Kapitel 17

Dumfries im Herbst 1306

James Douglas fluchte und spuckte aus. Es hatte den ganzen Vormittag geregnet, und selbst das Brot, das sie sich mittags als kleine Mahlzeit gegönnt hatten, war von der Feuchtigkeit aufgeweicht. Die Felder und Wiesen dampften von dem kalten Schauer, der die Temperatur empfindlich gesenkt hatte. Anscheinend war der kurze Sommer schon vorbei, die wenigen Sonnentage waren bereits ausgeschöpft. Auch die Nächte waren kalt geworden.

Lachlan McKay, der nicht weit hinter James ritt, fluchte leise vor sich hin. Seine Kleidung klebte an ihm wie eine zweite Haut, das wachsgestärkte Plaid konnte kaum noch die Nässe abhalten, die sich überall breit machte.

Langsam senkte sich die Abenddämmerung auf die beiden Reiter, die auf ihren zähen Highlandpferden durch das Hinterland Schottlands ritten. Sie vermieden bewusst die Hauptstraßen und damit die englischen Truppen. Neben ihren beiden Pferden hatten sie noch zwei Lastentiere dabei, die zwischen sich eine an Stangen geschnallte Bahre trugen. Darauf lag eine leblose Person, zugedeckt mit Decken und Fellen. Auch sie war den Naturgewalten ausgesetzt und durchnässt.

»Ich hoffe, wir sind bald da«, murrte McKay, »sonst bekomme ich noch Schwimmhäute und Kiemen …«

»Es kann nicht mehr weit sein, Lochar Water liegt schon fünf Meilen hinter uns. Aber bei diesem Nebel erkennt man ja nicht mal eine Burg, selbst wenn man direkt davorsteht …«, gab James sorgenvoll zu. Sein Blick wanderte missmutig zu den beiden Ponys, die tapfer ihre Last durch das raue schottische Wetter trugen. Die Sorge um die Gesundheit des kranken Mannes auf der Bahre war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Nachdem Enja und Hal ihn aus dem Arbeitslager befreit hatten, lieferte ihn ein Schiff der McLeods von Skye, die Robert the Bruce unterstützten, zu seiner Armee. James Douglas zählte rasch zu Roberts engsten Vertrauten. Sein Mut und seine taktische Kampfweise brachten ihm den großen Respekt seiner Landsleute ein. Und nun war er mit dieser so wichtigen Mission betraut worden, die wie ein schwerer Stein auf seinen Schultern lastete.

Plötzlich blieb sein Pferd stehen, als wäre es gegen eine Wand gestoßen. James sah sich vorsichtig um. Irgendetwas machte das Tier nervös, und auch die anderen Pferde schnaubten beunruhigt. McKay und er zogen fast zeitgleich ihr Breitschwert aus dem Futteral, um für einen Überfall gewappnet zu sein.

Bevor er etwas erkennen konnte, zuckte sein Vierbeiner unter ihm zusammen. James’ Herz machte einen Satz, und mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf das, was das Tier schon vor ihm entdeckt haben musste. Direkt vor ihnen stand ein Rappe mit einem komplett in schwarz gehüllten Reiter, wie von Geisterhand dort hingepflanzt. James’ Nacken prickelte, wie immer, wenn er Gefahr witterte. Sein Puls klopfte lautstark in seinem Hals.

Völlig reglos, als wäre er zu einer Salzsäule erstarrt, starrte sie der fremde Reiter unter der Kapuze seines Überwurfs an. Nur die lange schwarze Mähne des Rappen bewegte sich ein wenig in der auffrischenden Brise, die jetzt auch die lästigen Dunstschwaden vertrieb, die ihm und McKay seit einigen Stunden die Sicht nahmen.

James schluckte. Er hatte den Reiter weder kommen gehört noch gesehen. Wäre es eine Falle gewesen, sie wären mit Sicherheit verloren gewesen. Verfluchtes schottisches Wetter! Er räusperte sich und sprach den dunklen Reiter an: »Gott zum Gruße, edler Herr! Könnt ihr uns helfen, den Weg nach Caerlaverock zu finden?«

Der Reiter schien ihn auszulachen, zumindest zuckten seine Schultern. Dann ergriff er den Saum seiner Kapuze und zog sie langsam nach hinten. Weißes Haar kam darunter zum Vorschein. Ihre blauen Augen strahlten selbst bei diesem Wetter hell und klar. »Ihr habt Caerlaverock bereits gefunden, Lord James Douglas«, hörte er sie mit dieser vollen Stimme lachen, die ihm so gut in Erinnerung geblieben war.

Enja! Er hätte es wissen müssen. Kein anderer saß so stolz auf seinem prachtvollen Hengst wie dieses Weibsstück! Trotz der lähmenden Müdigkeit, die von ihm Besitz ergriffen hatte, schaffte er es, ein schwaches Lächeln in ihre Richtung zu schicken. Erleichtert, ihr schönes Gesicht wiederzusehen, sagte er: »Es ist mir eine Freude, Euch wiederzusehen, Lady Enja von Caerlaverock. Hier und jetzt mehr denn je. Seid versichert, wir kommen in guter Absicht, denn wir suchen Eure Hilfe in einer sehr wichtigen Angelegenheit.«

Er konnte sehen, wie Enjas Blick auf den leblosen Mann auf der Liege fiel. »Er ist ein Edelmann und hoher Offizier unserer schottischen Armee und braucht dringend Eure ärztliche Versorgung«, erklärte Douglas ohne Umschweife, bevor sie ihn fragen konnte. »Wir sind seit Tagen unterwegs und bitten Euch um Eure Gastfreundschaft.«

Die Frau, der er seine Freiheit verdankte, war bereits von ihrem Pferd gesprungen und neben die Bahre getreten. Nur ein dunkler Haarschopf war in dem Bündel aus Fellen und Decken zu erkennen, und Enja sah mit prüfendem Blick in das Gesicht des blassen, leblosen Mannes, fühlte seinen Puls an der Halsschlagader und zog die Lider seiner eingefallenen Augen hoch. Ihre Miene gab keinen Aufschluss darüber, was sie dachte, aber sie nickte kurz und gab den beiden Männern ein Zeichen, ihr zu folgen.

