Kapitel 18

Alamut im Jahre 1299

Als Kind wusste ich immer genau, wo Mama den Honigtopf aufbewahrte. Honig gab es nur sehr selten, daher war er etwas Besonderes. Ich kroch, ohne über die Verwerflichkeit meines Tuns nachzudenken, durch den Luftschacht des Holzkamins, der in die große Küche führte und eine Verbindung zur Vorratskammer hatte.

Es blieb natürlich nicht bei einem Mund voll, ich steckte meine gierigen Finger gleich ein paarmal in den kleinen Pott mit der so seltenen süßen Verlockung. Zufrieden kletterte ich auf dem gleichen Weg wieder zurück. In meiner Einfalt glaubte ich, dass niemand das Verschwinden des kostbaren Honigs bemerken würde.

Am nächsten Morgen wurde mir klar, dass es keine gute Idee gewesen war, fast die Hälfte des Pottes zu leeren. Mein Vater rief Jalla und mich bereits in aller Frühe unheilvoll in die Küche. Den Honigtopf hatte er vor uns auf den Holztisch gestellt. Jalla steckte sich unbeteiligt den Daumen in den Mund, während ich betreten zu Boden schaute. Mein Vater sah erst Jalla, dann mir in die Augen und fragte rundheraus, wer den Honig gestohlen hatte.

Ich gab natürlich nicht zu, dass ich es gewesen war, und blickte nur anklagend auf meine Schwester, die genauso verrückt nach Honig war wie ich. Obwohl ich mir zudem meine klebrigen Finger gewaschen hatte, um ja keinen Verdacht auf mich zu lenken, bezichtigte mein Vater direkt mich des Diebstahls und warf mir auch noch vor, ihn anzulügen. Woher wusste er es? Ausgerechnet meine Schwester Jalla, diese Verräterin, brachte mich auf den Haken an meiner Geschichte. Grinsend nahm die den Daumen aus ihrem Mund und strich mir damit über die Wange. Ein schwarzer Aschestreifen färbte den Daumen dunkel. Die ganze Zeit war der Beweis meines Diebstahls in meinem Gesicht zu lesen gewesen, und ich hatte mich so sicher gefühlt …

* * *

Genau dieses Gefühl der Scham beschlich mich jetzt wieder. Dass die Wahrheit für alle sichtbar in meinem Gesicht stand und ich bis zuletzt so getan hatte, als wäre ich jemand anderes. Dies beschrieb in etwa das Gefühl, das mich nun in Anwesenheit von Hassan, Hal, Nabil, Shi Fu und natürlich Jasemin in seiner vollen Wucht traf wie die Anklage meines Vaters.

»Enja!«, rief sie noch einmal. In Hals erschüttertem Blick erkannte ich Vorwurf und Enttäuschung. Shi Fu nickte nur stumm, als hätte er es schon immer gewusst, und Hassan lachte in der ganzen Verwirrung, die Jasemins Ausruf auslöste, nur laut auf.

»Ein Weib!«, rief er und hielt sich den Bauch vor Lachen. »Ein Weib, das meine Mätresse geschwängert hat?« Er fand die Vorstellung wohl komisch. Dass er damit den Kreis der Verdächtigen auf Hal und Nabil beschränkte, schien ihm in diesem Moment noch nicht aufgegangen zu sein.

Nabil dagegen schon, denn er riss seine dunklen Augen auf und zog blitzschnell den Krummsäbel. Er wollte gerade auf Hal losgehen, als ich mich blitzschnell gegen den Körper meines Freundes warf, um ihn aus Nabils Reichweite zu stoßen. Nabil erwischte ihn dennoch und versetzte ihm einen Schnitt über Hals, Ohr und einen Teil seiner Wange. Hal glich mit einem Schritt rückwärts meinen Aufprall aus und hielt sich die Hand ans blutende Gesicht. Ich dagegen trat mit meiner Ferse dem völlig überraschten Nabil gegen die Schläfe. Gleichzeitig fing ich seinen Arm ab, mit dem er den Dolch hielt, und nutzte den Schwung, um ihm die Waffe selbst in den Bauch zu rammen. Alles ging rasend schnell, und es dauerte einige Sekunden, bis die Umstehenden verstanden hatten, was passiert war.

Shi Fu nickte nur, als hätte ich eine seiner besten Übungen zu seiner Zufriedenheit erfüllt. Hassan hatte zu lachen aufgehört, und Hal brüllte wütend in seiner Muttersprache ein paar Flüche, die aber niemand verstand. Nur Jasemin keuchte entsetzt auf und sprang in einer verräterischen Geste ihrem sterbenden Geliebten zur Seite.

»Nabil!«, kam es erstickt aus ihrem Mund, und mit einer verzweifelten Bitte wandte sie sich an uns: »Bei Allah, so helft ihm doch!«

Nabil krümmte sich auf dem kostbaren Teppich seines Königs und rang mit dem Tode. Der Krummdolch hatte eine tödliche Schneise geschlagen zwischen dem unteren Rippenbogen und seiner Leber. Blut sickerte aus dem tiefen Schnitt, und es würde nur wenige Minuten dauern, bis Nabil das Zeitliche segnete. Jasemin hielt dem Sterbenden schluchzend den Kopf. Nabil hatte die Augen geschlossen, die Scham stand ihm selbst im Todeskampf noch ins Gesicht geschrieben. Hal blickte mich irritiert von der Seite an, und als ich mich zu ihm drehte, um die Schnittwunde an seinem linken Ohr zu versorgen, wandte er sich ruckartig ab und verschwand mit wuchtigen Schritten aus der Kammer. So blieb mir nichts anderes übrig, als die verzweifelte Jasemin in meine Arme zu nehmen und ihr tröstend über das zerzauste Haar zu streicheln, das so viel von seinem früheren Glanz eingebüßt hatte.

* * *

Shi Fu und Hassan waren in keiner Weise überrascht. Wie ich vermutet hatte, ahnten sie längst – Hassan noch eher als Shi Fu –, dass ich eine Frau war. Dennoch hatten sie sich entschlossen, mich als Assassinen aufzunehmen.

»Ich sah es in deiner Seele, Enja«, bestätigte mir der Großmeister später, als die Leiche Nabils weggetragen und die Teppiche gereinigt worden waren. »An dem Tag, an dem ich dich in unsere Gemeinschaft aufnahm, habe ich tief in deine Seele geblickt und die Wahrheit gesehen.«

Ich erschauerte in der Erinnerung an diesen seltsamen Moment der Schwäche. Hassan war damals in meinen Kopf gedrungen, in meine Gedanken.

