Kapitel 19

Caerlaverock im Herbst 1306

Der tollpatschige Hugh hatte den schwer erkrankten König in der Krankenkammer natürlich sofort erkannt. Robert de Bruce war schon zu Gast in der Burg seiner Familie gewesen, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Sein Vater William Douglas war ein großer Bewunderer und Unterstützer von de Bruce gewesen, ein Umstand, der ihm letztendlich auch das Leben gekostet hatte. Das markante Gesicht mit der breiten Nase und der wuchtigen Stirn hatte er sofort als das seines Königs entlarvt, auch wenn es im Schlaf geglättet und von Hunger und Entbehrung gezeichnet war.

Dass er eine solche Woge der Entrüstung auslösen würde, damit hatte er allerdings nicht im Traum gerechnet. Sein Bruder James schäumte vor Wut, dabei hatte er den König doch selbst hierhergebracht. McKay fluchte nur unflätig vor sich hin und kramte dabei in seinem tiefsten gälischen Wortschatz. Hal versuchte sogar, eine seiner Äxte aus dem Gürtel zu ziehen, ehe Enja ihn von hinten umklammerte und davon abhielt.

Über die restliche Halle hatte sich eine wundersame Stille gelegt, denn die Augen waren auf das Treiben am hohen Tisch gerichtet. Während sich die schottischen Gäste lauthals gegenseitig zerfleischen wollten, bestand Enja darauf, den vor Wut schäumenden Hal aus der Halle zu schicken, was er widerwillig tat. Seine Axt flog mit solch einer Wucht in den Rahmen einer massiven Tür, dass der metallene Kopf vollends in der geschnitzten Umrandung stecken blieb. Mit diesem Zeichen seines Unmuts verließ Hal den Saal.

»Ruhe!«, schrie Enja mit einer kompromisslosen Autorität in der Stimme ihre Gäste am hohen Tisch an. »Wollt Ihr wohl Ruhe geben!«, wiederholte sie noch einmal und schlug mit der Faust auf die Holzplatte. Nach und nach erstarb das wütende Geschrei, und James ließ zögernd den Kragen seines Bruders los. »Folgt mir in meine Schreibstube! Alle drei, sofort!«

Ihr Ton duldete keine Widerrede. Der gemeinschaftlich verstummte Clan von Caerlaverock ahnte, dass etwas Unvorhergesehenes passiert war, das selbst ihre so besonnene und erfahrene Herrin Enja in Rage brachte.

* * *

Bei allen Göttern, was fühlte ich mich müde! Auf dem Weg in die Schreibstube wischte ich mir mit der Hand mehrmals über die Augen. Beim Verlassen der Halle sah ich mit keinem Blick zurück und achtete auch nicht auf die betretenen Gesichter meiner Leute. Wie hatte mir das nur passieren können? Ausgerechnet der kriegerische König Robert de Bruce lag in meiner Krankenkammer und zog entweder lebendig die Wut der Engländer auf mich und meinen Clan oder die Wut der Schotten, falls er das Zeitliche segnen würde. So oder so hatte ich schlechte Karten.

Und alles wegen dieses vermaledeiten, von allen guten Geistern verlassenen James Douglas, der mich mit einer List in diese Situation gebracht hatte. Wütend und angespannt knetete ich meine Hände, während ich vor den etwas betrübt dreinblickenden Gästen auf- und ablief. Sie waren mir ohne Widerrede in meine Schreibstube gefolgt, die durch eine schmale Tür an die große Halle grenzte. Nicht besonders groß, aber funktionell ausgestattet, bot sie Platz für die endlose Flut an Papyrusrollen, die ich einst aus Alamut gerettet hatte. Zum anderen stand dort ein großer Tisch aus schottischer Eiche, der auf den edlen persischen Teppichen thronte, die noch aus Hassan I‑Shabbahs Besitz stammten. Die Mischung der verschiedenen Kulturen spiegelte sich nicht nur in der Einrichtung, sondern auch in den Menschen wider. Etwas betreten versuchte James, die verfahrene Situation zu glätten. Sein Gesicht hatte wieder den sorgenvollen Ausdruck angenommen, mit dem er hier angekommen war. Er räusperte sich.

