Kapitel 16

Alamut im Jahre 1299

Der Junge mit den grünen Augen ließ meine Gedanken nicht mehr los. Ich versuchte, sein Vertrauen zu gewinnen, um mehr über ihn herauszufinden. Doch das war einfacher gesagt als getan. Lange Zeit hatte ich keine Ahnung, ob er überhaupt der hiesigen Sprache mächtig war, weil kein Wort über seine Lippen ging.

Seine Kampffertigkeit erreichte einen eigenwilligen Status zwischen Besenstil und tanzendem Bär – ein Umstand, der ihm sichtlich zu schaffen machte. Seine zwei linken Hände und die unbeholfenen Beine hatten ein Eigenleben, über das ich selbst erstaunt war. Seine Treffsicherheit war enorm, aber sich erst einmal in Position zu bringen, schien sein größtes Problem zu sein.

Umso mehr spürte ich seine Ehrfurcht gegenüber meinen eigenen Fertigkeiten. Eines Abends, als ich mich nach dem Abendbrot auf die Stufen vor der großen Halle setzte und die letzten Strahlen der Abendsonne erhaschte, sprach er mich das erste Mal von sich aus an. Es war die einzige Tageszeit, in der ich mich im Freien aufhalten konnte. Meine Augen und meine Haut litten unter den heißen Strahlen, so dass ich die Sonne während des Tages komplett vermied. Die Nacht wurde mein bester Freund. Für einen Assassinen die beste Voraussetzung!

Die Luft war noch angenehm warm, und vom Tal kamen die Aufwinde des Bergmassivs, die den Staub in kleinen Wirbeln über den Hof jagten. Ich hielt meine zierliche Flöte, die ich mir aus Bambusholz geschnitzt hatte, an die Lippen und blies eine Melodie, die ich noch in Bagdad mit Jasemin einstudiert hatte. Es war eine fröhliche Melodie, die wir damals sogar zweistimmig hatten spielen können. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich sie vor mir sitzen sehen, die kleinen Finger bedeckten gerade mal die Löcher der Flöte, die Lider halb gesenkt in Konzentration.

Als ich meine Augen jetzt öffnete, stand Hal mit einem schüchternen Lächeln vor mir. Vor Erstaunen hörte ich auf zu spielen und sah ihn fragend an. Er wusste nicht, wohin mit seinen Händen, daher verschränkte er seine Arme, blickte verlegen auf den Boden und wippte auf den Füßen vor und zurück. Sein schmutzbrauner Haarschopf stand wie immer in alle Richtungen.

Freundlich nickte ich ihm zu und bedeutete ihm, sich neben mich zu setzen. Zögernd hob ich meine Flöte wieder an meine Lippen und setzte noch einmal zum Refrain an. Hals Gesicht bekam einen traurigen Ausdruck, und ich fragte mich, ob ihn die Musik vielleicht an jemanden erinnerte. Als ich zu Ende gespielt hatte, bestätigte er es: »Dieses Lied erinnert mich an meine Heimat Irland. Meine Familie war sehr musikalisch. Ich hatte eine Trommel.« Er wirkte melancholisch, und ich traute mich kaum zu atmen; es waren die ersten Sätze, die ich je von ihm gehört hatte. Er sprach Farsi mit dem harten Akzent der Leute, die die Sprache nicht als Kind erlernt hatten. Seine Stimme war leise und heiser, als befände er sich gerade im Stimmbruch. Erwartungsvoll starrte ich ihn an, weil ich hoffte, er würde noch mehr preisgeben. Aber es kam nichts mehr.

»Vermisst du deine Heimat sehr?«, fragte ich vorsichtig und setzte die Pfeife ab.

Er atmete hörbar durch und blickte auf die Gipfel, die sich rechts und links neben Alamut steil in die Höhe erhoben, nichts als Fels und Stein.

»Ja, ich vermisse Irland sehr. Vor allem meine Familie, die grünen Wiesen und Wälder und den Duft nach Heide und Moor.« Verträumt senkte er die Lider. Gerne würde ich jetzt seine Gedanken lesen können, und auch wenn ich nie in diesem Irland gewesen war – wenn es so grün war wie seine Augen, dann wollte ich es gerne einmal kennenlernen.

»Wie bist du hierhergekommen, Cathal?« Ich musste es einfach wissen. Er war in Gesprächslaune, vielleicht hatte ihn die Musik dazu bewegt.

»Meine Eltern waren arm und hatten acht Kinder, und das Essen reichte kaum für jeden von uns. Jeder Mund weniger war gut für meine kleinen Geschwister. Sie schickten mich mit zehn Jahren als Bootsjungen auf ein Handelsschiff, damit ich zur See fahren und die Familie unterstützen konnte.« Wieder richtete sich sein melancholischer Blick auf die Berge ringsum. »Die Route führte uns von Irland nach Gibraltar. Es muss kurz vor der portugiesischen Küste gewesen sein, als uns nachts Piraten überfielen. Sie nahmen alles mit, was sie tragen konnten, und versklavten die Besatzung. Über einen Sklavenhändler kam ich in Saladins Palast.« Hier schluckte er. »Von dem ich vor ein paar Monaten fliehen konnte. Jetzt bin ich hier, um mir die Überfahrt zurück nach Irland zu verdienen – als freier Mann.«

Die letzten Worte sprach er mit fester Stimme aus. Damit hatten wir ja ein gemeinsames Ziel. Er starrte jetzt wieder stumm vor sich hin. Irgendwann legte er die Ellbogen auf die Oberschenkel und stützte sein Kinn mit den Händen ab, als würde er in seine eigenen Gedanken versinken. Von seinen Worten beeindruckt, wollte ich ihn mit einem weiteren Lied aufmuntern, das ich mir selbst ausgedacht hatte.