»Du bist etwas Besonderes, eine eigenartige Kraft geht von dir aus, die ich nicht beschreiben kann. Ich wollte dich für mich haben. Ich muss mich dafür entschuldigen. Aber du musst zugeben, du hast deinen Platz hier gefunden.«

Ich lächelte ihn zustimmend an. Er drehte immer alles zu seinem Vorteil.

»In der Tat, mein Großmeister, was hätte mir Besseres widerfahren können?« Er hatte in gewisser Weise Recht, wo wäre ich heute ohne ihn? Immer noch eine Sklavin ohne Rechte und Eigentum. Von nun an nannte er mich Prinzessin Enja, entsprechend meiner Stellung am Hof.

Shi Fu hatte aufgrund meines Körpers schnell bemerkt, dass ich eine Frau war, und weil er wusste, dass Hassan ebenfalls im Bilde war, hatte er es kommentarlos akzeptiert. Er hatte stets dafür gesorgt, dass ich mich trotz meiner Weiblichkeit gegen alle Widerstände durchsetzen konnte. Und ich war ihm dafür auf alle Zeit verbunden.

Mich beschäftigte die Sorge um Jasemin. Als Sklavin und ehemalige Mätresse, die von einem Prinzen Hassans geschwängert worden war, hatte sie jegliches Recht auf ihr Leben verwirkt. Dass Nabil den Verdacht auf andere Mitglieder abzuwälzen versucht und dann noch ein Attentat unternommen hatte, wäre ihr sicheres Todesurteil gewesen. Doch auf mein Wirken hin bekam sie eine Kammer in der Festung, in der sie bis zur Geburt ihres Kindes bleiben konnte, im Wissen, dass ihr Tod damit nur um wenige Monate hinausgezögert wurde. Hassans Enttäuschung über ihr Fehlverhalten wog in seinen Augen schwerer als meine Freundschaft zu ihr. Ich musste mich beherrschen, um mein Missfallen nicht offen zu zeigen, aber hier konnte ich nicht weiter für sie sprechen. Da Jasemin ein sehr gläubiger Mensch war, schien sie sich seltsamerweise mit ihrem Tod abzufinden. Denn wenn Allah dies so für sie vorgesehen hatte, dann möge Allah es denn auch beenden.

Mit einer Geschicklichkeit, die ich ihm gar nicht zugetraut hatte, wich Hal mir in den nächsten Tagen immer wieder aus. Nicht dass ich es ihm übelgenommen hätte; immerhin hatte ich ihn seiner größten Illusion beraubt. Eran der Starke war nur eine Enja, ein Weib.

Ich musste ihn förmlich wie einen Dieb an einem der Abende stellen, die wir sonst stets gemeinsam im Stall verbrachten, um unsere Pferde zu versorgen. Er kam gerade mit dem Zaumzeug in der Hand aus der Stallgasse, als ich ihm den Weg abschnitt. Er bemerkte seine Unachtsamkeit, blieb stehen und atmete einmal tief durch.

»Ich muss mit dir reden, Hal«, bemerkte ich trocken und stellte mich leicht breitbeinig mit vor der Brust überkreuzten Armen auf.

Hal schnaubte. Dann hängte er das Zaumzeug an einen Haken und drehte sich endlich zu mir um. Es war das erste Mal, dass ich ihn seit dem verhängnisvollen Tag wiedersah, und seine Wange war bereits gut verheilt. Iljas hatte ihn an meiner Stelle gut versorgt. Das linke Ohr war etwa in der Mitte der unteren Hälfte abgetrennt und immer noch leicht geschwollen. Dicker Schorf hatte sich auf die Wunde gelegt.

Wie zwei Duellgegner standen wir uns in der Stallgasse gegenüber und starrten einander an. Grüne Augen gegen blaue. Wut gegen Frust. Ich zuckte irgendwann die Schultern.

»Wenn du mir etwas sagen möchtest, dann hast du jetzt die Gelegenheit dazu«, bot ich ihm als Eröffnung an.

Er brummte nichtssagend.

»Wie wäre es mit: Warum hast du mir nicht gesagt, dass du ein Mädchen bist?«, half ich ihm auf die Sprünge.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du ein Mädchen bist?«, kam es prompt zurück.

Erleichtert ließ ich die Luft aus meinen Lungen. »Ich hatte Angst, du würdest mir nicht trauen.« Wieder kam keine Antwort. »Meine Güte, Hal, ich war in einem fremden Land, mit einem Sklavenkreuz auf der Stirn, und mein Lehrmeister wurde vor meinen Augen erstochen. Sollte ich die einzige Chance auf Freiheit aufgeben für die Tatsache, dass ich ein Mädchen bin? Wäre ich denn für dich immer noch ein Held, hättest du gewusst, dass ich ein Mädchen bin?«

»Hätte ich es gewusst, dann hätte ich dir nie erzählt, dass ich nur ein halber Mann bin«, kam es trotzig zurück. Das schien ihn sehr beschäftigt zu haben.

»Und trotzdem warst du für mich immer ein ganzer Mann, Hal. Und meine Freundschaft zu dir war echt, ob Mann oder Frau. Ich habe dir immer geholfen, und ich werde es auch in Zukunft tun. Kannst du denn nicht einfach darüber hinwegsehen, dass ich eine Frau bin, und mich wieder als das sehen, was ich vorher auch war? Ein guter Freund?«

»Ein guter Freund …«, wiederholte er, schon etwas leiser.

»Mein Angebot steht weiterhin«, setzte ich noch einmal an, und er blickte mich wieder mit diesen intensiven Augen an. Ich sah die Enttäuschung darin. Verzweifelt zog ich meinen letzten Trumpf: »Ich werde dich auf deinem Weg in die Heimat begleiten, wenn du mich noch immer mitnehmen magst.«

Zufrieden sah ich seinen Adamsapfel verräterisch hüpfen. Die Schale war bereits aufgebrochen, der Samen konnte sprießen. Langsam wandte ich mich in Richtung Ausgang und warf ihm beiläufig über die Schulter zu: »Wenn dir unsere Freundschaft etwas wert war, dann warte ich gerne auf dich. Du weißt ja, wo du mich finden kannst.«

Selbstzufrieden lächelte ich in mich hinein. Ich hatte sein Herz erreicht, das war alles, was ich wissen musste.