»Lasst mich bitte die Situation erklären, Lady Enja, bevor Ihr zu falschen Schlüssen kommt. Es liegt mir fern, Euch und Euren Clan in Gefahr zu bringen, aber ich musste die Überführung des schottischen Königs unter allen Umständen geheim halten, sonst wären wir nicht bis hierhergekommen. Verzeiht, wenn es auf diese Weise zu Euren Ohren kam, ich wollte Euch diesbezüglich selbst …«

»Und wann wolltet Ihr das tun, sagt?«, unterbrach ich ihn scharf. »Wenn Edward mit seinem Heer vor Caerlaverock steht?« Meine Stimme triefte vor Sarkasmus, aber James steckte den Seitenhieb tapfer ein.

»Heute Abend hätte ich es Euch gesagt, nach dem Abendmahl. Wir wären auch wieder gegangen, wenn Ihr uns nicht als Gäste aufgenommen hättet. Wir waren nur so erschöpft, und der König hätte eine weitere Reise nicht überlebt. Verzeiht bitte …«

Sein Gesicht und seine ganze Haltung waren die eines Verlierers. Als wären sein Geist und sein Wille gebrochen worden. Selten habe ich jemanden so verzweifelt und niedergeschlagen erlebt wie diesen Mann, der so viel verloren hatte und sich an die letzte Hoffnung klammerte, dass ich seinen König retten könnte. Sollte ich ihn verurteilen? Sollte ich ihn abweisen? James hatte mich vor vielen Jahren schwerverletzt aufgenommen, ohne zu wissen, wer ich war. Sollte ich so meine Schuld bei ihm begleichen? Um meinen Clan nicht in Gefahr zu bringen, hätte ich sie alle so schnell wie möglich fortschicken müssen, aber ich brachte es nicht über mich. James hatte mich in eine verzwickte Situation gebracht, die mich dazu zwang, eine Entscheidung zu fällen, die ich gerne noch hinausgezögert hätte. Meine Gedanken kreisten, ein ungutes Gefühl hatte mich beschlichen und nahm wie ein Fieber von mir Besitz. Mit einem tiefen Seufzer drehte ich mich zu den niedergeschlagenen Männern um, die nun Seite an Seite meine Entscheidung erwarteten.

»Erzählt mir von Eurem Weg hierher, erzählt mir, was mit Bruce passiert ist«, forderte ich James auf. »Vielleicht hilft es mir, die ganze Situation besser zu verstehen, bevor ich eine falsche Entscheidung treffe.«

Ihre Erleichterung war deutlich zu spüren. Die Schultern strafften sich wieder ein wenig, und der aufkeimende Hoffnungsschimmer hellte James’ Gesicht auf. Mit ruhiger Stimme fasste er die erstaunliche Geschichte der schottischen Kämpfer zusammen, während McKay gelegentlich etwas ergänzte. Es war in der Tat eine unglaubliche Geschichte.

»Robert und seine Anhänger befanden sich nach der verheerenden Niederlage auf der Flucht vor den MacDougalls. Gerade mal einhundert Mann hatten das Gemetzel von Methven und den Hinterhalt der Engländer überlebt. Auf der Flucht wurden wir immer weiter nördlich in Richtung der schottischen Hybriden getrieben. Erst in Skye hatten wir die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was jetzt passieren sollte, und ausgerechnet dort wurde Robert so krank. Zurück konnten wir nicht, sie hätten uns auf der Stelle erschlagen, aber mit einem derart kranken König konnten wir nicht mehr weiter fliehen.«

Seine Stimme brach an dieser Stelle, und er wischte sich wieder mit der Hand über das Gesicht, wie immer, wenn er seine Gefühle vertuschen wollte. Er verschränkte die Arme und blickte zu Boden.

»Ich entschloss mich, ihn zusammen mit McKay, der das Land kennt wie seine Westentasche, durch die feindlichen Linien hierherzubringen. Unsere übrigen Kämpfer führten derweil die Engländer an der Nase herum, um sie von uns abzulenken. Ihr wart meine einzige Chance, Lady Enja!«

In diesem Augenblick sah er mich mit seinen braunen Augen eindringlich an. Er war trotz seiner Härte so verletzlich. Sein König bedeutete ihm so viel, dass er sein Leben und das seines Kameraden aufs Spiel gesetzt hatte. Was für ein tollkühner Handstreich, den König im Schutz der schottischen Hinterwälder genau in die andere Richtung außer Gefahr zu bringen!