Später, als die Sonne gerade hinter dem Felsmassiv des Elburs-Gebirges abgetaucht war und nur noch ein orangeroter Glimmer die Kalksteinwände des Adlernestes in ein warmes Licht tauchte, wollte ich mich erheben und in meine Kammer gehen. Doch in diesem Moment wendete Hal mir wieder sein Gesicht zu und blickte mich mit seinen unheimlich grünen Augen an.

»Darf ich dich etwas fragen, Eran?« Sein Blick huschte von links nach rechts, als wollte er sich versichern, dass niemand zuhörte. »Du bist Heiler und ein großer Kämpfer. Ich möchte gerne so sein wie du, aber ich fürchte, ich schaffe es nicht ohne Hilfe.« Seine Zunge leckte seine Lippen, als wären sie ihm zu trocken geworden. »Ich meine, will sagen … ich brauche Hilfe!« Seine Hände kneteten nervös sein Knie.

»Du musst es mir nicht erzählen«, bot ich ihm an, um ihn von seiner Verlegenheit abzulenken. Ich ahnte schon, was kommen würde, und trotzdem war es wie ein Schlag in den Magen, als Hal es aussprach: »Ich habe keine Eier mehr, Eran, sie haben mich zu einem Eunuchen gemacht.« Jetzt sah er mich direkt an, gespannt auf meine Reaktion, als hinge alles davon ab.

Dank meiner Erfahrung als Medicus ließ ich mir nicht anmerken, wie mich sein Bekenntnis erschütterte. Ich besann mich auf meine Ausbildung und beugte mich interessiert nach vorn. »Wie wurde es denn gemacht? Es gibt ja verschiedene Methoden der Kastration.«

Hal zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Mit solch fachlichem Interesse hatte er wohl nicht gerechnet. Sein Blick blieb unverwandt auf mich gerichtet, als er mir in allen Einzelheiten den Tag seiner Entmannung beschrieb. Isaak und ich hatten einige junge Männer gesehen, die bei dieser Prozedur gestorben waren. Hal schien in seinem jungen Leben bereits furchtbar gelitten zu haben, vielleicht war er deshalb so scheu und unsicher.

Verständnisvoll legte ich ihm die Hand auf die Schulter. »Das ist der Grund, warum dir die Ausbildung so schwerfällt, habe ich recht, Cathal?« Blitzschnell hatte ich hochgerechnet und seinen jetzigen Zustand mit dem von Gleichaltrigen verglichen. Ihm fehlten im wahrsten Sinne des Wortes die Eier, um ein richtiger Mann zu werden. Seine Erklärung lieferte mir die Zusammenhänge, wie es um seinen Körper bestellt war. Ich hatte es realisiert, aber nicht deuten können.

»Hal«, entgegnete er ernst, »nenne mich bitte Hal.«

»Hal«, wiederholte ich und nickte.

»Ich möchte ein richtiger Mann werden, Eran, so wie du! Ich will kämpfen können und stark sein. Kannst du mir helfen?«

Sein Blick war so intensiv und hoffnungsvoll, dass es mir eng in der Kehle wurde. Mitgenommen und gleichzeitig wütend schluckte ich meinen Zorn hinunter, meine Augen suchten die verletzte Seele in dem jungen Menschen. Noch einige Male atmete ich tief ein und wieder aus, aber der Druck in meiner Brust wollte einfach nicht weggehen. Mein Gott, wenn er nur wüsste, welches Geheimnis ich verbarg!

»Hal«, krächzte ich, räusperte mich und setzte noch mal an. »Hal, ich werde dir helfen. Es gibt Mittel und Wege«, versuchte ich, ihm Mut zu machen, »aber ich muss noch einmal in meine Aufzeichnungen schauen. Derweil werde ich anfangen, anders mit dir zu trainieren. Triff mich morgen bei Sonnenaufgang vor dem großen Tor. Ich werde dir helfen, Hal, und du wirst der beeindruckendste Mann werden, den Hassan jemals in seinem Leben gesehen hat.«

Hal warf mir ein strahlendes Lächeln zu, das zwei Reihen großer Zähne enthüllten. Gerührt sprang ich auf und half ihm auf die Füße.

»Cathal der Schreckliche! Was hältst du davon?«, versuchte ich, ihn aufzumuntern, und gluckste, denn so, wie er vor mir stand, war er von »schrecklich« weit entfernt.

Hal lachte jetzt auch etwas zittrig. »Hal der Schreckliche«, meinte er, »das reicht. Ich mag meinen Namen nicht besonders.«

Ohne darüber nachzudenken, behielt ich seine Hand in der meinen. Er wirkte gelöst und erleichtert, als wäre eine schwere Last von seinen Schultern gefallen. Ich hatte diesen großen linkischen Jungen in mein Herz geschlossen, ob ich wollte oder nicht. Er hatte mir gerade seine Seele dargeboten, und ich würde sie wertschätzen. Für immer.

* * *

Am selben Abend verschwand ich mit einer Öllampe in meine Krankenkammer. Geduldig kramte ich in den Papyrusrollen und Aufzeichnungen, die mir Isaak hinterlassen hatte, und machte mir meine eigenen Notizen. Meine Aufgabe war klar. Nur wie sollte ich das bewerkstelligen? Einen Eunuchen wieder zu einem Mann zu machen?