Am nächsten Tag setzten wir unsere gemeinsamen Kampfübungen fort. Freundschaft war ein kostbares Gut, sie würde für immer bestehen bleiben, egal ob Mann oder Frau.

* * *

Hals Unterricht gestaltete sich ab einem bestimmten Moment als extrem einseitig. Mit seiner Körpermasse konnte er weder die Schnelligkeit noch die Beweglichkeit eines schlanken Assassinen erreichen, was Shi Fu und mich vor eine neue Aufgabe stellte. Hal war zufrieden, seine schiere Kraft richtete mehr Schaden an, als meine noch so gut platzierten Fußtritte jemals ausrichten konnten. Trotzdem musste er eine Waffe finden, die nicht unter seiner Wucht zerbarst. In meiner Vorstellung war der große Hammer, mit dem er die Hufe der Pferde beschlug, das richtige Instrument. Aber Shi Fu schüttelte den Kopf.

»Hal muss eine Waffe haben mit Wumm, aber sie muss scharf sein wie ein Messer.« Dabei verschränkte er seine Arme vor der Brust, wie immer, wenn er keine Widerrede wünschte.

»Denkt Ihr an ein Breitschwert?«, fragte ich ihn neugierig. Als Hal es bei seinen Übungen zum ersten Mal geschwungen hatte, sah das riesige Schwert in seinen Händen aus wie eine von Isaaks kleinen Pfeifen. Er hatte sich später eines geschmiedet, das einen anderen Schwerpunkt hatte und eine breitere Klinge. Damit sahen seine Bewegungen wenigstens etwas ausgewogener aus. Das Problem war nur, dass er kaum einen adäquaten Gegner fand, um seine Übungen durchzuführen. Nur wenige hatten seinen Hieben mit diesem Schwert überhaupt etwas entgegenzusetzen. Selbst die Übungen mit dem Bambusstock fielen mit Hal immer garantiert schmerzhaft aus.

Es war eine kleine Beobachtung, die uns zu der Idee von Hals persönlicher Waffe inspirierte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sich ein Koch aus dem fernen Nepal aus der von einem Erdbeben verschütteten Stadt Pokhara aufgemacht, eine neue Bleibe zu finden. Über die Seidenstraße machten er und seine kleine Tochter sich auf in eine neue Zukunft und gelangten in den Orient. Was ihm geblieben war, waren das Mädchen, seine Töpfe und seine kleinen Metallspitzen, mit denen er Tinte unter die Haut stechen konnte. Sarvesh war nicht nur ein guter Koch, er war auch ein versierter Tätowierer, der seine Tochter Indra in die Kunst der Körperbemalung einwies.

Eines Abends sorgte Hal zu unser aller Entsetzen für einen geradezu atemraubenden Moment: Er tauchte während des Abendessens mit einem schwarzen Balken auf seiner Stirn im großen Saal auf, der sich von der linken Stirnhälfte zur rechten zog. Es war nicht schön, aber es passte zu Hal und es erfüllte den Zweck, sein Sklavenzeichen zu verbergen. Er schien sich an dem Gelächter, das sich den ganzen Abend über ihn ergoss, nicht im Geringsten zu stören. Im Gegenteil, am nächsten Abend kam er mit einem kahlrasierten Schädel in die große Halle. Nun reichte der schwarze Streifen komplett vom Hinterkopf bis zur Stirn. Wie eine schwarze Krone thronte der Farbstreifen auf seinem Oberkopf und gab ihm ein wirklich martialisches Aussehen. In einem Land, in dem Haare eine Zierde waren, entschied sich Hal dazu, auf alle männlichen Attribute zu verzichten. Er brauchte schlicht keine.

Aus der Liebe zu Indra war die Liebe zu seinen Tattoos gewachsen. Eines Tages sah ich ihn, wie er anstelle von Indras Vater ein Huhn für die Suppe tötete. Hal drückte das nervös flatternde Tier auf den Holzpflock, und mit einer Präzision, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte, sauste die Axt auf den dünnen Hals hinab. Mit einem Schlag trennte er den Kopf ab.

Ich hatte eine Idee, die ich mit Shi Fu besprechen wollte – eine Idee, welche Waffe für Hal wie gemacht schien: mächtig, zerstörerisch und präzise wie die Axt, die eben den Hühnerhals durchtrennt hatte.

Shi Fus Ziegenbärtchen zitterte ein wenig, dann nickte er. Hal an der Axt auszubilden, darauf wäre er selbst nie gekommen. Er würde ihm zudem beibringen, diese Axt zu werfen. Bei den Nordmännern sei es im Kampf üblich, die schwere Axt auf ein Ziel zu werfen. Richtig gesetzt war ein solcher Wurf tödlich.

Hal konnte innerhalb kürzester Zeit mit der Axt gegen Schwerter, Stöcke und sogar gegen den berüchtigten Morgenstern kämpfen, gegen den kaum ein Kraut gewachsen war.

Stolz steckte er sich zwei Äxte über Kreuz in seinen Gürtel. Neben den immer zahlreicher werdenden keltischen Zeichen, die sich von seinem Kopf über die Schultern bis hinab zum Rücken zogen, waren es diese beiden Äxte, die sein Erscheinungsbild ausmachten. Von dem Hal, den ich zum ersten Mal vor seiner ersten Weihe gesehen hatte, war nichts mehr übriggeblieben. Nur noch seine intensiven grünen Augen, die mich manchmal so verletzlich ansahen, ließen noch den alten Hal durchschimmern wie das Pergament die Sonnenstrahlen.

Er war seit unserer Aussprache ein Freund geblieben, hatte sich aber von mir distanziert. Die Lockerheit, mit der wir vorher miteinander umgegangen waren, war einer nervösen Befangenheit gewichen. Es tat mir im Herzen weh, dass uns unser unterschiedliches Geschlecht zu einem Abstand zwang, der mich manchmal die früheren Zeiten vermissen ließ.

Eines Tages wollte auch ich mir von Indras Vater eine Bemalung auf meine Haut stechen lassen. Daher sprach ich entschlossen bei Sarvesh vor, der mich erschrocken anblickte. Er nickte nur und bat mich in sein Zelt, das ihm als Wohnraum und Arbeitsstätte diente. Wir einigten uns auf ein Drachenmotiv, das er bereits für die berühmtesten Krieger seines Landes zu Hunderten gemalt hatte und auch immer noch trotz seines schwindenden Augenlichts beherrschte.