Seine Stimme hatte jetzt einen flehenden Unterton. Fest biss ich die Zähne zusammen, um meine Gefühle nicht preiszugeben – ich musste meiner Vernunft folgen.

»Kein Heiler der Campbells von Skye war in der Lage, seine Krankheit zu erkennen und zu behandeln. Aber sie erzählten mir von Euren Fähigkeiten, und wir erkannten unsere Chance. Wenn es jemand schaffen würde, dann Ihr, Lady Enja.«

Sein Glaube in meine Fähigkeiten machte mich verlegen. Ich räusperte mich, atmete tief ein und überraschte ihn mit einer Gegenfrage: »Und was, wenn ich es nicht schaffe? Wenn er hier stirbt – unter meinen Händen?«

»Dann ist es Gottes Wille«, antwortete er kleinlaut.

»Und der Zorn aller Anhänger Roberts träfe mich und meinen Clan«, rief ich unbeherrscht aus, meine geballte Faust sauste mit einem lauten Klatschen in die Fläche der anderen Hand.

»Ich würde niemals zulassen, dass Euch jemand die Schuld gibt, Mylady!« James war plötzlich direkt vor mir und packte meine Schultern. »Ihr müsst mir glauben, Enja!«

Was für ein wunderschönes tiefes Braun seine Augen hatten, mit kleinen gelben Sprenkeln. Augen, die mich nun aufgewühlt anfunkelten wie zwei Bernsteine im Licht der untergehenden Sonne.

»Ich war von dieser einzigen Hoffnung getrieben, Euch zu finden. Und ich hatte Recht, Ihr habt einen Weg gefunden, ihm zu helfen.«

»Und damit lenke ich die Wut des englischen Königs Edward auf mich und meinen Clan …«, sagte ich und wandte meinen Blick endlich von seinen schimmernden Augen ab.

Wieder griff er nach meiner Schulter. »Ich werde nicht zulassen, dass Euch etwas geschieht. Bitte glaubt mir, Lady Enja.«

Sie hielten mich gefangen, diese Hände, dieser Blick aus seinen warmen braunen Augen, und ich spürte, wie meine innere Ruhe wiederkehrte. Wie machte er das nur, dass er solch einen Einfluss auf mein Innerstes hatte? Mein Ton wurde versöhnlicher, mein Verstand setzte wieder ein, und mit ihm kam auch die Heilerin in mir zum Vorschein.

»Nun, da ich Bruce wohl kaum wieder wegschicken kann, bleibt er hier, bis er gesund ist. Wenn das Mittel anschlägt, wird er bald aufwachen. Wenn nicht, werdet Ihr mit der Leiche verschwinden, so unauffällig, wie Ihr gekommen seid. So oder so – Ihr müsst so bald wie möglich von hier fort. Eine Gefährdung meines Clans durch Eure Anwesenheit kann ich nicht zulassen. Versteht mich bitte …«

»Ich danke Euch für Eure Großzügigkeit, ich werde Euch das niemals vergessen.«

James’ Stimme bewegte etwas in mir, und als er sich vor mir verbeugte, meine Hand nahm und die Handinnenseite küsste, verschlug es mir kurz den Atem. Seine Vermessenheit beeindruckte mich. Schließlich lud ich ihn und McKay dazu ein, meine Gäste zu sein, bis der König genesen war.

* * *

Später traf ich vor dem Brunnen in der Mitte des Burghofes Hal, der auf einen Holzstumpf einhackte. Ein ansehnlicher Haufen Holz lag bereits fertig gehackt neben dem Brunnen, und zwei Stalljungen schichteten die fertigen Scheite an der Wand auf, die das Brunnendach trug.

Mit den Händen in den Hüften blieb ich neben ihm stehen und wartete, bis er seine Axt vor sich aufgestellt hatte. Schweiß rann ihm über die nackte Haut seines Kopfes, seine Tunika klebte an seinem mächtigen Oberkörper. Von der Anstrengung traten die Adern an seinen Armen hervor. Er stützte sich auf den Stiel der riesigen Axt und stemmte die andere Hand ebenfalls in die Hüfte. Kampflustig funkelte er mich im Schein der Fackeln an. Ich beschloss in diesem Augenblick, ihm besser gar nichts zu erklären, sondern eröffnete ihm lediglich, dass wir in den nächsten Tagen Gäste haben würden. Damit drehte ich mich wieder um und wollte zur Krankenkammer gehen. Mit einem neuerlichen Wutausbruch hatte ich gerechnet, aber die Wucht von Hals Worten traf mich härter als gedacht.