In den Aufzeichnungen des alten Medicus fand ich tatsächlich einen konkreten Hinweis zu diesem Thema. In einem eigenen Kapitel erwähnte er das Krankheitsbild von Jungen, die vor Eintritt in die Pubertät kastriert wurden und zeit ihres Lebens unter einer schwachen Muskulatur und einem schwachen Knochenbau litten. Er beschrieb die körperlichen Folgen dieser Verstümmelung, wovon vieles auch auf Hal zutraf. Dazu erwähnte er eine Versuchsreihe, in der er männlichen Harn durch Destillation zu kristallinen Extrakten reduzierte. Die tägliche Gabe einer kleinen Menge dieses Pulvers habe bei den Kastraten zu einem deutlich männlicheren Erscheinungsbild geführt. Eine Woge der Erleichterung erfasste mich, und ich schickte meinem alten Weggefährten ein Dankgebet.

Dann hatte Isaak es wohl geschafft, einen Extrakt zu entwickeln, der dem kastrierten Mann das zurückgibt, was in den entfernten Hoden natürlich produziert wurde. Leider hatte er mit mir nie darüber gesprochen, daher konnte ich nur mithilfe seiner Notizen und der noch vorhandenen Reste dieses Pulvers einen Versuch wagen. Ich fragte mich, warum Isaak so eine wichtige Errungenschaft seiner Medizin nicht öffentlich gemacht hatte, aber wie so oft konnte ich die Gedanken dieses seltsamen Alten nicht verstehen.

Bei meiner Ehre als Medicus fühlte ich mich inzwischen Hal verpflichtet und würde alles in meiner Macht Stehende tun, um ihm zu helfen. Iljas, der inzwischen zu einem feisten und gesprächigen Jungen herangewachsen war, half mir beim Zubereiten des Pulvers mithilfe von Harz, das wir von den Kiefern aus dem Tal geschabt hatten. Das kleine, unscheinbare Ledersäckchen mit der bezeichnenden Aufschrift Mann hatte ich in Isaaks sorgfältig gehütetem Lager im Inneren seiner Kutsche gefunden. Erleichtert fingen wir an, das Pulver mit Ying Yang hao, Ingwer, und getrocknetem, pulverisiertem Kamelpenis – ein Geheimtipp unseres Meisters Shi Fu – mit ein wenig Baumharz zu einer Masse zu kneten und zu kleinen Kügelchen zu rollen. Vielleicht waren die kleinen Perlen nicht so rund wie bei meinem alten Meister, aber die Wirkung sollte dieselbe sein.

Zum Aufbau der verkümmerten Muskeln hatte er ebenfalls ein paar Rezepte hinterlassen. Fleisch und Fett waren die beiden Säulen, auf die ich Hals Ernährung einstellen musste. Isaak hatte auf rohe Eier geschworen. Dann würde der arme Hal das schlucken müssen, und darin könnte ich …

Eine Idee reifte in mir, aber dazu brauchte ich Shi Fu. Er war noch in seiner Übungshalle, aber danach hatte ich ein intensives Gespräch mit ihm.

Erst spät fand ich Ruhe auf meiner Matratze aus gestopftem Pferdehaar. Müde, aber zufrieden mit meinem Forschungsergebnis fiel ich in einen tiefen Schlaf.

* * *

Die Sonne war noch nicht richtig aufgegangen. Im bläulich diffusen Licht, das über den Gebirgskamm fiel, stand Hal vor dem Tor. Er wirkte ein wenig nervös und trat von einem Fuß auf den anderen. Sein Gesicht war verkniffen, vielleicht fragte er sich gerade, was ich mit ihm vorhatte. Seine Beine bedeckte die übliche weite Hose, die in der Hüfte gewickelt und gebunden wurde, darüber trug er eine Tunika mit einem simplen Hanfgürtel in der Mitte. Dies war unser gängiges Übungsgewand, das viel Bewegungsfreiheit garantierte.

Ich war ähnlich gekleidet, hatte mir aber noch ein Tuch um den Kopf gewickelt, das mich später gegen die Sonne schützen sollte. Ich lächelte ihn freundlich an. »Was heißt ›Guten Morgen‹ in deiner Sprache?«

»Maidin mhaith«, kam die zögerliche Antwort, und seine Mundwinkel hoben sich etwas.

»Meiiden meiiid?«, versuchte ich es.

»So ähnlich«, lobte er mich und lächelte schüchtern.

»Dann werden wir uns ab jetzt jeden Morgen so begrüßen«, erklärte ich, legte den Kopf schief und fasste einen Entschluss. »Wenn du mir deine Sprache beibringst, Hal, dann werde ich dich zurück in deine Heimat begleiten.«

Seine Kinnlade fiel vor Überraschung herunter. Er setzte an, um etwas zu sagen, stammelte aber dann nur etwas, das klang wie: »Ist aber weit weg«, und betrachtete abwesend den Becher, den ich ihm reichte.

Neugierig beäugte er die gelbliche Flüssigkeit, die ich schon frühmorgens aus der Küche geholt hatte, und sah mich fragend an. Seine Augen, die um diese Zeit blaugrün schimmerten, blickten misstrauisch zwischen dem Becher und mir hin und her.

»Zwei rohe Eier, geschlagen«, erklärte ich ihm lapidar und drückte ihm den Becher in die Hand.

Er roch vorsichtig daran und setzte ihn an den Mund. Er leckte sich die Lippen und gab mir den Becher zurück. »Salzig«, bemerkte er nur.