Ich lag auf einem Tisch, und Indra saß daneben auf einem Stuhl und zog mit ihren Fingern die Haut glatt, während ihr Vater die ersten Striche in meine weiße Haut klopfte. Zwischendurch mischte sie unablässig neue Farben an, Kupferoxid für die grünen Farben, Lapislazuli für ein kräftiges Blau und für die rote Farbe zermalmte sie Purpurläuse in kleinen Porzellanschälchen. Immer wieder wischte sie das Blut und die überschüssige Farbe ab, die von der Nadel Sarveshs abperlten, und kühlte meine Haut mit einem nassen Lappen.

Im nächsten Moment betrat Hal das Zelt und starrte mich ungläubig an. Dann stapfte er wieder nach draußen, um seinem Ärger Luft zu machen – so wie er es immer tat, wenn ihm etwas gründlich gegen den Strich ging, mit einer Reihe satter irischer Flüche. Indra stand auf einmal mit einem Schluchzer auf, entschuldigte sich und lief Hal verstört hinterher. Mir wurde in diesem Moment klar, dass ich mich auf ein Territorium begeben hatte, von dem ich keine Ahnung hatte. Hal und Indra waren ein Paar. Jetzt hatte auch ich es begriffen …

Für einen kurzen Augenblick erhaschte ich den Ausdruck in Sarveshs Augen. Sie waren von einer unbestimmten Furcht ergriffen, aber nur für eine kurze Sekunde, bis er sich stumm wieder seiner Arbeit zuwandte und die Farbe für die Augen meines Drachens nun selbst anmischte.

Es dauerte noch zwei Wochen, bis Sarvesh mit Indra meinen Drachen fertiggestellt hatte. Mehr als zwei Stunden an einem Stück konnte er nicht arbeiten, und so war ich gezwungen, jeden Tag in seinem Zelt zu sitzen und die beiden Liebenden zu vertreiben. Wie war ich froh, als der fertige Drachen endlich meinen Rücken zierte. Sein Kopf mit dem aufgerissenen Maul befand sich auf meinem Schulterblatt, eine seiner Klauen reichte bis zu meinem Hals, und der lange Schwanz kringelte sich über meinen Po bis zum hinteren Oberschenkel des rechten Beins. Es war ein wahres Meisterwerk in so einzigartigen Farben, wie es nur ein Künstler wie Sarvesh auf die Haut bringen konnte.

Im Gegensatz zu Hal habe ich mir nie wieder ein weiteres Hautbild stechen lassen – weder von Sarvesh noch von seiner Tochter.

* * *

Alamut im Jahre 1300

Hülegü Chan war ein Enkel des mächtigen Dschingis Khan und mit einer riesigen Streitmacht ausgestattet, die den Orient mit einer Welle der Gewalt und Unterdrückung überflutete. Was der persische und der türkische Sultan allein nicht schafften, sollte bald dem mongolischen Heerführer gelingen. Seit 750 nach Christus hatten die sunnitischen Abbasiden Bagdad beherrscht, aber gegen die Übermacht von Hülegü Chan hatten die Herrscher des Orients keine Chance. Der Mongolenführer Chan eroberte jetzt die Stadt mit einer Härte, die in der wechselhaften Geschichte Bagdads einmalig war. Er erschlug über die Hälfte der damaligen Einwohner und setzte die größten Teile der Stadt in Brand. Was nicht Opfer der Flammen wurde, endete im Wasser des Tigris, der sich in diesen Tagen schwarz und blutig färbte.

Der mächtige Großmeister Hassan I‑Shabbah, Führer der allseits gefürchteten Assassinen, stand mit seiner ersten Kommandantin Enja und ihrem ständigen Begleiter Hal am Fenster seiner Kammer. Der Himmel über dem fernen Bagdad färbte sich glutrot. Die Flammen der verheerenden Brände brachten Tod und Verderben in die einst so pulsierende Stadt. Betreten lauschten sie zusammen dem Bericht des Boten, der soeben aus der überrannten Stadt eintraf. Hassans Gesicht war einer steinernen Maske gewichen. Ihm wurde klar, dass er sich mit Hülegü einer ganz neuen, viel brutaleren Macht stellen musste, die politisch kaum beeinflussbar war.

Die wertvolle Bibliothek Bagdads, jahrhundertealte wissenschaftliche Werke und akademische Aufzeichnungen auf endlosen Papyrusrollen, wurde Opfer der zerstörerischen Flammen oder verschwand im schwarzen Wasser des Tigris. Es drehte Hassan fast den Magen um, als er daran dachte, welche Schätze sich allein in seiner Bibliothek in Alamut befanden. Wenn diese verloren ginge … Vielleicht sollte er einen Plan entwerfen, wenigstens Teile dieser Sammlung zu retten, sollte es doch zu einer Übernahme kommen.

Er schüttelte den Kopf. Nein, so weit durfte es einfach nicht kommen. Mit seiner kompletten Armee würde er sich diesen verfluchten Mongolen entgegenstellen. Sie würden kämpfen bis zum letzten Atemzug. Chans Frau, Prinzessin Doquez-Chatun, war eine Christin, und es hieß, er verbünde sich ihretwegen mit Byzanz. Verfluchter Mongole! Er musste diese Festung um jeden Preis halten, sonst würde das Abendland endgültig vom Christentum überrollt werden.

»Sind die Außenposten verstärkt, die den Zufahrtsweg hierher versperrt haben?«, fragte er nun schon zum wiederholten Mal.

»Ja, mein Großmeister«, antwortete Enja geduldig. Sie war nach dem Tode Nabils als Erbprinzessin zur ranghöchsten Kommandantin aufgestiegen. So schrieb es Hassans Gesetz vor, und ihre Autorität wurde trotz ihrer bald achtzehn Jahre nicht von einem einzigen der anderen Prinzen angezweifelt. »Der äußere Ring wurde geschlossen, die Reihen der Soldaten verdoppelt und die Tiere aus dem Tal in die Nebentäler gebracht.«

Der wortkarge Mann neben Enja nickte zustimmend. Die beiden verband eine Freundschaft, die Hassan recht merkwürdig fand, denn unter Assassinen gab es normalerweise keine Freunde. Vielleicht lag es daran, dass sie ein ähnliches Schicksal teilten. Beide waren in die Sklaverei verkauft worden, und beide endeten als Krieger in Alamut.