»Wieso lässt du es zu, dass ein fanatischer Anhänger dieses Schottenkönigs unser aller Leben gefährdet?«, fauchte er mit seiner heiseren Stimme. »Hat er dir schon so den Kopf verdreht, dass du nicht mehr klar denken kannst? Was ist, wenn wir hier alle dabei draufgehen? Ich pfeife auf diesen verfluchten König, er wird uns alle ins Verderben reißen!«

Tief getroffen blieb ich stehen und drehte mich wieder zu ihm um. Mit fester Stimme antwortete ich: »Erstens ist dieser Mann im Augenblick mein Patient und nicht der König von Schottland. Zweitens: Er wird mir einen Gefallen schuldig sein. Und drittens ist es meine Entscheidung, Cathal Conchobhar Ó Searcaigh, ob dieser Mann mein Gast ist oder nicht, und kein verdammter irischer Hitzkopf wird mich davon abhalten!«

Wütend stapfte ich weiter zu den Krankenzimmern. Um Hal würde ich mich später kümmern, vor allem seine Eifersucht musste ich dringend in den Griff bekommen, bevor er etwas Dummes anstellte. Trotz meines inneren Aufruhrs sah ich es als meine Pflicht, wenigstens noch bei meinem Patienten vorbeizuschauen, bevor ich mich zurückzog. Sein Zustand war nach wie vor unverändert, aber etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Müde ging ich zurück in meine Kammer.

In derselben Nacht erreichte mich die Nachricht, dass Robert de Bruce die Augen geöffnet hatte, wenn auch nur für kurze Zeit. Ein gutes Zeichen, es bedeutete, dass die Mariendistel anschlug.

Wenigstens hatte ich den Kampf um sein Leben schon mal gewonnen. Allerdings würde es noch eine Zeit dauern, bis seine Leber wieder normal funktionierte. Und damit würde der Aufenthalt meiner Gäste wohl noch eine Weile dauern.

* * *

Hal ließ es sich nicht nehmen, James bei jeder Gelegenheit Unbehagen zu bereiten. Morgens beim Frühstück setzte er sich demonstrativ an den Gästetisch und bediente sich genüsslich von James’ und McKays Tellern. Ein Affront gegen alle guten Sitten! Während Hugh das ungewöhnliche Verhalten mit einem breiten Grinsen quittierte, hatte sich James gerade von seiner Bank erhoben, um Hal seine Auffassung von Gastlichkeit zu zeigen. Er würde sich nicht vorführen lassen.

In diesem Moment rauschte Enja durch das große Tor in die Halle und mit ihr eine kühle Morgenbrise. Die Männer hielten in ihrer Bewegung inne, und sämtliche Augen richteten sich auf die Burgherrin. Mit einem Blick erfasste sie sofort die Situation und ihre Augen funkelten die Männer wütend an. Am hohen Tisch angekommen, sprach sie Hal mit unverhohlenem Spott in der Stimme an: »Du hast deine Morgenübungen verpasst, Hal!«

Dieser verschränkte seine Arme vor der Brust, lehnte sich ein Stück zurück und grinste scheinheilig. »Bedaure sehr, mo leannan, mein Schimmel hat gestern bei der Jagd ein Eisen verloren, und ich wollte es so schnell wie möglich wieder reparieren.«

Mo Leannan? Meine Liebe? Enja runzelte die Stirn und öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, schloss ihn dann aber wieder. Sie wandte sich bewusst von Hal ab hin zu den Gästen und setzte eine freundliche Miene auf.

»Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen, meine Herren«, sagte sie und bedeutete James, sich wieder zu setzen. Ohne Hal auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, nahm sie neben Lachlan Platz. Sie schnappte sich eine der Schüsseln, die von den Tischmägden vorbeigetragen wurden.