»Das gibt es jetzt jeden Tag vor dem Frühstück«, erklärte ich ihm, und sein Gesicht erhellte sich, wie immer, wenn es ums Essen ging. »Die Küche wird den Becher jeden Tag für dich vorbereiten, du musst ihn nur dort abholen.«

Wir liefen den breiten Pfad hinunter, der vom Tal zum Haupttor führte. Der Weg nahm eine Abzweigung, die an einer schroffen Felswand entlangführte. Kaum jemand kannte diesen Pfad, der in einen Plateau mündete, das eine atemberaubende Sicht auf das Massiv und die dazwischenliegenden Täler bot. Hier befand sich mein persönlicher Übungsplatz, den ich mir für meine morgendlichen Einheiten ausgestattet hatte. Runde Steine in verschiedenen Größen, Stöcke und sogar Seilschlaufen befanden sich in der Wand, die ich für Bauch- und Rückenübungen nutzte. Die Felswand eignete sich zum Klettern. Damit würden wir bei Hal wohl noch warten müssen, bis sich seine Hand-Fuß-Koordination entwickelt hatte.

»Hier trainiere ich jeden Morgen um dieselbe Zeit, bis die Sonne mich vertreibt. Aber die Kampf- und Waffenübungen finden nach wie vor im Adlernest statt.«

Der ungelenke Junge schluckte und knetete seinen Handrücken. »Weiß Hassan von diesem Platz?« Unsicher schweifte sein Blick über die Felsformationen vor uns.

»Was weiß Hassan nicht?«, stellte ich ihm die Gegenfrage, und er lächelte wieder sein schüchternes Lächeln, das wie immer den direkten Weg in mein Herz fand. »Lass uns aufwärmen, dann legen wir los.«

Mit Steinestemmen fingen wir an. Jeden Muskel seines Körpers hatte ich im Blick. Dazwischen ließ ich ihn Worte übersetzen, die mir während der Übungen einfielen, und wir schwitzten beide ordentlich.

Hal erschien tatsächlich pünktlich auch am darauffolgenden Morgen und von da an jeden Tag. Er rackerte sich ab und hob Steine, stemmte immer schwerere Gewichte, und ich feuerte ihn an, jeden Tag noch etwas mehr zu geben.

* * *

Bereits sechs Monate später stand ein Mann vor mir, der zwar immer noch mit seiner Motorik Probleme hatte, aber der Fortschritt war beeindruckend. Hal hatte dank seines guten Appetits fast vierzig Pfund zugelegt, Arme und Beine waren muskulöser geworden. Auch mir hatten die regelmäßigen Übungen mit ihm gut getan. Blitzschnelles Kämpfen, Klettern und Springen waren bald zu meinem Markenzeichen geworden.

Nach und nach erzählte ich ihm meine Geschichte, ohne dass er je danach gefragt hätte. Es war ein Zeichen unseres wachsenden Vertrauens, und ich behielt nur die Tatsache für mich, dass ich eine junge Frau war. Als wir unsere Lebensläufe verglichen, stellten wir fest, dass wir ungefähr im gleichen Alter sein mussten.

Eines Tages fragte ich ihn nach seinem vollen Namen. Missmutig zog er die Schultern hoch. »Ich mag meinen Namen nicht«, gab er zu. »Er lautet Cathal Conchobhar Ó Searcaigh«, krächzte er und ließ die Schultern wieder fallen.

Ich blickte ihn verständnislos an. Beharrlich ließ ich ihn seinen Namen noch dreimal wiederholen, bis ich es nachsprechen konnte.

»Das reicht«, forderte er schließlich, »so schön ist der Name nicht, dass du ihn so oft wiederholen musst!« Damit hatte sich das Thema für ihn erledigt. Er warf sich auf den Boden und drückte sich in den Liegestütz.

* * *

Mit Abschluss meiner siebten Weihe – Shi Fu hatte darauf bestanden, sie vorzuziehen – war meine Ausbildung vollendet, und ich wurde in einer aufwendigen Zeremonie zum Prinzen ernannt.

»Prinz Eran I‑Shabbah ibn Hassan I‑Shabbah« war ab jetzt mein Titel, der mich zu einem Abkömmling Hassans und zu einem freien Mann machte. Der Scheich selbst krönte mich mit einem Goldreif, den er mir stolz auf meinen Kopf setzte. Ein großer Saphir war in der Fassung vorn an der Stirn eingesetzt und verdeckte gerade so mein Sklavenzeichen. Mit dem Titel hatte ich endlich meine Freiheit wiedererlangt, es war ein berauschendes Gefühl. Der Saphir überdeckte meine Vergangenheit und machte den Weg zu Macht und Reichtum frei. Hassans Geschenk, dieser wunderschöne Goldreif, bedeutete mir unbeschreiblich viel.

Sämtliche Prinzen und Rekruten waren in der großen Halle versammelt, um meine Krönung gebührend zu feiern. Auch Nabil, Shi Fu und Hal begleiteten mich durch diesen feierlichen Akt. Und trotz meiner Aufregung entging mir nicht, dass zwischen Nabil und Hal eine seltsame Spannung bestand.

Gerade als ich mit dem bestickten Umhang und meinem Goldreif die Treppe aus dem unterirdischen Saal nach oben ging, um zum Festessen zu laden, erhaschte ich eine Geste Nabils, die ziemlich eindeutig war: Er zog seine flache Hand horizontal über seinen Hals. Aber er sah nicht mich dabei an; seine kalten schwarzen Augen bohrten sich in die von Hal, und der wiederum erwiderte seinen tödlichen Blick.

Unbeirrt stieg ich weiter die Treppe hinauf, ohne mir anmerken zu lassen, dass ich zutiefst betroffen war. Hatten die beiden ein Problem miteinander? Dass die beiden keine Sympathie füreinander hegten, war mir von Anbeginn klar gewesen, aber das war bei vielen der Männer hier so. Jeder Assassine war mit einer guten Portion Misstrauen ausgestattet. Nur selten entstanden solche Freundschaften wie zwischen Hal und mir. Ich musste herausfinden, was los war, denn wenn die beiden aufeinander losgingen, würde einer sterben.