In einer fließenden Bewegung schwang sie sich auf den Rücken des Hengstes und dirigierte ihn an Douglas vorbei in den dichten Nebel hinein, aus dem sie gerade gekommen waren.

»Seid meine Gäste«, lud sie die Männer ein. Als hätte er eine andere Wahl, dachte James, dankbar für ihre Hilfe. Er schämte sich nicht im Geringsten, als Bittsteller zu ihr zu kommen. Für seinen König würde er alles auf sich nehmen, und es schien, als wäre es für sie eine Selbstverständlichkeit, ihm zu helfen.

Nicht weit von der Stelle ihres Aufeinandertreffens hielt sie ihr Pferd an einem Seeufer an. Dicke Schwaden zogen über die Wasseroberfläche und hüllten die Luft in nasses Grau. Die Nacht war inzwischen hereingebrochen, und mit ihr kam wieder neue feuchte Luft. Hier am Wasser war der Nebel besonders dick. James Douglas hielt Ausschau nach einer Brücke oder einem Boot, aber er konnte nichts erkennen. Nur eine Seilwinde war am Ufer zu sehen, die Seile selbst führten in Richtung Wasser und verschwanden im Nichts. Auch die Pferde und ihre Reiter waren nicht viel mehr als schwarze Schatten.

Lachlan McKay blickte ihn fragend an, als sie von einem langgezogenen Pfiff überrascht wurden, den Enja mit zwei Fingern im Mund ausstieß. Erstaunt wurden sie Zeugen, wie sich erst die Seilwinde in Bewegung setzte und schließlich ein flaches Fährboot mit einem Bootsjungen aus dem Nebel auftauchte. Nur von der Fackel erleuchtet, die der Junge ihnen entgegenhielt, führte Enja ihren Hengst auf das Boot und half den beiden Männern, die Ponys von ihrer Last zu befreien und ebenfalls auf die Fähre zu bringen. Zu guter Letzt trugen sie den Kranken auf die Tragfläche des flachen Bootes, das so groß war, um locker die doppelte Menge an Leuten und Pferden aufzunehmen.

Wieder kam der langgezogene Pfiff aus ihrem Mund, und das Schiff bewegte sich in die andere Richtung. Bis auf das nervöse Schnauben der Tiere, die sich in der ungewohnten Situation nicht wohlfühlten, hörte man kaum ein Geräusch aus dem Dickicht des Nebelschleiers, der sich um sie herumlegte wie ein schwerer Umhang. Das Einzige, was zu hören war, war Lachlans Stimme, die die Tiere beruhigen sollte. Ab und an klatschten leichte Wellen gegen den Bug. In die Stille hinein sagte Enja zu James: »Ist der kranke Edelmann der einzige Grund, warum Ihr den weiten Weg hierher aufgenommen habt? Meines Wissens liegt die schottische Armee wesentlich weiter südöstlich …«

James blickte im flackernden Schein der Fackel in ihr Gesicht, das wieder im Schatten ihrer hochgezogenen Kapuze lag. »Caerlaverock steht in dem Ruf, die besten Heiler weit und breit zu haben. Die Gesundheit dieses Mannes ist von großer Bedeutung, er … er liegt dem König sehr am Herzen«, erklärte er zögerlich. »Außerdem«, presste er hervor und suchte ihre Augen unter der Kapuze, konnte sie aber nur erahnen, »wisst Ihr genau, was mich hierhergeführt hat.«

Sie sagte nichts, aber er glaubte, sie lächeln zu sehen. Er war hier, um seinen Bruder zu besuchen. Die Nachricht von seiner Genesung lag nun schon ein Jahr zurück. Ein schwieriges Jahr, in dem er und seine Männer für die Interessen ihres Königs Robert Bruce gekämpft hatten.

Dass er persönlich mit Lachlan und unter Einhaltung größter Verschwiegenheit hier war, musste ihr klarmachen, wie wichtig seine Mission war. Noch hatte sie ihn nicht danach gefragt, und er wollte selbst Enja nichts über die Identität der Person verraten, der er so verzweifelt zu helfen versuchte. Er hoffte, es würde auch nicht nötig sein.

James trug Enjas Nachricht immer noch in seinem Lederbeutel um den Hals. Mit ihrer sauberen, klaren Schrift hatte sie ihm in wenigen Worten persönlich geschrieben, dass es Hugh wieder besser gehe. Sein Arm werde erst im Laufe der Zeit vollständig heilen, aber er könne alle Finger bewegen, und sein Appetit sei zurückgekehrt. Unwillkürlich ging seine Hand nun zu dem kleinen Lederbeutel um seinen Hals. Das war es, woran er sich all die Zeit geklammert hatte. Die Hoffnung, Hugh wiederzusehen und diese Frau, die ihn in seine Träume begleitete. Verstohlen musterte er sie, wie sie hoch aufgerichtet am Bug stand und in dem grauen Nebelschleier nach etwas Ausschau hielt, das er nicht sehen konnte.