Lachlan übernahm charmant die Antwort auf ihre Frage: »Wir haben geschlafen wie in Mutters Schoß, Mylady. Die Matratzen sind wunderbar weich. Woraus sind die gemacht, wenn ich fragen darf?«

»Rosshaar.« Enja nahm einen Löffel von dem in Schottland weit verbreiteten Porridge, blies kurz auf den heißen Brei und erklärte: »Wir sammeln sie in den Stallungen. Sie sind weicher als Stroh und speichern die körpereigene Wärme.«

»Eure Weisheit und Euer Sinn für praktische Umsetzung erstaunen mich. Woher kommen Eure guten Ideen?«, mischte sich James ein. Hal verdrehte nur die Augen.

Enja nahm noch einen Löffel des Getreidebreis und erklärte, während sie den geleerten Löffel betrachtete: »Aus meinem Hirn.«

Hal lehnte sich zurück und gluckste. James starrte ihr in die Augen und hatte im ersten Moment noch nicht den Sinn ihres Satzes erfasst. Dann begann Lachlan zu lachen, und schließlich fiel auch James mit ein.

In diesem Moment kam aus der Küche eine Magd mit einer weißen Haube, die auf einem silbernen Tablett drei kleine Becher aus rotem Ton balancierte. Sie waren alle gefüllt mit einem dampfenden schwarzen Getränk. Der Duft war intensiv, fast durchdringend; James hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Dazu reichte die Magd ein Tellerchen mit rötlichbraunen getrockneten Pflaumen. Lachlan und James beobachteten verstohlen, wie Enja den Becher an den Mund setzte, einen Schluck nahm und sich danach eine der Pflaumen in den Mund steckte. Sie schob die Frucht ein wenig im Mund umher, beförderte den Kern wieder heraus und spuckte ihn auf den Teller zurück. James und Lachlan taten es ihr nach. Während Lachlan angewidert das Gesicht verzog, ließ sich James den fremdartigen Geschmack auf der Zunge zergehen. Der bittere Geschmack des heißen Getränks vereinte sich mit der Süße der getrockneten Frucht und kreierte einen ganz neuen Genuss. James schloss die Augen. »Mmh«, machte er und nahm noch einen Schluck. »Was ist das? Es schmeckt hervorragend!«

Enja lächelte. »Es ist der Sud aus gerösteten und gemahlenen Kaffeebohnen, der über heißem Dampf gekocht wird. Diese Frucht hier«, sie zeigte auf die letzte datil auf dem Teller, »ist eine getrocknete Dattel aus dem Orient. Sie wächst dort, wo ich aufgewachsen bin.«

Und gerade, als sie sich die zweite datil nehmen wollte, griff eine kleine Hand nach der süßen Frucht. Der Junge lief mit seiner Beute aus der Halle, bevor ihn noch jemand aufhalten konnte. Enja blickte Thorvil hinterher und fing lauthals an zu lachen.

James schenkte dem Jungen keinerlei Beachtung, er beobachtete gebannt Enjas Gesicht. Ihr offenes und schönes Lachen löste einen wohligen Schauer bei ihm aus, das ihm förmlich die Sprache verschlug. Es war so ganz ohne Falschheit, wie er es leider so oft schon erlebt hatte. Er merkte nicht, wie Hal ihn mit Mordlust in den Augen musterte.

Enja lehnte sich zurück und bemerkte James’ Blick, der auf ihrem Gesicht ruhte. Sie legte ihren Kopf leicht schief. Ihr sorgenvoller Ausdruck kehrte wieder zurück und etwas anderes, das er noch nicht bei ihr gesehen hatte. Eine Unsicherheit, die vorher nicht da war. Immer wenn sie ihn ansah.

James stieß den angehaltenen Atem in einem langen Seufzer aus, und Enja sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Der seltsame Augenblick wurde unterbrochen, als ein Mädchen, kaum älter als Thorvil, mit glänzenden schwarzen Locken und dunklen Augen in die Halle kam. Sie hatte den frechen kleinen Dieb an seiner Tunika gepackt und zog ihn energisch zum Tisch am Ende der Halle.

Das Mädchen schob den zerknirschten Thorvil auf Enja zu und begann in einer fremden Sprache zu sprechen, die James noch nie gehört hatte. Enja hörte sich alles in Ruhe an.