Von dem Gefühl getragen, dass keiner der beiden mir verraten würde, was passiert war, begann ich nachzuforschen. Ich hatte den Verdacht, dass es um eine Frau ging.

* * *

Hal wusste genau, wem Nabils obszöne Geste auf der Weihefeier galt: seinem Tutor und besten Freund Eran. Wenn es nach Hal ginge, hätte Nabil bereits keinen Kopf mehr auf seinen Schultern.

Nabil hatte Hals schwächste Stelle entdeckt: seine Freundschaft zu dem Mann, der sein Leben verändert hatte. Unter Assassinen kamen Freundschaften so gut wie nie vor, und es hatte seinen berechtigten Grund. Dass ausgerechnet diese Schlange Hal nun damit drohte, Eran zu töten, falls er etwas ausplauderte, das hatte er nur allzu deutlich gemacht. Hals Fäuste öffneten und schlossen sich vor Zorn. Ihm war es doch völlig egal, ob Nabil Hassans Mätresse bumste. Aber Nabil sah sich wohl unter Druck. Dieses Wissen machte ihn, Hal, zu seinem Feind.

Hal hatte sich in den Pferdestall zurückgezogen, um seine Gefühle zu sortieren. Hier in der Gesellschaft der Tiere war er nicht allein, musste sich aber auch mit niemandem unterhalten. Mit den Händen auf dem Rücken marschierte er den langen Gang auf und ab und versuchte, einen Ausweg aus der gefährlichen Situation zu finden.

Natürlich konnte er verstehen, dass der Assassine ziemlich in der Klemme saß, aber dass er Eran, seinen einzigen Freund, in die Geschichte hineinzog, das war einfach zu viel. In seinem Kopf jagten die Gedanken, die sich immer wieder um Eran drehten, der Hal so ans Herz gewachsen war.

»Ifreann!«, schrie er aus Leibeskräften und schlug mit der Faust gegen die Holzwand. In seiner Wut benutzte er seine Muttersprache, einen Ausdruck, der so viel hieß wie »Hölle«. Die Wand erzitterte unter der Wucht des Schlages, und die Pferde schnaubten nervös. Staub rieselte aus allen Ritzen und glitzerte in dem Licht, das durch die Fenster und Ritzen drang wie Feenstaub.

»Verfluchter, hinterlistiger Mörder …«, setzte er an, aber ihm fielen in der persischen Sprache gar nicht genügend Schimpfwörter ein.

»Ich weiß nicht, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist, aber diese Wörter entspringen nicht gerade deiner guten Erziehung.« Die ruhige und helle Stimme Erans ließ Hal zusammenzucken und sich ruckartig umdrehen.

»Was tust du denn hier, Eran?«, entgegnete er überrascht und ärgerte sich sofort, dass er ihn hier erwischt hatte. Seine Wut hatte ihn unvorsichtig gemacht. Aber Eran hatte die Eigenschaft, sich wie eine Katze zu bewegen.

Eran blickte ihn aus seinen durchdringend blauen Augen merkwürdig an, die schwarzen Brauen misstrauisch zusammengezogen. Den Goldreif hielt er locker in den Fingern, die Arme hatte er überkreuzt. Seine Lippen waren zusammengepresst, als wäre er wütend. Die Hand mit dem Goldreif tippte gegen seinen Oberarm. Seltsam, nicht ein Haar sprießte auf seinem Kinn, durchfuhr es Hal plötzlich, während er sich selbst täglich rasieren musste, um seinen Bartwuchs im Griff zu behalten.

»Was ist zwischen dir und Nabil passiert?«, fragte Eran nun direkt. Ihm entging anscheinend gar nichts. Verfluchter Nabil …

Hal überlegte fieberhaft. Wie sollte er alles erklären, wenn er ihn genau damit in Gefahr brachte? Er verschränkte seine Arme und schwieg.

»Verlass dich drauf, Hal, ich werde es sowieso herausfinden.« Jetzt war es an Eran, wütend zu werden. »Ich wüsste nicht, wer es wert wäre, von dir gedeckt zu werden!«

Eran drehte sich um und stapfte ärgerlich davon. Von Weitem hörte Hal noch, wie er sich bei seinem Pferd Taycan über die Dummheit einiger Menschen beklagte und schließlich den Stall verließ.

Hal lehnte sich gegen die Stallwand. Er dachte nicht im Traum daran, etwas von seinem Wissen preiszugeben. Das war eine Angelegenheit zwischen Nabil und ihm. Seine Wut war verraucht, langsam sah er wieder klarer.

Das Ganze hatte völlig harmlos mit seiner Angewohnheit begonnen, vor dem Schlafengehen noch ein paar Schritte zu gehen. Nun ja, eigentlich wollte er nur ein wenig mit sich allein sein, denn so konnte er unbeobachtet seine Liebe zu Jesus bekennen. Trotz der vielen Jahre hier in diesem fernen Land hatte er nie aufgehört, zu Jesus Christus zu beten, die Religion, mit der er groß geworden war. Die abendlichen Gebete hatten ihm geholfen, über die schwere Zeit seiner Sklaverei hinwegzukommen. Seine schlimmen Erinnerungen verfolgten ihn immer noch. Die Alpträume seiner Entmannung plagten ihn schon seit Jahren, ließen ihn schweißnass aufwachen und zitternd um Fassung ringen. Erst die Gebete brachten ihn wieder in sein seelisches Gleichgewicht und ließen ihn Schlaf finden.

