James nickte ihm dankend und voller Erleichterung zu. »Ich hoffe, Ihr könnt uns helfen, hier herauszukommen. Mein Bruder braucht dringend Hilfe von einem Heiler.«
Hal konnte sehen, dass der junge Mann in James’ Armen dem Tod näher war als dem Leben, und nickte. »Ich bin Cathal Ó Searcaigh«, stellte er sich vor und streckte ihm seine Pranke entgegen. »Nennt mich Hal.«
Die Situation hatte etwas Unwirkliches, als James seinen bewusstlosen Bruder Hugh an Lachlan übergab und Hals dargebotene Hand mit aller Kraft drückte. Es war mehr als Dankbarkeit, die er mit dieser Geste ausdrücken wollte. »Danke, Hal«, sagte er erstickt und legte seine linke Hand noch zusätzlich darauf. »Danke …«
Von oben erschallte plötzlich ein Pfiff. Hal trat zurück und pfiff ebenfalls. Er bedeutete einigen Leuten, die noch an der Wand standen, zur Seite zu gehen und griff die Leiter, die jetzt heruntergelassen wurde. Am Grubenrand waren inzwischen viele Gesichter zu sehen, die heruntergrinsten. Fröhliche Rufe begleiteten die drei Frauen, als sie nach oben kletterten, allen voran Moira, die es gar nicht erwarten konnte, aus dieser schrecklichen Falle herauszukommen.
Als Vorletzter stieg Hal nach oben. Er nahm den bewusstlosen Jungen über die Schulter und kletterte die Holzleiter, die sich gefährlich unter seinem Gewicht bog, nach oben. Zuletzt stieg James Douglas hinauf und fand sich einer größeren Anzahl an unbekannten Frauen und Männern gegenüber, die ihn erwartungsvoll anblickten. Der Steinbruch war kaum wiederzuerkennen, von zahllosen Fackeln erleuchtet, bot er einen Schauplatz des Grauens. Das Zelt der Engländer war niedergerissen worden, Leichen lagen überall verstreut. Anscheinend hatte keiner der Soldaten überlebt.
James schluckte schwer, als er seine Clansleute sah, die gerade etwas Wasser und Brot erhalten hatten, um den gröbsten Hunger zu stillen. Die Erkenntnis, dass er frei war, dass diese unbekannten Männer und Frauen hier für ihn und seine Leute gekämpft hatten, ließ ihn erschauern. Jemand reichte ihm ebenfalls Wasser und Brot, das er dankbar annahm. Es war Kalay, die ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte. Moira kümmerte sich bereits um Hugh.
Hal und ein paar Helfer sammelten die noch brauchbaren Waffen und Werkzeuge ein; eine gute Ausbeute für den heutigen Tag. McKay ging auf James zu, und beide umarmten sich erleichtert. Dann fiel sein Blick auf die Gestalt, die von der Anhöhe herunterkam und jeden der Männer mit einem Handschlag begrüßte.
Sie steckte in schwarzen Hosen, festen, hohen Lederstiefeln, einer Tunika mit Lederweste und trug ein langes dunkles Plaid darüber, das an der Schulter mit einer Spange zusammengehalten wurde. Dahinter lugte der helle Griff ihres schräg über den Rücken geschnallten Schwertes heraus.
Sie war noch schöner, als James sie in Erinnerung hatte. Das lange Haar war am Oberkopf festgesteckt, ein oder zwei Strähnen hingen ihr seitlich am Ohr herunter. Gerade kam sie auf ihn zu.
Leicht und federnd bewegte sie sich wie eine Katze. Ihre helle Haut wirkte im Fackelschein noch heller. Die Augen waren in dem schwachen Licht fast schwarz und glänzend, ihre Gesichtszüge im Halbschatten verborgen. Aber er konnte sehen, dass sie lächelte, und ein seltsamer Druck legte sich auf seinen Brustkorb, sein Herz schlug auf einmal ungewöhnlich schnell.
Sie blieb vor ihm stehen und streckte ihre rechte Hand aus. »Lord James Douglas, nehme ich an?«, fragte sie förmlich und zeigte dabei ihr bezauberndstes Lächeln. Sie hatte ihn bei seinem Titel genannt, einem Titel, der einst seinem Vater gehört hatte und jetzt auf ihn übergegangen war – alles, was ihm noch geblieben war.
Er ergriff ihre kühle feste Hand, räusperte sich und erwiderte ebenso förmlich: »Enja von Caerlaverock, welch eine Ehre, Euch wiederzusehen.« Und zum ersten Mal seit langer Zeit huschte ein Lächeln über seine Lippen. »Ich nehme an, meine Männer und ich sind Euch zu größtem Dank verpflichtet. Aber sagt, warum habt Ihr uns von den Engländern befreit?«
»Euer Dank in Ehren, Mylord«, entgegnete sie ihm ernst. »Aber ich habe nur meine Schuld Euch gegenüber eingelöst. Ihr habt mir damals das Leben gerettet, ich nun das Eure.« Und mit einer angedeuteten Verbeugung unterstrich sie, wie wichtig es ihr gewesen war, diese Schuld zu begleichen. »Außerdem«, führte sie weiter aus, »braucht Robert de Bruce noch Kämpfer für sein Heer. Ich nehme an, Ihr habt mit dem englischen König noch eine Rechnung offen?«
James nickte grimmig. Das war milde ausgedrückt.