Schließlich knirschten Kiesel unter dem Bug und kündigten das Ufer an. Im selben Moment konnte Lord Douglas die Fackeln in den Händen einiger Menschen sehen. Mit ihrer befehlsgewohnten Stimme kündigte Enja James und McKay an, woraufhin sie von zahlreichen Frauen, Männern und Kindern freundlich begrüßt wurden. Jetzt erkannte James, dass die Seilwinde von einem Esel angetrieben wurde, umringt von Kindern, die ihn ausschirrten, streichelten und fütterten.

Hilfsbereite Hände hoben den kranken Mann aus dem Fährboot und brachten die Ponys durch ein großes, steinernes Tor. Erst jetzt wurde James bewusst, dass sie im Inneren der Burg angelangt waren. Nur wenig war in dem vage von den Fackeln beleuchteten Dunst erkennbar. Es musste eine große Burg sein, denn im Hofinnern kamen viele Leute angelaufen, um Enja und ihre Besucher zu begrüßen, darunter zahlreiche Frauen in Kleidern und Hosen, von denen er drei selbst in der schwach erleuchteten Umgebung sofort erkannte: Kalay, das Mädchen mit dem roten Zopf, die kleine Winnie und Moira, die sich sofort über den Kranken beugte.

Lachlan war einige Jahre älter als er und hatte einen ihm sehr eigenen Charme, der bei den Frauen stets gut ankam. Und bei so viel freundlicher Aufmerksamkeit kehrte seine gute Laune trotz der Müdigkeit wieder zurück. Für Kalay hatte er sogar ein Lächeln zustande gebracht und scherzte mit der schlanken Kriegerin.

»Bringt den Mann auf der Bahre in die Krankenkammer!«, befahl Enja zwei der umstehenden Männer und deutete mit der Hand in die grobe Richtung. »Und richtet unseren Besuchern die Gästekammern«, fügte sie an zwei Frauen mit Hauben und Schürzen gewandt hinzu.

»Nein!«, erwiderte Douglas und stellte sich den Männern in den Weg. »Ich werde bei dem Kranken bleiben, er steht unter meiner Verantwortung.«

Enjas seltsamer Blick traf ihn mit voller Wucht. »Ihr werdet ihm nicht helfen können, Lord Douglas. Eure Anwesenheit in der Krankenkammer ist nicht erwünscht.« In ihrem Ton lag etwas Dringliches. Und doch wollte James seinen Begleiter nicht allein lassen.

»Ich habe geschworen, alles zu tun, um ihn zu retten. Jetzt bin ich hier, und ich werde ihm nicht von der Seite weichen«, erklärte er entschlossen. Seine Lippen hatte er aufeinandergepresst, seine Hände in die Hüften gestützt.

Er zuckte zusammen, als ihn Enjas Hand an der Schulter berührte. Er hatte nicht bemerkt, wie nah sie an ihn herangetreten war.

»Übergebt ihn, James«, beruhigte sie ihn mit leiser Stimme. »Ihr könnt ihm nicht helfen mit Eurer bloßen Anwesenheit. Meine Heilerinnen werden alles tun, was in ihrer Macht steht. Betet lieber für ihn, er wird es brauchen können.«

Er war müde und erschöpft. Seine Schultern sackten nach unten. Diese Aufgabe war eine schwere Bürde, aber er würde sie nun an Menschen übergeben, die besser über Krankheiten Bescheid wussten als er.

Schweren Herzens stimmte er Enja zu und ging den beiden Helfern aus dem Weg, die vorsichtig den leblosen Körper hochnahmen und in Begleitung von Moira in einem der Eingänge verschwanden. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht, als könnte er damit die Müdigkeit vertreiben. Enjas Hand lag noch immer auf seiner Schulter. Wieso spürte er auf einmal diese Kraft von ihr ausgehen? Müde blickte er in ihr vertrautes Gesicht, ein heller Fleck in dieser dunklen Zeit. Augen so klar wie Kristalle glitzerten im Licht der Fackeln. Sie sah ihn ernst und durchdringend an. War ihr Mund immer schon sinnlich gewesen? Spielten seine ausgezehrten Sinne ihm einen üblen Streich?

»Ruht Euch aus, James, Ihr seid am Ende Eurer Kräfte. Nehmt ein heißes Bad und trinkt ein wenig warmes Bier. Ich sende nach Eurem Bruder, es geht ihm gut.«

Er nickte wie in einem weit entfernten Traum. Ein junges Mädchen mit im Nacken kurz geschnittenem Haar, das die linke Seite ihres Gesichts bedeckte, knickste vor ihm und begleitete ihn in seine Kammer. Den Weg dorthin nahm er kaum noch wahr.

* * *

Nachdenklich drehte ich immer wieder den Tonbecher in meinen Händen. Der Duft der Mokkabohne weckte in mir eine tiefe Melancholie, die sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart betraf. James’ Ankunft heute Nachmittag hatte mich erneut mitten in das aufgewühlte Geschehen in Schottland gezogen. Diese Burg war ein Stück Heimat für mich und all die Menschen hier, und das hing nicht von dem Sieg der richtigen Seite ab. Ich fühlte mich weder als Engländerin noch als Schottin. Aber dennoch wusste ich, dass ich mich und meine Vertrauten in Zukunft politisch positionieren musste.

Der Anblick von James Douglas hatte mich zutiefst erschüttert. Den unbeschwerten jungen Mann, den ich vor ein paar Jahren in Douglas Castle kennengelernt hatte, als ich selbst schwach und verletzt gewesen war, erkannte ich nicht wieder. Stattdessen stand ein Mann vor mir, den die Entbehrungen und Schrecken des Krieges gezeichnet hatten. James’ aristokratische Blässe war einem dunklen, rauen Teint gewichen, der die Furchen in seinem Gesicht tiefer wirken ließ. Die Sorgenfalte zwischen seinen Augen war inzwischen eine in angespannte Züge eingemeißelte Kerbe, die von der schweren Last sprach, die auf seinen Schultern lag. Die einst so freundlichen braunen Augen hatten ihren Glanz verloren und lagen in tiefen Schatten. Was mochten sie gesehen haben, diese traurigen Augen? Seine Lippen waren aufgesprungen und spröde, ein harter Zug ließ kaum ein Lächeln zu. Selbst unter dem gestutzten Bart hatte ich seine Kiefermuskeln arbeiten sehen.