So hatte er auch an jenem Abend ein paar Schritte innerhalb der Festung genommen, um stumm seinen Rosenkranz zu beten. Er wollte Gott beweisen, dass er ihn in diesem fremden Land nicht vergessen hatte, auch wenn weit und breit keine Kirche zu sehen war.

Sein Weg führte ihn meist hinter die Wohnräume des Palastes, die Hassan mit seinem Harem vorbehalten waren. Manchmal wehte das Lachen einzelner Mädchenstimmen zu ihm herüber. Gerade als er an der Mauer am Burgfried hatte vorbeigehen wollen, hörte er das Wispern einer Frau und die dunkle Stimme eines Mannes.

Hal hielt inne, zog sich hinter die Ecke zurück und lauschte. Dunkel hob sich die Stimme des Mannes gegen die helle Frauenstimme ab. Es folgte ein zärtlicher Wortlaut, und die Frau lachte leise. Dann war es still, nur die Geräusche von leidenschaftlichen Küssen, gelegentliches leises Stöhnen und Grunzen waren zu hören. Schließlich huschten beide heimlich durch die Tür den Bergfried hinauf, der zu den Frauengemächern führte.

Hal hatte völlig vergessen, wo er mit dem Rosenkranz aufgehört hatte, und fing noch mal von vorn an. Damit setzte er seine abendliche Runde fort. Irgendjemand hatte sich an eine der Frauen des Scheichs herangemacht, ein übles Verbrechen, auf das der Tod stand. Aber Hal wäre nicht Hal, würde er deswegen jemanden verurteilen. Es war nicht sein Problem.

Allerdings wurde es das, als er dieses Paar unerwartet wiedertraf. Es war der Abend vor Erans siebter Weihe gewesen. Er hatte ausgiebig dem Wein zugesprochen, und Eran hatte noch aus vollem Halse über seine Geschichten aus Saladins Harem gelacht. Als sie sich verabschiedet hatten, war es schon spät gewesen.

Das liebestolle Paar hatte sich an diesem Abend ausgerechnet Erans Krankenzimmer ausgesucht. Auf der Rückkehr von seinem Gebetsrundgang machte Hal eine Bewegung in dem flackernden Licht einer Öllampe aus, das aus dem Fenster der steinernen Kammer fiel. Schlimmes ahnend zog er seinen Dolch aus dem Gürtel und schlich sich vorsichtig zur Tür. Eran hatte hier viele wertvolle Geräte und Arzneien verstaut, daher war die Tür immer abgeschlossen.

Hal drückte vorsichtig die Tür auf. Sie war offen, und mit einem Schritt stand er im Innenraum, der für zwei Krankenbetten Platz hatte und jede Menge Regale, Kisten und Käfige mit seltsamen Tieren enthielt. Hal erkannte im schwachen Licht sofort, wen er vor sich hatte: Es war Nabil.

Der dunkelhaarige Araber stand mit heruntergelassenen Hosen vor einer Frau, die mit ihrem Rücken auf einem Krankenbett lag. Die Frau stieß einen erstickten Schrei aus, den Nabil sofort mit seiner Hand zu dämpfen versuchte.

»Psst … verdammt!«, raunte er der Frau zu. »Willst du alle wecken?«

»Nimm deinen Schwanz und verzieh dich, Nabil, bevor ich dich bei Hassan verpfeife. Und die Frau ziehst du mit ins Verderben, sie könnte dafür sterben, du Idiot!« Hals Stimme ließ all die Verachtung erkennen, die er für diesen Mann und sein unrühmliches Tun hegte.

Nabil zog sich seine Hose hoch und beachtete die Frau gar nicht mehr, die verschämt ihre Kleider richtete. »Hör mal zu, du verdammter Ochse, du machst mir keine Angst! Eher werde ich deinen fetten Bauch aufschlitzen, bevor du ein Wort zu Hassan fallen lassen kannst.«

Hal tat einen Schritt nach vorn, baute sich vor dem kleineren und schmächtigeren Nabil auf und hielt ihm den Krummdolch bedrohlich vor die Nase. »Ich würde dir jetzt gerne dein blödes Gesicht vom Kopf lösen und damit meine Trommel bespannen, dann könnte ich dir jederzeit mit Vergnügen das Gesicht einschlagen …«, stieß er mit seiner heiseren Stimme hervor.

Seine kalten Augen hefteten sich fest auf die schwarzen Augen Nabils, und dieser musste wohl die Ernsthaftigkeit in seinem Blick spüren, denn er schwieg.

Die Frau trat vorsichtig an die beiden Kontrahenten heran und zupfte sogar flehend an seinem Ärmel. »Sahib, bitte lasst uns gehen, niemand darf uns hier sehen, ich bitte Euch.«

Hal drehte sich zu ihr und blickte in ihr ängstliches Gesicht. Es lag ein schöner, wenn auch ernster Ausdruck darin. Ihre Haare waren zerwühlt, aber einzelne Locken waren sanft auf ihre Schultern gefallen, sie waren so dunkel wie ihre Augen. Er zog seine Hand zurück und steckte seinen Dolch in das Futteral an seinem Gürtel.

»Haut ab«, knurrte er die beiden an, »bevor ich es mir anders überlege.«

Unwillig hatte er den Kopf geschüttelt und war auf direktem Weg in seine Kammer gegangen. Diesem Vorfall hatte er bis zum heutigen Tag keinerlei Beachtung geschenkt.

* * *

Am Tag nach meiner Weihe und nach dem unglücklichen Aufeinandertreffen mit Hal im Pferdestall beschloss ich, als neuer Prinz die Gunst des Großmeisters zu erwidern und mich in den Feinheiten der rhetorischen Künste zu üben. Ich kündigte mich dem Scheich über seinen Diener an und bekam auch prompt Zugang zu seinen privaten Gemächern.