Enja antwortete auf Gälisch an den Jungen gewandt: »Was hast du dir nur dabei gedacht, Thorvil?« Dieser senkte nur beschämt den blonden Wuschelkopf. »Aber ziemlich raffiniert von dir, das muss ich zugeben …«

Dabei musste sie lächeln, und zu dem Mädchen gewandt, das eine strenge Miene aufsetzte, sagte sie liebevoll: »Danke, Rachel, du hast gut aufgepasst. Aber wenn jemand so geschickt ist und es schafft, mich zu beklauen, dann muss ich das anerkennen. Daher bekommst du eine Hälfte der datil für das Stellen des Diebs«, sie nahm ihr eine Hälfte aus der kleinen Hand, »und unser kleiner Dieb hier bekommt die andere Hälfte der Beute.«

Thorvil blickte Enja überrascht an und wischte sich schnell den Rotz von der Nase.

»Aber zur Strafe musst du heute die Tische mit abräumen, Thorvil. Geklaut wird in diesem Haus nicht!«

Der Junge nickte erleichtert, steckte sich die halbe datil in den Mund und fing sofort an, die leeren Becher von den Tischen zu räumen. Enja hob Rachel auf ihren Schoß und streichelte ihr Haar. James spürte die innige Beziehung der beiden.

»Wer ist dieses hübsche Mädchen, und in welcher Sprache habt Ihr Euch unterhalten?«

Enjas Lächeln erstarb, und der zärtliche Blick wich diesem unsicheren Ausdruck. Sie zögerte unmerklich, aber dann antwortete sie: »Das ist meine Tochter Rachel, sie ist jetzt sechs Jahre alt und liebt ihren kleinen Bruder Thorvil sehr.«

Eine Tochter? Einen Sohn? Wie viele Kinder hatte Enja denn? James musste schlucken. Hal dagegen grinste und fing an, mit seinem Messer in den Zähnen zu stochern.

Als hätte sie seinen inneren Tumult nicht bemerkt, erzählte Enja weiter: »Sie spricht Farsi, die Sprache meiner Heimat Persien. Außerdem kann sie Gälisch, Englisch und lernt Französisch.« Mit mütterlichem Stolz blickte sie das Mädchen an und küsste sie auf die Stirn.

James versuchte, sein Erstaunen zu überspielen. »Ihr stammt aus dem Morgenland? Aber Ihr seht nicht so aus, als wäret Ihr dort geboren. Was hat Euch denn hierher nach Schottland verschlagen?«

Sein Blick streifte den immer noch grinsenden Hal, der so tat, als würde er sich für ihre Unterhaltung gar nicht interessieren. Lachlan dagegen sah gebannt das Mädchen auf Enjas Schoß an, das so ganz anders aussah als die Kinder hier im Norden, und lauschte interessiert. Enja erzählte nun in knappen Worten von ihrer Reise aus dem Morgen- ins Abendland und wie sie schließlich auf Caerlaverock eine Heimat gefunden hatte.

»Ich kämpfe immer noch darum, als Herrin anerkannt und mit dieser Burg belehnt zu werden. Seit vier Jahren stecke ich nun schon Arbeit in diese Burg, habe eine wachsende Zahl an Clanleuten, die mir helfen, das dazugehörige Land zu bewirtschaften, und trotzdem fehlt mir die Anerkennung.«

Frustriert blickte sie zu James, der beeindruckt davon war, was sie in so wenigen Jahren alles erreicht hatte. Verständnisvoll nickte er ihr zu und wechselte einen Blick mit Lachlan.

»Ihr solltet vielleicht den schottischen König um Belehnung bitten, immerhin liegt Caerlaverock auf schottischem Boden«, schlug er vor und hatte damit Enjas volle Aufmerksamkeit. »Wenn er überlebt, wird er Euch sicher sehr dankbar sein und sich großzügig zeigen. Ihr müsstet ihm nur beweisen, dass Ihr in der Lage seid, diese Burg zu bewirtschaften und gegen die Engländer zu halten.«

Enja richtete sich ein wenig auf. Sie schöpfte Hoffnung aus seinen Worten, das konnte er deutlich sehen.