Wie konnte sich ein Mensch so verändern? Sein Körper hatte deutlich an Muskeln und Masse zugelegt. Aus dem einst so feingeistigen Menschen war ein harter Kämpfer geworden. Sein Auftreten wirkte beinahe martialisch, dem nahm auch die Müdigkeit nichts von seiner Gefährlichkeit. Erschreckend zeigte sich an ihm, was der Krieg aus einem Mann machte, der alles verloren hatte und nun ums nackte Überleben kämpfte.

Robert Bruce scharte viele solcher Männer um sich, um seine Ansprüche auf das schottische Land durchzusetzen. Frustrierte und wütende schottische Adlige, die ihr Land, ihr Ansehen und oft auch Angehörige unter König Edwards brutaler Hand verloren hatten. Nicht umsonst trug er den Beinamen »Hammer der Schotten«, den er sich in den Jahren des Kampfes um die schottische Unabhängigkeit verdient hatte.

Für mich allerdings war der schottische König Robert, Lord von Arnandale, ein hoffnungsloser Fall. Nach der eigenhändigen Ermordung seines Rivalen John Comyn am 6. Februar 1306 in der Greyfriars Kirche in Dumfries und seiner eigenmächtigen Krönung kaum sieben Wochen später in Scone waren ihm nicht alle Schotten wohlgesinnt. Die Unterstützung seiner Sache erfolgte nur zögerlich, und die Niederlage im August in Methven gegen die englischen Armeen war ein weiterer herber Rückschlag für den jungen, aber ehrgeizigen König der Schotten gewesen.

Über den Maxwell-Clan wurde ich gut über den Verlauf des Krieges informiert, da sie in enger Verbindung mit Roberts Gefolgsleuten standen. Auch einige der Lehnsmannen des Clans kämpften an seiner Seite.

In den Wirren des schottischen Unabhängigkeitskrieges war Caerlaverock aus dem Fokus des englischen Königs geraten, der einen persönlichen Groll gegen mich hegte. Kein Wunder, hatte ich mich doch meiner Hinrichtung entzogen und dafür gesorgt, dass ein paar seiner Gefolgsleute mitten in London Opfer ihrer eigenen Justiz geworden waren.

Mithilfe der Maxwell-Krieger konnten wir den beiden englischen Angriffen auf Caerlaverock standhalten, eine Burg, die ich mithilfe des Clans zu einer Trutzburg mit enormen Ausmaßen ausgebaut hatte. Sie wurde die Zuflucht meiner Leute. Ich wollte nie Krieg mit Edward, aber sein Handeln zwang mich, gegen ihn Stellung zu beziehen. Bisher war es mir erfolgreich gelungen, meine Ansprüche zu verteidigen. Leider war ich dadurch in meinem Bestreben nicht weitergekommen, mich als offizielle Eigentümerin der Burg zu behaupten.

Wenn ich wenigstens gewusst hätte, wo der schottische König sich zu dieser Zeit aufhielt, hätte ich ihn gerne mit meiner Bitte konfrontiert. Allerdings hatte de Bruce nach der verlorenen Schlacht von Methven ein ernsthaftes Problem. Es hieß, er habe sich vor den englischen Truppen in den Norden des Landes geflüchtet. Vielleicht war er schon in Skye, einem strategischen Rückzugsort, der vom Clan der McLeods kontrolliert wurde?

In wenigen Schritten war ich mit meiner dampfenden Tasse an der Kammer angelangt, in der wir den kranken Mann behandelten. James hatte mir nicht verraten, wer er war. Sicher ein wichtiger Mann aus dem höchsten Kreise Roberts, ein Adliger wahrscheinlich. Ich hoffte nur, dass die Engländer noch nichts über seinen Aufenthalt bei uns erfahren hatten, sonst hätten wir in den nächsten Tagen wieder die Armee vor den Toren.

Verärgert über den Verlauf der Ereignisse nahm ich einen großen Schluck des bitteren Getränks und stieß die Tür zur Kammer auf. Moira und ihre Assistentin hatten den Kranken gerade gewaschen und rasiert, als ich eintrat. Anscheinend war mein Gesichtsausdruck nicht gerade freundlich, denn beide hielten in ihrer Arbeit inne und sahen mich erschrocken an. Daher räusperte ich mich, setzte ein bemühtes Lächeln auf und sprach in neutralem Ton: »Irgendwelche Erkenntnisse?«

Moira nickte und gab mir einen kurzen Bericht über den Zustand des Patienten. »Der Kranke ist etwa dreißig Jahre alt, sein Puls und die Atmung sind regelmäßig. Er muss wohl schon vor einigen Stunden in tiefe Ohnmacht gefallen sein. Die Pupillen sind leicht geweitet, das Weiß hat einen gelblichen Stich, und die Haut ist kühl. Bis auf leichte Verhärtungen im Unterbauch keine äußeren Anzeichen einer Entzündung.«

Isaak wäre stolz auf meine Schülerin gewesen. Ich stellte die leere Tasse auf einen Tisch mit einigen meiner Utensilien und trat neben den Mann, der bis auf ein Leintuch, das seine untere Körperhälfte bedeckte, nackt war. Er war muskulös, hatte kräftige Arme und Schultern. Sein Haupthaar war dunkel und setzte sich mal mehr, mal weniger dicht in kleinen Locken auf Brust und Armen fort. Große und kleine Narben zogen sich über den gesamten Oberkörper. Offenbar ein Edelmann, der sich nicht vornehm zurückhielt, wenn es zum Kampf kam.