»Und Hal«, ergänzte Enja ihren Bericht und nickte dabei in dessen Richtung, »hat die Waffen noch einmal alle geprüft und die Pulverlager aufgefüllt.«

So still der mächtige Krieger auch war, aber von Waffen hatte er wirklich Ahnung. Dank ihm wurden die Schleudern in ihrer Wurfgenauigkeit wesentlich effektiver und die Wurfbomben in ihrer Explosionswirkung noch durchschlagender. Wenn er sich mit Shi Fu in die Katakomben zurückzog, kam meist eine neue Waffe oder eine verbesserte Wirkung der vorhandenen hervor. Ein sehr nützlicher Krieger, der nicht nur Befehle ausführte, sondern auch seinen Verstand einsetzte, solange er dabei bloß nicht reden musste.

Nachdenklich drehte sich der Großmeister wieder zum Fenster hin und betrachtete das Chaos in weiter Ferne. Seine dunklen Augen waren verklärt, als würden sie etwas ganz anderes dort sehen als das zerstörerische Werk der Flammen über der untergehenden Großstadt. Inzwischen hatte er sich einen Bart wachsen lassen. Dieser war wesentlich weißer als sein Haupthaar, das noch immer zum Großteil von seinen dunklen Strähnen durchzogen war. Er ließ ihn weit älter erscheinen als seine dreiundvierzig Jahre. An diesem Tag fühlte er sich, als wäre er noch einmal um weitere zehn Jahre gealtert.

»Wie können wir die wertvollen Papyrusrollen – oder wenigstens Teile davon – in Sicherheit bringen?«, fragte Hassan nun mit gerunzelter Stirn.

»Papyrus?«, entfuhr es Hal ungläubig, der sich sonst gerne zurückhielt.

Enja ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken, als sie fragte: »Wieso glaubt Ihr, dass die Papyrusrollen hier nicht sicher sind?«

Der Großmeister blickte in ihr blasses Gesicht, ihre kristallblauen Augen sahen ihn ernst an. »Wenn wir hier untergehen, werden die Mongolen alles vernichten, was ich gesammelt habe, auch die Bibliothek. In Bagdad haben die Barbaren bereits zu viele der wertvollen Aufzeichnungen vernichtet. Daten, Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse, die nicht mehr zu beschaffen sind.« Seine Stimme wurde am Ende des Satzes lauter, als die Emotionen in ihm aufwallten. Er sah, wie die beiden sich unsicher anblickten.

»Wir werden nicht aufgeben, verehrter Scheich, wir werden kämpfen bis zum Schluss!«, hörte er Enjas Stimme voller Entschlossenheit.

Er war berührt vom Kampfesmut seiner Anführerin, dennoch blieb er hartnäckig. »Ich möchte einen Teil meiner Schriften in Sicherheit bringen. Auch einige Artefakte, kostbare Teppiche und einen Teil meiner Goldreserven.« Damit erntete er schweigsames Staunen. Noch nie hatte er etwas außerhalb von Alamut deponiert, außer seinen Pferden und Nutztieren.

»Enja, ich möchte, dass du fünfzig der besten Leute aussuchst und den wertvollsten Teil meiner Sammlung zu meiner Festung ins entfernte Masyaf nach Syrien bringst. Dort ist die Bibliothek sicher unter dem Befehl meines Kommandanten Raschid ad‑din Sinan aufgehoben. Wenn hier etwas passiert, dann ist wenigstens die andere Hälfte meines Schatzes in Sicherheit. Nichts ist so wertvoll wie das geschriebene Wort.«

Die junge Frau mit den seidig-weißen Haaren bedachte ihn mit einem seltsamen Blick. Ihre Augen suchten in seinem Gesicht eine Antwort auf eine Frage, die sie noch gar nicht gestellt hatte.

»Nein, wir werden uns nicht mehr wiedersehen«, erklärte Hassan sanft. »Gehe fort von hier mit allem, was dir ans Herz gewachsen ist, und bilde eine neue Einheit meines Einflusses. Wenn du die Aufzeichnungen und das Gold übergeben hast, dann gehe Richtung Norden und sichere eine neue Festung, eine Burg oder eine Insel, um meine Macht auszubauen. Komme nicht mehr hierher zurück.«

Hassan sah, wie überrascht sie von seinem Befehl war, sie musste schlucken. Anscheinend traf sie sein Entschluss unerwartet. »Natürlich, verehrter Scheich.« Mit einer Verbeugung wandte sie sich um und wollte schon durch die Tür hinaus, als Hassan sie noch einmal zurückrief.

»Wenn unterwegs irgendetwas passiert«, und er machte eine eindeutige Geste in Richtung Fenster und dem dahinter brennenden Bagdad, »oder die Festung Masyaf nicht mehr existiert, dann bringt alles und dich in Sicherheit. Egal wo, trage meine Botschaft und meinen Namen in die Welt hinaus, Enja. Schicke einen Boten, sobald du in Sicherheit bist.«

Enja schien diesmal noch zu zögern, bevor sie sich wieder abwenden wollte. Etwas lag ihr noch am Herzen. »Ich werde tun, was Ihr wünscht, mein weiser Scheich. Nur eine Bitte habe ich noch …« Sie stand an der Stufe, die von seinem Arbeitsbereich zum restlichen Wohnbereich mit dem Scharantsch-Tisch führte. Einen Fuß hatte sie auf die Stufe gestellt, ein Arm ruhte auf dem Oberschenkel.

Hassan gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie ihre Bitte vortragen sollte. Sie blickte erst zu Hal, der schon in der Tür stand und auf sie wartete, dann zurück zum Großmeister. »Es geht um Jasemin, Hoheit. Sie wird in den nächsten Tagen ihr Kind gebären. Ich habe ihr versprochen, es auf die Welt zu bringen. Können wir noch so lange mit unserer Reise warten?«

Hassan legte seinen Kopf schief, als würde er noch überlegen. Eine unangenehme Geschichte einer seiner zahlreichen Mätressen. Jasemin hatte ihn mit einem seiner Prinzen betrogen und sollte nach der Geburt ihres Kindes durch seine Hand sterben. War es denn schon so lange her …? Zeit, diese Sache endgültig zu beenden. Als Antwort auf Enjas Frage nickte er daher nur und fragte sie beiläufig, was denn mit dem Kind geschehen solle.