»Dann lasst es mich beweisen! Ich habe dieses Anwesen erfolgreich bewirtschaftet und kann meine Steuern bezahlen. Die Engländer haben bereits zweimal versucht, die Burg einzunehmen, und wir haben ihnen erfolgreich die Stirn geboten.« Sie entließ das kleine Mädchen von ihrem Schoß und stand auf. Hoffnungsvoll fügte sie hinzu: »Kommt, Lord Douglas, ich zeige Euch, was eine Frau alles erreichen kann.«

James folgte ihr, und auch Lachlan erhob sich. Hugh dagegen verabschiedete sich und ließ die beiden Gäste mit Enja allein.

»Wenn Bruce wieder gesund wird – wovon ich ausgehe – und Ihr Euch auf den Heimweg macht, dann legt ein gutes Wort für mich ein«, bat sie und verließ zusammen mit den Männern und der kleinen Rachel an der Hand die Halle.

Bei ihrer Führung durch die Burg erklärte Enja mit solcher Inbrunst die Struktur und Aufgaben der einzelnen Gruppen, dass James überlegte, ob er ihr nicht zu viel versprochen hatte. Sie meisterte ihre Aufgabe als Herrin der Burg perfekt, daran bestand kein Zweifel. Aber würde das ausreichen, um Bruce zu überzeugen? James hatte schwere Bedenken, ob es je einer Frau – und insbesondere einer Frau, die keine Schottin war – gelingen würde, eine Burg in diesem Land für sich zu beanspruchen und erfolgreich zu verteidigen. Nicht einmal jedem Adligen gelang das.

Enja führte ihn in die einzelnen Burgbereiche. In einem befanden sich die Studierkammern, in denen Lehrer den Kindern Schreiben und Lesen beibrachten, hauptsächlich gelehrte Frauen und Nonnen. Je nach Interesse wurden Sprachen, Heilkunde oder sogar Rechnen unterrichtet. James, der wegen der Stellung seines Vaters in Frankreich hatte studieren dürfen, staunte über das Wissen von Enjas Schülern.

Schließlich besuchten sie in einem anderen Haus die Schule, in der mehrere erfahrene und unerfahrene Frauen gemeinsam neue Heilmittel und ‑praktiken studierten. So konnte ein gewaltiges Wissen angesammelt werden, das zu einem großen Zulauf werdender Mütter führte. Enjas Geburtshelfer und Heilerinnen zählten zu den besten in der Umgebung, und nicht selten wurden sie auch von den anderen Clans gerufen.

Aber am erstaunlichsten war für James, dass sich nicht nur die Männer, sondern auch viele Frauen in der Kampfkunst übten. Jetzt wurde ihm auch klar, warum sie alle in Männerkleidung herumliefen: Sie waren ausgebildete Kriegerinnen. Voller Stolz erklärte Enja, dass die besten Bogenschützen der Gegend aus Caerlaverock kamen. Während sie davon zu erzählen versuchte, schlug Hal mit sinnloser Wucht immer wieder mit seinem Hammer auf die Klinge eines glühenden Schwertes, das wohl tausendfach gefaltet werden sollte. Irgendwann gab Enja den Versuch auf, sich Gehör zu verschaffen, warf Hal einen mörderischen Blick zu und schickte James und Lachlan in die Kapelle, die sich in einem seitlichen Flügel der Burg befand. Die Männer ließen sich auf eine der Bänke nieder, genossen die Ruhe und nahmen sich Zeit für ein kleines Gebet.

Enja würde sich in der Zwischenzeit Hal vorknöpfen. James war froh über die Stille der Kapelle, er wollte diesen Mann nicht zum Feind haben. Leider schien Hal aber genau zwischen ihm und der Frau zu stehen, die ihn nicht mehr losließ. Eifersüchtig wachte er über Enja, die so völlig anders war als alle Frauen, die er kannte. Er empfand einen tiefen Respekt vor ihr und vor dem, was sie erreicht hatte. Die körperliche Anziehung, die er in ihrer Nähe spürte, brachte ihn fast um den Verstand. Noch nie hatte eine Frau so von seinen Gedanken Besitz ergriffen, und das, obwohl sie keinerlei Anstalten machte, ihn zu verführen.