Als ich eintrat, prüfte Hassan mich mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß, und bedeutete mir, mich anderweitig zu beschäftigen, denn er war gerade im Gespräch mit Nabil. Neben ihm war auch Shi Fu anwesend, der wie immer eine Maske der Höflichkeit aufgesetzt hatte.

Nabil war sichtlich nervös, er knetete unaufhörlich seine Hände hinter dem Rücken und warf immer wieder wütende Blicke zu mir herüber. Hatte der weise Scheich vielleicht auch die obszöne Geste gestern bei der Weihe gesehen? Dann würde er Nabil mächtig einheizen. Das würde die knisternde Spannung erklären, die schon seit meinem Eintreffen in der Luft hing.

Erst einmal zum Warten verdonnert, setzte ich mich an den kunstvoll verzierten Tisch, an dem ein Schatrandsch – ein persisches Schachspiel – aufgebaut war, dessen Figuren allesamt aus kostbarem Elfenbein geschnitzt waren. Ein Satz war hell belassen, der andere mit Purpur gefärbt.

Während ich wartete, überlegte ich meinen ersten Zug. Shi Fu nahm mir gegenüber Platz und wartete auf meine Eröffnung. Forsch setzte ich den hellen Königsbauern nach vorn. Shi Fu wartete einen Moment und zog seinen rot gefärbten Springer vor meine eben gesetzte Figur.

»Nabil ist nicht gut«, flüsterte er aus schmalen Lippen. »Nabil erzählt Lügen.«

»Was hat das mit mir zu tun?«, fragte ich, genauso gedämpft.

Shi Fu sah mich seltsam an. »Du weißt von nix?«

Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Was?«

»Hassan hat letzte Nacht eine Frau erwischt, sie kam von, von …« Er steckte seinen Finger in den gerundeten Daumen und Zeigefinger seiner anderen Hand.

Ohne den Blick von Nabil zu nehmen, nickte ich und zog den Bauern auf dem Marmorbrett. Meine Gedanken rasten. Hatte Hal etwa …?

»Hat Nabil gesehen, wer es war?«, zischte ich über den Tisch und hätte beinahe den roten König mit meiner Schulter umgeworfen.

»Schlimmer! Nabil hat etwas gefunden«, kam es unauffällig zurück, und der Chinese hüstelte in seine Hand. Mit der Linken zog er seinen Königsbauern nun ebenfalls nach vorn. Hölle.

»Was?« Ich schluckte. Herrgott, was war Nabils Spiel?

Shi Fu zuckte mit den Schultern. Ich starrte auf den Tisch. Mechanisch hob ich irgendeine Figur und setzte sie irgendwohin. Hal war noch am Vorabend meiner Weihe seine abendliche Runde gegangen, als ich mich in meine Kammer verdrückt hatte. Was war passiert?

Hassans Stimme traf mich wie ein Blitzschlag. »Eran!« rief er. »Ich muss Euch sprechen, bitte kommt zu mir.«

Böses ahnend stand ich langsam auf und ging hinüber zum Großmeister, der in seinem schwarzen Kaftan und entblößtem grau durchwirktem Haar mit seinen anderen Prinzen zusammenstand. Sie wichen höflich ein paar Schritte zurück, um mich vorzulassen. Nabil grinste mich irgendwie triumphierend an.

»Prinz Eran«, sprach mich Hassan mit ernster Miene an, »eine meiner Frauen wurde erwischt, als sie am Tag deiner Weihe von außerhalb der Haremsgemächer zurückkam. Sie gab zu, sich mit einem Mann getroffen zu haben, aber sie wollte nicht verraten, mit wem. Eine Untersuchung ergab, dass sie noch den Samen des Mannes in sich trug, und …«, hier zerfiel ein wenig seine Fassade der kühlen Distanz, »… wir stellten fest, dass sie schon seit drei Monaten schwanger von ihm ist.« Hassans Blick wurde dunkel und richtete sich in die Ferne; seine Kiefermuskeln arbeiteten.

Wieso war er sich denn so sicher, dass das Kind nicht von ihm war? Der Gedanke ließ mich nicht mehr los, und ich beobachtete ihn scharf. Er verschränkte seine Arme auf dem Rücken und atmete ein paarmal ein und aus. Während ich zusah, wie sich sein Brustkorb hob und senkte, traute ich mich kaum zu atmen. Schließlich fuhr er erstaunlich ruhig fort.

»Sie lag schon seit Monaten nicht mehr bei mir, entschuldigte sich ständig mit Unwohlsein.« Seine Stimme war beherrscht, er behielt sich gut im Griff und lieferte mir die Antwort auf meine unausgesprochene Frage. »Sie verriet nicht, wer es war«, erklärte er weiter, »aber sie verriet, wo es geschah.«

Erst jetzt sah er mir wieder direkt in die Augen. Warum erzählte er mir das alles?

»Es war in deiner Krankenkammer, auf einem der Betten.«

Das war es also. Seine Augen senkten sich prüfend auf die meinen, die ihm direkt und ohne schlechtes Gewissen standhielten.

»Verdächtigt Ihr deswegen mich?«, fragte ich so unaufgeregt wie möglich. Eine kleine Welle der Panik erfasste mich jetzt doch unerwartet.