Meine Hand glitt über seinen rechten Oberbauch und fühlte die Schwellung in Höhe der Leber, die Moira bereits bemerkt hatte. Die Farbe seiner Haut war im Licht der Öllampen schwer zu bestimmen, aber vermutlich war auch sie leicht gelblich. Die Leber schien schwer arbeiten zu müssen, das war mir klar gewesen, als ich seine Augen auf der Bahre kurz inspiziert hatte.

Wir mussten herausfinden, welchen Schaden das Organ genommen hatte. James hatte mir mitgeteilt, dass der Kranke bereits seit Wochen über Übelkeit, Bauchkrämpfe und Schmerzen geklagt hatte. Die wenigen Heiler im schottischen Lager hatten ihm bisher nicht helfen können, und er schien zusehends kränker zu werden. Schließlich hatte James es als einzigen Ausweg gesehen, mich aufzusuchen. Alkohol als Ursache schied aus, denn angeblich trank der Kranke nur selten Wein oder Bier. Ich tippte angesichts der kläglichen Lage, in der die schottische Armee sich befand, eher auf eine Mangelernährung. Vielleicht eine Fleisch- oder Fischvergiftung? Das Wort Vergiftung löste in mir einen Gedanken aus.

»Hat er Wasser zu sich genommen?«, fragte ich Moira während des Abtastens.

»Wir konnten ihm fast einen halben Liter einflößen, sein Schluckreflex ist wenigstens noch intakt«, antwortete sie.

»Gebt ihm Brühe, wenn er die Flüssigkeit so gut aufnimmt. Er braucht Salze und Fette«, wies ich sie an, und sie schickte ihre Magd sofort los. »Ich werde seinen Urin untersuchen. Konntet ihr etwas sammeln?«

»Nein, er hat leider nichts von sich gegeben. Es wird eine Zeit dauern, bis er wieder Wasser lässt.« Nachdenklich sah ich in das Gesicht des Kranken. Seine Lippen waren aufgesprungen wie die von James. Vermutlich hatte er seit vielen Stunden nichts Flüssiges, geschweige denn Nahrhaftes eingeflößt bekommen. »Ich brauche einen Nachweis über eine Vergiftung.«

»Vergiftung?« Moira sah mich mit offenem Mund an. »Woher wisst Ihr von einer Vergiftung?«

»Die Leber ist schwer in Mitleidenschaft gezogen. Vielleicht ein verdorbener Fisch, eine giftige Frucht oder …«, ich dachte kurz nach, »oder ein giftiger Pilz rutscht aus Versehen in ein Gericht.« Ich betrachtete das Gesicht des Kranken und fügte nachdenklich hinzu: »Oder mit Absicht.«

Moira trat auf die andere Seite der Liege. Sie blickte sehr ernst drein. »Warum sollte jemand diesen Mann im eigenen Lager vergiften?«

Unsicher zuckte ich mit den Schultern. »Vielleicht war er jemandem zu wichtig geworden, wer weiß?« Irgendetwas gefiel mir an der Situation nicht, und eine unerklärliche Angst schnürte meine Brust zusammen. Um mir meine Sorge nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, ergänzte ich hastig: »Vielleicht war es auch nur eine eifersüchtige Rivalin.«

Moira lächelte schwach. »Frauen ist alles zuzutrauen, nicht wahr?« Sie blinzelte mich mit ihren bernsteinfarbenen Augen an, und ich nickte.

Nachdem Moira ihm etwas Urin aus der Blase mithilfe einer speziellen Metallröhre entnommen hatte, schickte ich Isaak ein Dankesgebet. Denn aufgrund seines Interesse für die Gifte der Natur hatte ich ein ganzes Sammelsurium an möglichen Vergleichsstoffen, die Moira nun in kleinen Schalen vor mir aufreihte. Farbe, Zusammensetzung und Geruch des Urins wandelten sich bei Personen, die ihr körperliches Gleichgewicht durch Krankheit verloren hatten. Ich war inzwischen geübt darin, diese Unterschiede zu erkennen. Moira füllte den Urin in ein Silbergefäß, um den Eigengeruch zu verstärken.

Mit routinierten Griffen nahm ich die kleinen Gefäße und roch an den Giftextrakten, die ich präpariert hatte. Bei einem blieb ich hängen. Es war das Gift eines weißen Knollenblätterpilzes und verströmte einen ähnlichen Geruch wie die Urinprobe. Also lag ich mit meiner Vermutung richtig: Der Mann hatte eine Pilzvergiftung. Es glich einem Wunder, dass er noch lebte, vermutlich hatte er das Gift in kleinen Dosen erhalten. Jemand hatte versucht, ihn langsam und qualvoll zu töten.

Nachdenklich starrte ich auf das blasse Gesicht des Kranken. Was machte ihn so wichtig, dass ihn jemand töten wollte? Die Engländer würden sich doch nicht solch eine Mühe machen, einen Schotten, selbst einen adligen Schotten, auf so aufwändige Weise zu töten. Ein Schwerthieb wäre wohl die erste Wahl. Aber vielleicht hatte der Mann in seinem eigenen Lager Feinde? Wie sollte ich das James beibringen? Wenn dieser Mann hier überlebte – und das stand noch in den Sternen –, was würde er dann tun?