Überrascht zuckte sie mit den Schultern, als wäre ihr der Gedanke noch gar nicht gekommen. »Wollt Ihr es denn nicht adoptieren?«, fragte Enja unsicher.

Hassan zog seine Brauen nach oben und legte die Hände auf seinen Rücken. »Nein«, sagte er entschieden, »seine Mutter wird ihre gerechte Strafe erhalten, aber das Kind eines Verräters und einer Hure hat in meinem Hause nichts verloren. Ich werde sie nach der Geburt persönlich für ihren schändlichen Betrug bestrafen. Wie sollte ich dieses Kind einer verderbten Liebe empfangen, wenn das Blut der Mutter an meinen Händen klebt?«

Enja zuckte über seine harschen Worte zusammen. Mit Rücksicht auf ihre Gefühle wurde sein Ton dann doch etwas sanfter. »Nimm das Kind mit auf deine Reise, vielleicht bleibt dir damit die Erinnerung an deine Freundin.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Alahu Akbar – Gott ist groß!«

Enjas Mund blieb kurz offen stehen. An diese Möglichkeit hatte sie wohl nicht gedacht. Aber sie hatte sich gleich wieder im Griff, verbeugte sich und rauschte mit wehendem Umhang aus dem Raum. Ein ebenso verwirrter Hal duckte sich unter dem Türbogen hindurch und folgte seiner Anführerin.

* * *

»Wie konnte er mir das antun, Hal?«, zischte ich wütend durch die Zähne. »Was soll ich mit einem Kind auf einer so gefährlichen Reise?«

Hals Gesicht war wie immer eine reglose Maske unter den schwarzen Bemalungen, die Indra ständig neu gestaltete. Ich bemerkte befremdet, dass nun selbst sein halbes Ohr mit kleinen Streifen versehen war, die sich wie ein Spinnennetz über seine Ohrmuschel zogen. Indra hatte wirklich eine erstaunlich gute Hand für Details, musste ich selbst zugeben.

Hal erwiderte mit seiner heiseren Stimme: »Wir werden genügend Diener, Mägde und Tiere dabeihaben. Eine Ziege für die Milch und eine Amme für das Baby mehr oder weniger …« Dabei zuckte er mit den breiten Schultern. Tatsächlich würden wir einiges an Kamelen, Pferden und Nutztieren mit uns führen, um die gewaltige Menge an Schriften und Artefakten abtransportieren zu können.

Ich ließ bereits eine Transportliste aller Gegenstände anfertigen und die Tiere sammeln, die wir für diesen gefährlichen Ritt durch das Elbursgebirge brauchten. Kein Wagen war in der Lage, die teilweise nur als Trampelpfade ausgelegten Wege zu passieren. Alles, was wir mit uns führen wollten, musste auf Kamele und Pferde gehievt werden. Das Adlernest vibrierte förmlich unter der Anspannung seiner Bewohner, während wir die Reise planten.

Mitten hinein in das geschäftige Treiben ereilte mich die Botschaft, dass bei Jasemin die Wehen einsetzten. Iljas hatte mir bereits vor Tagen meine Sachen zusammengestellt, die ich benötigte, um Jasemin ärztlich beizustehen. Er brachte nur noch heißes Wasser und saubere Tücher, die er sorgfältig neben dem Bett der werdenden Mutter stapelte.

Ich setzte mich neben Jasemin auf das bescheidene Bett und hielt ihre Hand fest in der meinen, so, wie wir es früher als Kinder immer getan hatten, als wir uns noch ein Bett teilten. Ihre Kammer war in den letzten Monaten ihr Gefängnis gewesen, auch wenn sie nie verschlossen war. Gleichmütig wartete sie auf den Tag der Entbindung und damit auch auf ihren Tod durch die Hand Hassans, den sie so schmählich mit Nabil betrogen hatte. Für Jasemin war es nichts weiter als ein Zwischenschritt auf dem Weg ins Paradies. Wenn der Glaube so stark war, dass der Tod erhobenen Hauptes empfangen wurde, wieso zweifelte ich dann so sehr daran? Könnte ich mich jemals in die Hände Allahs geben und aufhören, jeden Tag um mein Leben zu kämpfen? Mein Schicksal einfach annehmen?

Jasemins dunkle Locken waren nassgeschwitzt, die Anstrengung, im gleichmäßigen Rhythmus wiederkehrender Schmerzen zu atmen, waren ihrem geröteten Gesicht anzusehen. Immer wieder wischte ich ihr mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab, um es abzukühlen. Die Wehen, die sie seit Stunden plagten, kamen jetzt in dichteren Abständen, ein sicheres Zeichen der baldigen Geburt. Immer wieder prüfte ich die Weite des Muttermunds und konnte damit einschätzen, wie lange die letzte Phase noch entfernt war.

In diesen wenigen geschenkten Stunden verbrachten wir die intime Zeit damit, uns gegenseitig zum ersten Mal unsere Geschichten zu erzählen. Immerhin wollte ich dem Kind etwas von seiner Mutter erzählen, die es so früh verlieren würde. Und in den wenigen Atempausen zwischen den Wehen erfuhr ich, was passiert war, nachdem ich die Sänfte an jenem Tag in Bagdad heimlich verlassen hatte.

Jasemin war mit der Karawane tatsächlich am Hofe des Prinzen Chalil eingetroffen, der sich bei Fahrudin so großzügig mit neuen Damen eingedeckt hatte. Mein Verschwinden wurde zwar bemerkt, aber lediglich mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Vermutlich wurde es Fahrudin von seinem Entgelt abgezogen, was uns beiden, Jasemin und mir, einen herzhaften Lacher entlockte, als wir uns gemeinsam sein Gesicht vorstellten, während er mit der Tatsache konfrontiert wurde.

Prinz Chalil aber entpuppte sich als Großmaul, dem es weniger um die Befriedigung seiner Gelüste ging als vielmehr um die Größe seines Harems als Zeichen seines Standes und seines Reichtums und der so mit seinem Vater konkurrierte. Jasemin beteuerte, ihn seit ihrer Entjungferung kaum zu Gesicht bekommen zu haben. Andererseits bestätigte sie mir die langjährige Tradition der grausamen Verstümmelung zahlreicher Jungen, damit sie im Harem ihren Dienst verrichten konnten. Die Schilderung ließ mir die Haare zu Berge stehen und Hal wieder ein Stück weiter an mein Herz heranrücken.