»Nun, es steht fest, dass die Tür zu dieser Kammer meist abgeschlossen ist und du den Schlüssel hast, Eran. Außerdem hat Nabil etwas in dieser Kammer gefunden, das dir gehört.«

Mein Gesicht hatte sich inzwischen aus Ärger rot verfärbt. Was glaubte dieser ahnungslose …

»In dieser Kammer gehört alles mir, Großmeister!«, sagte ich durch meine zusammengebissenen Zähne. Das war es also, ich sollte den Sündenbock spielen. Wütend sah ich Nabil an. Er hatte die Frechheit, mir ins Gesicht zu blicken. Erst dann realisierte ich, was er gerade triumphierend in der Hand hielt: meinen Goldreif.

Meine Hände zuckten und ballten sich hilflos zu Fäusten. Am liebsten hätte ich ihm die verdammte Krone aus der Hand gerissen. Er musste sie aus meiner Kammer gestohlen haben.

»Wir haben alle gesehen, dass du sie getragen hast, bevor du dich für die Nacht verabschiedet hast.« Hassan sah mich kalt an und deutete auf die Krone in Nabils Händen, die er jetzt für jeden sichtbar hochhielt. »Warst du es, Eran? Wenn du dich stellst, ersparst du dieser Frau grausame Folter.«

»Ich kenne diese Frau nicht, weiser Scheich«, entgegnete ich ihm betont ruhig, um meine Fassung zu bewahren. »Und ich habe mit ihr nichts zu schaffen. Wie die Krone in Nabils Hände gelangt ist, kann ich nur vermuten. Aber ich habe sie nicht in meine Krankenkammer gelegt.«

Die Luft in dem Raum wurde zu dick zum Atmen, es knisterte förmlich. Und in diese Stille hinein platzte Hals hünenhafte Gestalt. Es klang, als flöge die Tür mitsamt meinem Freund in das Privatgemach des Königs. Der Diener eilte aufgeregt hinterher, anscheinend hatte Hal sich von ihm nicht aufhalten lassen. Jetzt stand er mitten im Raum und fixierte erst den Großmeister, dann Nabil und mich.

»Was geht hier vor?«, sagte er mit seiner tiefen heiseren Stimme.

»Hal, ich habe dich nicht rufen lassen«, bemerkte Hassan spitz.

»Warum schleppt man die Frau dort draußen in den Kerker?«, schleuderte Hal ihm entgegen. »Was hat sie getan?«

Mein Blick schnellte zu Nabil, der sich mit einer Hand an den Hals fasste, als ränge er um Luft. Hals Blick fixierte ihn. »Und was tust du jetzt dagegen?«

»Er hat geholfen, den Mann zu finden, der sie geschwängert hat«, ging Hassan ärgerlich dazwischen. »Was hast du denn damit zu tun?«

»Und wer sollte dieser Mann sein?« Hal starrte Nabil immer noch in Grund und Boden.

»Wir haben Erans Krone in der Krankenkammer gefunden«, fügte Hassan befremdet an. »Weißt du etwa mehr davon, Hal?«

»Ich weiß, dass es Eran nicht war, verehrter Scheich. Aber so gern ich es möchte, ich kann Euch nicht verraten, wer es tatsächlich war.« Jetzt schwang ein wenig Trotz mit. Nabil beobachtete ihn mit Falkenaugen, seine Hand ging auffällig oft an seinen Dolch im Gürtel, und es war keine nervöse Geste. Irgendetwas stimmte nicht zwischen den beiden. Schützte Hal etwa Nabil?

Hassan warf ungehalten die Arme in die Luft. »Ihr habt mir die Treue geschworen, und jetzt bekomme ich noch nicht einmal eine Antwort auf meine Frage?«, brüllte er. »Wegen eines untreuen Weibs zerfleischen sich meine besten Assassinen! Wo ist Euer Respekt mir gegenüber?«

»Warum holen wir nicht einfach die Frau?«, schlug ich vor, um die Anwesenden zu beruhigen. »Wenn sie hier ist, und einer von uns ist ihr Liebhaber, werden wir es merken, da bin ich mir sicher.«

Hassan atmete noch ein paarmal hörbar durch, zuckte schließlich mit den Schultern und rief seinen Diener. »Lasst das Weib bringen, dann werden wir hören, was sie zu sagen hat.«

Ich setzte mich wieder an den Tisch mit dem Schatrandsch-Spiel und holte mir Shi Fus Bauern mit dem Pferd. In der spannenden Vorstellung hier hatte er völlig vergessen, ihn aus der Gefahrenzone zu bewegen. Während ich nach außen hin ruhig und überlegt wirkte, brodelte es in meinem Innern. Was wäre, wenn diese Frau tatsächlich mich beschuldigte, um ihren Liebhaber zu schützen?

Die bereits arg in Mitleidenschaft gezogene Tür quietschte in den Eisenhalterungen, als sie aufgestoßen wurde und eine verängstigte Frau hindurchstolperte. Vermutlich war sie gestoßen worden, denn sie fiel hin, rappelte sich auf und strich sich ihre Kleider glatt, die vom Schmutz im Verlies verdreckt waren. Die Haare standen ihr wirr vom Kopf, die Lippe war an einer Seite aufgeplatzt, und unter dem rechten Auge befand sich eine bläuliche Schwellung. Neben mir hörte ich Nabil scharf einatmen.

Der Knecht, der sie gebracht hatte, packte sie am Haarschopf, zerrte sie vor den Großmeister und zwang sie auf die Knie. Sie atmete hektisch. Sie war schön mit ihren dunklen Augen und den schwarzen Locken … Ich starrte sie an. Bei allen Göttern! Das konnte doch nicht sein!

»Jasemin!«, schrie ich, ohne nachzudenken. »Jasemin, du bist es!« Ihre ängstlichen Augen wurden noch größer, als sie mich erkannte. Tränen liefen ihr über die Wangen, und mit einem Schluchzen rief sie: »Enja!«