Unbewusst suchte ich Moiras Blick; auch in ihrem Gesicht sah ich Ratlosigkeit, die fein geschwungenen Augenbrauen waren sorgenvoll gekräuselt.

»Gib ihm einen Extrakt aus der Frucht der Mariendistel. Am besten als Tee mit viel Wasser«, instruierte ich sie. »Haben wir noch etwas von den konzentrierten Kohleperlen?«

Sie nickte hastig, denn sie wusste, was dies bedeutete. »Wurde er von seinen eigenen Leuten vergiftet?« Cleveres Mädchen.

»Das kann ich nicht sagen, aber alles deutet auf eine lange Einnahme des Giftes hin. Vermutlich ein weißer Knollenblätterpilz, sehr aggressiv.«

Die Erkenntnis raubte mir selbst fast den Atem. Die Schädigung der Leber war meine größte Sorge. Er hatte die Statur eines kampferprobten Ritters, aber ein kleiner weißer Pilz raubte ihm die Lebenskraft. Würde er es überstehen?

* * *

James Douglas und sein Begleiter hatten an meinem Tisch in der großen Halle Platz genommen. Hier war der Boden mit Teppichen und Kissen ausgelegt, die ich aus dem Orient mitgebracht hatte. Alle Kinder waren wild darauf, hier auf den weichen Kissen zu sitzen und der Musik zu lauschen, die abends aufgespielt wurde. Das gesellschaftliche System hier auf meiner Burg war auf eine flache Hierarchie gegründet. Die Tore von Caerlaverock standen allen offen, die Schutz suchten und sich integrieren wollten. Es entstand dadurch eine bunte Mischung aus Menschen unterschiedlichster Herkunft. Manche stammten noch aus meiner Zeit im Orient, andere fanden hier Schutz und eine Familie. Oft waren es Kinder und Waisen, die wie Treibholz vom Krieg an meine Mauern geschwemmt wurden. Die Zahl der Männer, Frauen und Kinder erreichte in diesen Tagen über einhundert, und ich war sehr stolz, wie friedlich das Miteinander vonstattenging.

Die Kinder meines Clans waren auch meine Kinder, und sie durften uneingeschränkt in meiner Nähe sein. Sie wurden von den gebildeten Frauen unterrichtet und gemeinschaftlich erzogen, während die Mütter und Väter ihre Arbeit verrichteten. In unserer Gemeinschaft gab es viele Mütter, deren Männer im Krieg oder durch Krankheit umgekommen waren. Auch viele Vollwaisen befanden sich unter den Kleinen.

Als ich nun die große Halle betrat, liefen viele der Kinder auf mich zu und begrüßten mich stürmisch. Mein Herz machte einen Sprung, so gut tat mir die Freude, die den Kindern ins Gesicht geschrieben stand. Sie hingen mir an den Armen und Beinen, und ich hob manch eines auf meinen Arm, um ihm einen Kuss zu geben.

Besonders hatte es mir der stumme Thorvil angetan, der sich nur mit seinen Händen verständlich machen konnte. Mit ihm auf dem Arm und der Traube an Kindern im Schlepptau machte ich mich auf den Weg zum großen, runden Tisch am Ende der Halle. Wir hatten die zerstörten Mauern der alten Burg wieder hochgezogen und der Halle eine Holzdecke mit dunklem Anstrich verpasst. Sie dämpfte den Lärm genauso wie die zahlreichen geknüpften Wandteppiche, die lebhafte Geschichten aus der Welt des Morgenlandes erzählten. Einige davon hatte ich aus Hassans Schatzkammer mitgebracht, andere hatten die Frauen meines Clans in jahrelanger Webarbeit für mich hergestellt, und jedes dieser farbenprächtigen Werke erzählte eine weitere Geschichte aus Orient und Okzident. Die Kinder kannten sie alle, und vor allem Hal hatte sich als großartiger Geschichtenerzähler hervorgetan, dem die Kinder an den Lippen hingen.

Auf dem Weg zum hohen Tisch begrüßte ich die Kämpfer der Kampfgarde und die Musiker, die mit leichter Harfenmusik die Gäste erfreuten. Ein paar Mädchen hatten sich zum gemeinsamen Gesang versammelt. Dank der umfangreichen Bibliothek Hassan I‑Shabbahs und dessen Hofarchitekten hatte ich die Prinzipien des Orients im Wiederaufbau der Halle eingebracht. Selbst leise gespielt waren durch die raffinierte Holzkonstruktion der Decke sämtliche Instrumente und Stimmen über die ganze Fläche des Saales zu hören.

Mit unerbittlicher Kraft schoben mich die Kinder an meinen Tisch, an dem die beiden Gäste Platz gefunden hatten, vorbei an dem großen Herd in der Mitte des Saales, der so angenehme Wärme spendete. Die Männer standen auf und begrüßten mich mit einer Verbeugung, die flache Hand auf der Brust.

»Ich sehe, die Küche hat Euch bereits mit Speis und Trank umsorgt. Bitte lasst Euch nicht stören, meine Leute haben nun Anrecht auf ein wenig meiner Aufmerksamkeit«, erklärte ich den Ansturm der Kinder. Dabei ließ ich den kleinen Thorvil von meinem Arm auf den Stuhl neben dem meinen gleiten und setzte mich rechts des frisch gewaschenen und rasierten James Douglas an den Tisch. Die anderen Kinder ließen sich rundherum auf die Kissen nieder und lauschten gebannt der Musik.

Erstaunlich, was Schlaf, ein wenig Essen und ein gutes Bad mit einem Mann anstellten. Müdigkeit und Erschöpfung waren verschwunden, und auch der Gesichtsausdruck der beiden war um einiges freundlicher als noch bei der Ankunft.