Der Prinz verstarb eines Tages ganz plötzlich an einer unerklärlichen Krankheit, und der Harem wurde aufgelöst. Die arabischen Hauptfrauen wurden dem Harem seines Vaters einverleibt, während die anderen Mädchen vom Großwesir an Männer verkauft wurden, denen es nichts ausmachte, dass sie keine Jungfrau mehr waren. Die Demütigung eines solchen Besitzübergangs musste mir Jasemin nicht im Detail schildern. Es war Hassans Haremsvorsteher, der sie damals in Bagdad gekauft und nach Alamut gebracht hatte. Hassan verließ in all den Jahren nicht ein einziges Mal die Festung, sondern schickte seinen Vertrauten, der sich um die Belange seines Herrn kümmerte. So erreichte Jasemin Alamut, das für sie ihre letzte Ruhestätte werden würde. Die Affäre mit Nabil war die erste und einzige Liebe, die sie in ihrem Leben erfahren hatte. Sie gestand mir, dass sie es nicht bereute, auch wenn es nur eine sehr einseitige Liebe war.

Nabil gab ihr etwas, das sie nie gekannt hatte: einen Sinn zu existieren. Und wenn es nur für dieses Kind war, dem sie das Leben schenken würde. Allah hatte es so gewollt.

Am Abend des 3. Juli 1300, gerechnet nach dem christlichen Kalender, konnte ich mit Iljas Hilfe einem gesunden Kind auf die Welt helfen. Es war nicht unbedingt eine leichte Geburt, denn der Kopf des Mädchens wollte so gar nicht durch den schmalen Geburtskanal, und ich musste ein wenig nachhelfen. Als ich das kleine Geschöpf in meinen Armen hielt und seine Augen noch unsicher in die unbekannte Welt blickten, ließ ich meinen Freudentränen freien Lauf.

Bei jeder Geburt dankte ich dem Schöpfer dieser Welt für ein neues Leben und freute mich über die Liebe zum Detail, die in jeder Kreatur dieser Welt steckte. Eigenhändig zählte ich die Finger und Zehen der winzigen Gliedmaßen und wunderte mich über die Vollkommenheit dieser Schöpfung. »Gott ist groß – Alahu Akbar«, wie Hassan immer zu sagen pflegte. Wo fand sich seine Größe eher als in einem solchen Moment?

Jasemin lag erschöpft in ihrem Bett, ein müdes Lächeln huschte ihr über die Lippen, als ich ihr das Neugeborene an die Brust legte. »Wie möchtest du es nennen, Enja?«, fragte sie mich mit leiser Stimme, die großen Augen glänzten im Schein der Öllampen tiefschwarz.

»Solltest du ihr nicht einen Namen geben, etwas, das mit uns als Erinnerung weiterlebt?«, brachte ich heiser hervor, meine Stimme noch aufgewühlt von meinen Gedanken.

Jasemin schloss kurz die Augen, vielleicht aus Müdigkeit oder weil sie nachdenken wollte. Die eintretende Stille war nur unterbrochen von dem zufriedenen Schmatzen des kleinen Babymundes an ihrer Brust. Irgendwann öffnete sie die schweren Lider wieder und platzte, ohne zu zögern, mit einem Namen heraus: »Rachel. Ich möchte, dass sie Rachel heißt.«

Darüber war ich sehr erstaunt. »Ist Rachel nicht ein hebräischer Name?«

Jasemin nickte. »Rachel nahm laut der Bibel die Götzenbilder ihres Mannes Jakob heimlich auf die Reise nach Beersheba mit. Wie treffend, nimmst du doch jetzt die kleine Rachel auf deine Reise mit. Du bist so wenig Muslima wie ich Christin bin, Enja. Aber wenn sie deine Tochter wird, wenn sie nun frei ist und keine Sklavin, dann hoffe ich, dass sie so wird wie du: ein kleiner Rebell, der seine Götter heimlich mitnimmt.«

Ich war gerührt. Woher kannte sich Jasemin so gut mit der Bibel aus? Hatte sie nicht nur den Koran gelesen? Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie die Papyrusrollen in Hassans Bibliothek gelesen hätte, die auch eine teilweise Abschrift der Bibel enthielten. Von Hassan wusste ich, dass er sie studiert hatte. Sie war schon immer belesen und neugierig gewesen.

In diesem Moment meldete sich die Wache, die immer noch vor Jasemins Tür stand. Wenige Sekunden später füllte Hals große Statur den winzigen Raum. Ehrfurchtsvoll kniete er neben dem Bettchen nieder und nahm Jasemin das Bündel Mensch aus der Hand. In seinen Armen wirkte der Neuankömmling so zerbrechlich wie eine Seifenblase auf meiner Hand. Zärtlich blickte Hal in das blass schimmernde Gesicht. Kleine schwarze Locken klebten noch am Kopf, und die dunklen Augen, die wohl kaum mehr als Umrisse wahrnehmen konnten, blickten in das Gesicht Hals, dessen grüne Augen einen feuchten Schimmer bekamen.

Hal küsste das Mädchen zärtlich auf die Stirn und gab Jasemin vorsichtig das Bündel Mensch zurück an ihre Brust. »Wenn sie so schön wird wie ihre Mutter, wird sie das bezauberndste Geschöpf, das ich je gesehen habe«, sprach er voller Bewunderung und gab ihr so seinen Segen. Ich musste mich abwenden, um nicht schon wieder von meinen Gefühlen übermannt zu werden.

* * *

Als hätte Allah die Gebete seiner Tochter Jasemin erhört, ersparte er ihr einen gewaltsamen Tod und ließ sie am nächsten Tag im Kindsbett friedlich entschlafen. Der große Kopf des Kindes hatte wohl beim Durchtritt eine der großen Venen in ihrer Gebärmutter verletzt. So konnte ich mich an ihrem kleinen Bett in aller Ruhe von ihr verabschieden.

Einen Menschen zu verlieren tat mir stets im Herzen furchtbar weh. Aber zu sehen, wie Jasemin zufrieden mit der kleinen Rachel an der Brust einschlief und eingebettet in unsere Gebete mit einem Lächeln auf ihren Lippen ihren letzten Atemzug nahm, erfüllte mich dann doch mit einer tiefen Ruhe.