»Dann wird es Euch freuen zu hören, dass ein Schiff auf Euch wartet und ich Euch mit all Euren Männern zu ihm bringen werde. Seid Ihr bereit für eine kleine Reise?« Enja sah ihn forsch an.
»Ich würde selbst durch die Hölle reiten, wenn ich Edward dort finden könnte. Aber wie gelangen wir von hier weg? Zu Fuß kommen wir nicht weit …« Seine Augen waren wieder bei seinen Männern, die sich gerade mit warmen Decken einhüllten.
Enja folgte seinem Blick. »Lasst das meine Sorge sein. Vor dem Morgengrauen wird niemand bemerkt haben, was heute Nacht passiert ist, und bis dahin sind wir über alle Berge. Die Männer sind bis auf Hugh alle in der körperlichen Verfassung, ein paar Stunden bis zur Küste zu reiten. Wir machen keine Pause.«
»Was geschieht mit Hugh? Ich werde ihn nicht allein lassen, eher bleibe ich zurück …«, platzte es aus James heraus. Aber Enja wischte seine Bedenken mit einer Handbewegung fort.
»Er wird von meinen Leuten nach Caerlaverock gebracht und gesundgepflegt, macht Euch keine Sorgen. Er ist in guten Händen.«
In diesem Augenblick hörte James das Geräusch von Pferdehufen, und eine ganze Herde schottischer Ponys trabte in den Steinbruch, flankiert von zwei Reitern, die zu Enjas Kriegerinnen gehörten. Es waren ihre Highlandpferde, die trittsicher und anspruchslos für viele Stunden laufen konnten. Sie hatte einen Narren gefressen an diesen struppigen Tieren.
»Lasst Eure Männer die Ponys besteigen und dann los!«, rief Enja dem Anführer des Douglas-Clans mit lauter Stimme zu und steckte die Finger in den Mund für einen langanhaltenden Pfiff.
»Hal, wirf die Leichen ins Loch und schichte Steine drauf. Wir sehen uns in Caerlaverock!«, rief sie dem tätowierten Hünen zu und rannte auf einen Rappen zu, der wie der Blitz hinter der Anhöhe hervorpreschte und vor ihr mit rutschenden Hufen zum Stehen kam. Mit der linken Hand am Sattelknauf schwang sich Enja mit einem Sprung auf den Rücken des prachtvollen Tieres. Ein Lederband, das unter seinem Kinn befestigt war, diente als Zügel, und selbst den brauchte Enja nicht. Pferd und Reiter verschmolzen zu einer Einheit, so schien es.
Verblüfft von dem beeindruckenden Paar ließ James seine Männer aufsitzen und nahm sich selbst eines der zähen Highlandpferde, die so ideal waren für die harten Ansprüche dieser Gegend und auch im Dunkeln ihren Weg fanden. Enjas Leute hatten ihnen Decken auf dem Rücken gefaltet, die mit einem großen Gurt festgeschnallt waren, die einfache Version eines Sattels.
Die Ponys bewegten sich nicht von der Stelle. James’ Hände krallten sich in die dicke Mähne. Die Vierbeiner schienen auf irgendein Zeichen von Enja zu warten, die mit fünf ihrer fackeltragenden Krieger nun wie ein Kommandant an ihnen vorbeiritt. James sah Winnie auf dem kleinsten Pony sitzen, das er je gesehen hatte. Sie zwinkerte ihm zu.
Erst dann, wie auf ein geheimes Zeichen, setzten sich die drahtigen Pferde in Bewegung. Am Schluss der langen Reihe folgten noch einmal fünf von Enjas Kriegerinnen auf ihren eigenen Pferden.
Es lagen anstrengende Stunden vor ihnen, aber sie waren nichts gegen das Schicksal, das sie hier alle mit Sicherheit ereilt hätte. Sein Blick ging noch einmal zurück und erhaschte einige der Männer und Frauen, wie sie im Fackelschein die Leichen der Gefallenen beseitigten. Hal schleifte gerade zwei Leichen auf einmal an den Füßen hinter sich her und warf sie in die Grube. In der Ferne meinte er Moira an der Seite von Hugh auszumachen.
Der Abschied von seinem Bruder war ihm schwergefallen. Wer wusste, ob er ihn je wiedersehen würde? Aber Enja hatte recht, Hugh wäre in Caerlaverock wesentlich besser aufgehoben.
Erleichtert drehte er sich wieder nach vorn und sah im tanzenden Licht der Fackeln auf das helle Haar der Frau, die ihn und Hugh gerettet hatte. Ihre auffallende Waffe wiegte sich bei jedem Schritt ihres Pferdes hin und her. Erleichtert schloss er die Augen und schickte ein Gebet in den Himmel. Vielleicht war sie doch ein Engel, geschickt von Gott, dem Allmächtigen?