»Wir danken Euch noch einmal für Eure großzügige Gastfreundschaft. Wir genießen es sehr, so angenehm und hilfsbereit in Eurer Mitte aufgenommen worden zu sein«, bestärkte mich Lord Douglas mit seiner warmen Stimme und setzte schnell hinzu: »Und auch für die ärztliche Hilfe bin ich Euch zu ewigem Dank verpflichtet, Mylady

»Bitte setzt Euch doch, Lord Douglas, und erzählt mir, was Euch und dem armen Mann widerfahren ist. Die Ankunft Eures Bruders wird sich wohl noch ein wenig verzögern. Er war mit Hal auf der Jagd, und mit Einbruch der Nacht hat sich die Rückkehr wohl verzögert.«

Seine braunen Augen ruhten ernst und prüfend auf meinem Gesicht. Schließlich nickte er. Seine dunklen Haare waren noch nass vom Bad und fielen in schweren Strähnen auf seine Schultern. Seine langen und schwieligen Finger umklammerten den Holzbecher mit dem warmen Bier. Die Falte zwischen seinen Augen zog sich tief in seine Stirn. Er wischte sich über die Augen und seufzte schwer, als hätte er die Last eines ganzen Jahrhunderts auf seinen Schultern.

»Mitte Juni dieses Jahres fiel Perth an die Engländer«, fing James mit einem tiefen Atemzug an zu erzählen. »Robert Bruce, unser König, war ziemlich ungehalten und wollte mit einer Armee von viertausend Mann die Stadt zurückerobern. Da wir spät vor den Toren Perths angekommen waren, ließ sich keiner der verdammten Engländer mehr aus der Stadt herauslocken. Wir schlugen daher unser Lager in der Nähe am Fluss Methven auf. Unsere Überzahl hatte die Engländer ziemlich kalt gelassen, und sie griffen uns überraschend mitten in der Nacht an.«

Ich zog scharf die Luft ein und unterbrach ihn unfreundlich: »Wie konnte es sein, dass die Schotten eine heranrückende Armee nicht gehört haben? Waren keine Wachen aufgestellt?«

James sah mich finster an. »Bruce war sich wohl sicher, dass sie sich nicht hinter den Stadtmauern hervortrauen würden, solange die Schotten davor lagern«, gab er zerknirscht zu. »Das war ein fataler Fehler.« Er hob seinen Becher und nahm einen tiefen Schluck. »Der Earl von Pembroke, Aymer de Valence, war es, der die englischen Truppen aus der Stadt führte und unsere unvorbereiteten Leute tötete. Nur ein paar Hundert konnten flüchten. Lachlan und ich hielten die Männer von de Valence immerhin so lange in Schach, bis Robert Bruce und ein paar seiner Ritter entkommen konnten. Zusammen schafften wir es mit Mühe zu der nahegelegenen Abtei Inchaffrey. Die Mönche führten uns noch in der Nacht auf abenteuerlichen Wegen nordwestlich. Es wäre auch alles gut gegangen, hätten uns nicht in Höhe Dilrigh die Männer von John Dougall MacDougall und die MacNab-Brüder in einen Hinterhalt geführt. Sie hatten Vergeltung geschworen, weil Bruce ihren Verwandten John Comyn in einer Kirche ermordet hatte.« Seine Hand bewegte sich fahrig durch seine Haare. »Sie waren so nahe dran, uns aufzureiben.« Er zeigte mit Zeigefinger und Daumen einen winzigen Abstand an, um die Dramatik zu betonen. »Sie hatten Bruce beinahe an seinem Umhang vom Pferd gezerrt, bevor ihn Lachlan in letzter Sekunde noch aus dem Gerangel ziehen konnte. Er hat mit seinem Pferd einen der MacNab-Brüder förmlich überrannt, die Brosche des verdammten Umhangs abgerissen und ist mit Robert davongaloppiert.«

»Ich hätte beinahe einen Finger eingebüßt«, schaltete sich McKay nun ein, »so einfach wollten sie den König dann doch nicht davonkommen lassen.« Dabei hielt er mir grinsend die Hand entgegen, und tatsächlich hing der rechte kleine Finger etwas schief in seinem Gelenk.

»Den sollte ich mir morgen mal genauer anschauen.« Mein Ton machte ihm klar, dass ich es ernst meinte, und sein Grinsen erstarb.

Selbst James’ Mundwinkel bewegten sich endlich nach oben, er tat sich sichtlich schwer, nach den Tagen der Qualen wieder in eine heitere Stimmung zu kommen.

Die Musiker hatten inzwischen zu Flöten gewechselt und den kleinen Trommeln, die sie hier in Schottland Bodhran nannten. Die Mädchen sangen ein Volkslied über eine unglückliche Liebe zwischen zwei jungen Menschen. Gerade wollte ich die unruhigen Kinder, die in den Kissen um den Tisch herumtollten, zum Tanz schicken, als das große Tor am Südflügel aufgerissen wurde. Die Flammen im großen Kamin flackerten nervös auf.

Hal in seiner vollen Größe stand dort, und er schien nicht gerade amüsiert zu sein. Sein blanker Kopf glänzte von Nässe, der Fellmantel tropfte auf die Steinstufen. Sofort liefen die Dienstmägde zu ihm, um ihm den Umhang abzunehmen. Darunter trug Hal seine Waffenweste mit den schuppenartig angelegten Lederstücken. Seine Äxte steckten noch im Gürtel, als er sich seinen Weg zu uns an den Tisch bahnte.

Die Kinder liefen johlend auf ihn zu, um ihn zu begrüßen, und er packte sich gleich zwei der frechen Jungs, wirbelte sie durch die Luft und warf sie auf die Kissen neben unserem Tisch, auf denen sie vor Freude kreischend landeten. Neben unserem Tisch blieb er stehen. James und McKay waren aufgestanden und begrüßten ihn mit einem festen Händedruck.