* * *

Nach arbeitsreichen drei Wochen waren die letzten Vorbereitungen getroffen. Fast einhundert Kamele, Pferde, Ziegen und Schafe standen bereit für unseren Treck über die Berge. Es war unsere einzige Chance, über die Gebirgszüge zu entkommen. Die Möglichkeit, den Weg direkt ins Tal zu nehmen, bestand nicht: Wir wären dort womöglich den Mongolen in die Hände gelaufen. Späher hatten in den Wochen vorher den besten Weg erkundet, und der führte uns tief in Berge, spuckte uns in einem ausgetrockneten Flussbett wieder aus, und von dort sollte es dann zügig in Richtung Masyaf gehen.

Großmeister Hassan I‑Shabbah zeigte sich kurz von seiner menschlichen Seite, als er Jasemin ein Begräbnis im Garten seines Privatgemachs gestattete. Es war ein feiner Akt seiner unendlichen Güte.

Als der Tross sich mit gut der Hälfte seiner wertvollen Schriften, Teppichen, Gold- und Silbermünzen in Bewegung setzte, war der bewegende Moment des Abschieds gekommen. Ich hatte die fünfzig besten Krieger Hassans persönlich ausgewählt, unseren Koch Sarvesh und auf Bestreben Hals natürlich seine Tochter Indra. Iljas musste wie auch mindestens zweihundert weitere Krieger bei Hassan bleiben, um die medizinische Versorgung sicherzustellen. Er half mir aber, meine Vorräte an Heilmitteln aufzuteilen sowie einige meiner Giftschlangen und ‑spinnen reisefertig zu machen. Auch die von mir gezüchteten seltenen Heilpflanzen kamen eingetopft ins Reisegepäck. Für die Versorgung hatte Hal eine kleine Herde Schafe und Ziegen zusammengestellt, die von zwei Hirten bewacht wurden.

Um Hassans Zucht fortzuführen, gab er uns auch kostbare Raritäten aus seinem Stall: zwei weitere Hengste neben meinem Taycan, acht seiner besten Zuchtstuten, ein Rennkamel für Hal, der mit den zierlich gebauten Rassepferden einfach nicht zurechtkam. Die kleine Rachel fand mit ihrer persönlichen Amme auf einem der Tragetiere Platz.

Was für eine Verantwortung! Mit gerade mal knapp achtzehn Jahren befehligte ich eine der wertvollsten Karawanen, die in dieser Zeit unterwegs waren. Stolz stand ich in meiner Reitkluft mit Turban neben Hassan, der in den letzten Wochen rasant ergraut war, und blickte dem Aufbruch der riesigen Karawane entgegen. Tier für Tier reihte sich in die langgezogene Reihe ein, die ins Ungewisse aufbrach. Wir wollten schon früh am Morgen losreiten, um rechtzeitig den ersten Rastplatz – ein Hochtal – in den Abendstunden zu erreichen.

Sowohl Shi Fu als auch Hassan gaben mir in einer feierlichen Geste die Hand, wohlwissend, dass es das letzte Mal war, dass wir uns gegenüberstanden.

»Möge Allah dich auf deiner Reise beschützen, Enja. Wer weiß, raunte Hassan auf einmal geheimnisvoll und zwinkerte mir mit seinen dunklen Augen zu, »ob du nicht sogar eine göttliche Bestimmung hast.«

Mir fehlten die Worte über so viel Anmaßung, aber Hassan war niemand, der Gottes Zorn fürchtete. Höflich verbeugte ich mich über Shi Fus dargebotene Hand, ergriff sie mit beiden Händen und bedankte mich für so viel Vertrauen. Dasselbe machte ich bei Hassan, dem ich die Hände noch einmal küsste, um meine Verbundenheit auszudrücken.

Als ich mich tief bewegt wiederaufrichtete und in Hassans Gesicht blickte, das von dem frühen Sonnenlicht leicht orange erhellt war, strahlten seine Augen auf einmal ungewöhnlich hell. In den sonst so schwarzen Pupillen war deutlich ein blauer Schimmer zu sehen, so blau wie der Saphir in seiner Krone, die er bei den Weiheritualen trug. Instinktiv entzog ich ihm meine Hand. Dieser Schimmer hatte etwas Gefährliches, etwas Todbringendes. Was hatte das nur zu bedeuten? Konnten es andere auch sehen oder nur ich?

Irritiert wandte ich mich von ihm ab, das verräterische Funkeln war so schnell erloschen, wie es gekommen war. Schickte er mich bewusst in den Tod? War es eine Reise ohne Wiederkehr? Unausgegorene Gedanken wühlten sich durch meine Gehirnwindungen. Ich wäre bei Weitem nicht der erste seiner Assassinen, den er mit einer Selbstmordaktion auf die Reise schickte. Aber warum sollte er mich dann mit seinen Schätzen fortschicken? Ein ungutes Gefühl beschlich mich, das mich im Laufe der Reise nicht verlassen sollte.

Jetzt standen wir beide nebeneinander, und mein Blick wanderte zu Hal. Er saß auf seinem neuen Rennkamel, dem er den passenden Namen ifreann gegeben hatte, was in seiner irischen Sprache wohl »Hölle« hieß. Zumindest schrie er dieses Wort aus Leibeskräften, wenn er sich mit dem Vieh abmühte. Der stoische Blick, mit dem Hal das Treiben vom Rücken des Wüstenschiffs verfolgte, war jedenfalls der Gleiche, den sein Tier dem Ganzen zollte. Ich fand noch mehr Gemeinsamkeiten zwischen dem Kamel und Hal, aber ich zog es vor, meinen Mund zu halten, um den Tag nicht schon am Morgen zu beenden.

Wortlos bestieg ich meinen Taycan, der schon unruhig auf der Stelle tänzelte, und wandte mich zum wartenden Hal auf seinem Kamel. Erst als das letzte Tier den Weg in die Berge antrat, blickte ich noch einmal zurück und hob die Hand zum Gruß an die Zurückgebliebenen. Es würde ein großartiges Abenteuer werden, das mich näher an meine Bestimmung brachte, da war ich mir sicher. Und solange das Paradies vor mir und die Hölle unter Hals Hintern war, sollte es mir gerade recht sein.