Hugh dagegen, der nach Hal die Halle betreten hatte, warf sich mit einem Freudenschrei in James’ Arme. Er lachte und schluchzte an der breiten Brust seines Bruders. James presste den jüngeren Douglas an sich. In seinem vom Krieg gezeichneten Gesicht zuckte es gefährlich. Immer wieder wischte er sich mit der Hand über die Augen.

Respektvoll wandte ich mich ab, um den beiden Brüdern ein wenig Zeit zu geben, und dachte für einen Moment an meinen kurzen Aufenthalt auf der Douglas-Burg zurück. Meine Gedanken verweilten bei James’ Familie, die er verloren hatte: Eleonore, William und Matthew.

Mein Blick fiel auf den stummen Thorvil neben mir, der genüsslich an einem Rippchen nagte. Es drehte mir förmlich den Magen um, als mir die Vorstellung in den Kopf schoss, jemand würde ihm den Schädel einschlagen. Genau in diesem Augenblick packten ihn zwei riesige Hände, hoben ihn aus dem viel zu großen Stuhl und warfen ihn in die weichen Polster zu den anderen Kindern, wo er grinsend wieder aus dem Meer an Kissen auftauchte.

Hal ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, der unter seinem Gewicht ächzte. Seine Lederweste knarrte während jeder seiner Bewegungen. Er schob eine seiner Pranken vor, packte den nächstbesten Humpen und schüttete in wenigen Zügen das Bier hinunter. Mit einem Knall setzte er das Gefäß zurück auf den Tisch und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Dabei entließ er geräuschvoll die überschüssige Luft aus seinem Mund.

»Was starrst du mich so wütend an, Enja?«, zischte er mich von der Seite an. »Störe ich dich etwa bei einer Tändelei mit deinem Verehrer?«

Oh, daher die schlechte Laune!

»Hal, du störst immer«, zischte ich zurück.

Seine grünen Augen unter den drohend gesenkten Augenlidern sahen tief in meine, und wie immer schien er meine Gedanken lesen zu können. Es war, als würde er mit mir über seine Augen kommunizieren, und ich spürte eindeutig seine Warnung. Vor James.

Unbeeindruckt von unserem kurzen Schlagabtausch hatte nun auch McKay Hugh herzlich umarmt und schlug ihm kräftig auf die Schultern. Hugh überragte den gedrungenen Lachlan fast um einen Kopf. Seit ihrer letzten Begegnung hatte Hugh nicht nur an Größe, sondern auch an Körpergewicht gewonnen, und aus dem schlaksigen, mageren Jungen war ein kräftiger junger Mann geworden. Mit seinen kurzen dunklen Haaren und den freundlichen braunen Augen kam er nach der väterlichen Douglas-Linie. Er war fast ein jüngeres Abbild seines Bruders, ohne dessen harte Züge und tiefe Furchen. Sein Grinsen entblößte den linken Schneidezahn, von dem nur noch die Hälfte übrig war, als er sich mit Hal einen mutigen Kampf mit Holzstöcken geliefert hatte. Er hatte keine dreißig Sekunden aufrecht auf dem Platz gestanden, aber die Herzen der Mädchen gewonnen – sehr zu Hals Ärger.

Trotz seiner schwierigen Armverletzung war aus ihm ein wendiger, taktisch klug agierender Kämpfer geworden. Bis auf ein paar Narben erinnerte nichts mehr an seine schwere Verwundung. Nur sein loses Mundwerk unterschied ihn noch von seinem Bruder, dem er stets nacheiferte.

Hal berichtete mir nach seiner ruppigen Begrüßung mit knappen Worten über das Ergebnis seiner Jagd, die mit einem erlegten Hirsch erfolgreich verlaufen war. Die Kinder tanzten zu einem Instrumentalstück, und die meisten Frauen und Männer klatschten begeistert mit. Die Stimmung war sehr ausgelassen, und die Freude über die wiedervereinten Brüder erfasste unseren Tisch. Als Hausherrin brachte ich einen Toast aus auf unsere Gäste, die ihr Glas erhoben.

»Auf die Familie Douglas, möge die Kraft Gottes durch Eure Taten glänzen!«, erhob ich meine Stimme feierlich und setzte meinen Becher an die Lippen.

»Auf Robert de Bruce, den König der Schotten!«, grölte Hugh laut hinterher, woraufhin ich mich verschluckte.

Für alle hörbar räusperte ich mich. »Hugh«, maßregelte ich ihn ein wenig unwirsch, »solange ich weder dem einen noch dem anderen König die Treue geschworen habe und sie mich nicht als Herrin von Caerlaverock anerkennen, werde ich auch nicht auf einen der beiden trinken.«

Hugh zuckte zusammen, er hatte wohl vergessen, welch ein wunder Punkt dies für mich war. Aber dann zeigte er sein schelmisches Lächeln und hob noch einmal sein Glas. »Dann eben auf die Gesundheit Roberts, auf dass Enja ihn wieder gesundpflegt!«

Aus meinem Gesicht wich jegliches Blut.

Hal polterte von seinem Stuhl hoch und schlug brüllend mit der Faust auf die Tischplatte, dass die Teller und Platten hüpften. James und McKay standen ebenfalls auf und stierten alarmiert erst Hugh, dann Hal und mich an. Die Leute in der Halle hörten auf zu lachen und starrten uns an.

Die Musik verstummte, das lächerliche Tröten einer der Pfeifen war der letzte Laut, der an meine Ohren kam. Dann herrschte Totenstille.