James sah sich in der Kapelle um, die hauptsächlich von den Nonnen benutzt wurde, die hier unterrichteten. Ein Holzkreuz hing über dem schlichten Altar, den frische Blumen zierten. Eine Marmorplatte war in eine Wand eingelassen, in die mehrere Namen eingemeißelt waren. Darüber in etwas dickeren Lettern Memento mori, die mahnende Erinnerung an die eigene Sterblichkeit. Neben ihm war McKay in stillem Gebet versunken.

Wieder kehrten die verräterischen Bilder, die ihn seit Tagen schon fesselten, in James’ Kopf zurück: Enja in seinem Bett, ihre langen Beine um seine Hüften, das seidige weiße Haar fiel offen und ungebändigt über ihren Rücken. Ihre wunderschönen Augen blickten ihn selbstbewusst und voller Leidenschaft an …

»Lord Douglas!« Sein Kopf fuhr zu Enja herum, die nun neben ihm stand. »Wenn Ihr so weit seid, dann können wir noch zu den Ställen.«

James schluckte erschrocken und nickte nur, sein Gesicht war leicht gerötet. Er hoffte, sie sah ihm nicht an, was wirklich in ihm vorging. Zögernd stand er mit McKay auf, um die Pferdezucht zu begutachten, die Enjas ganzer Stolz zu sein schien. Sollte er eines Tages wieder Titel und Land haben, würde er ein Pferd aus ihrer Zucht nehmen. Die aus dem Orient stammenden Tiere hatten eine lässige Eleganz. Sie trugen ihren Kopf mit natürlichem Stolz, was eine ganz eigene Schönheit ausmachte. Ganz ähnlich wie bei Enja …

* * *

Ich hatte Hal in der Schmiede erklärt, dass ich seine Versuche, meine Gäste zu vergraulen, kindisch fand. Daraufhin verzog er sich schmollend in die Küche, um sich ein zweites Frühstück zu genehmigen.

Dabei hätte ich ihn schon gerne um Rat gefragt. Ich hatte mit meinen vierundzwanzig Jahren noch keinerlei Erfahrung mit dem anderen Geschlecht gemacht, nicht einmal einen körperlichen Kontakt erlebt. Wenn ich James ansah, dann flatterte mein Magen, der Puls ging schneller, und meine Gedanken ließen sich nicht mehr so einfach sortieren. Noch nie hatte mich ein Mann körperlich derart angezogen. Ich mochte seine Art zu sprechen, wie er seine Hände bewegte, und wenn sein Mund doch einmal lächelte, dann spürte ich eine selten kraftvolle Energie auf mich übergehen.

Nahm Hal wahr, was hier zwischen James und mir vor sich ging? Gebärdete er sich deshalb so seltsam? Hal wollte mich beschützen, aber er mischte sich hier in etwas ein, das ich gern selbst in die Hand nehmen wollte. Für mich war klar, dass ich nie heiraten würde, kein Mann würde je über mein Schicksal bestimmen. Aber trotzdem erfasste mich eine unfassbare Neugier, wenn es um James ging, die mich seltsam erregte und auf einer gefährlichen Welle trug.

In den nächsten Tagen hatten Hal und James wohl Waffenstillstand vereinbart, damit die Anspannung, die unter meinen Clanleuten spürbar war, nicht noch von den seltsamen Besuchern geschürt wurde. So versuchten sie, sich nützlich zu machen, wie es sich für gute Gäste gehörte. Der gedrungene McKay stellte sich zur Verfügung, um mit den Frauen den Nahkampf zu üben. Er war wirklich ein charmanter und witziger Mann, der bei den Frauen ein gutes Händchen bewies. Ich schätzte ihn auf über dreißig Sommer. In den Übungen zeigte er sich als ein erfahrener Kämpfer und in Liebesdingen als kein Kostverächter. Ich bemerkte die interessierten Blicke, mit denen die Mädchen ihn musterten.

Am Nachmittag dieses Tages wachte Robert de Bruce aus seiner langen Bewusstlosigkeit auf. Als ich die Nachricht erhielt, eilte ich sofort los und war froh, ihn zwar schwach, aber aufrecht im Bett sitzen zu sehen. Seine Augen waren noch leicht gelblich verfärbt und reagierten empfindlich auf das Tageslicht. Erfreulicherweise hatte er wieder einen gesunden Appetit und trank, ohne zu zögern, die Brühe, die ich für ihn täglich kochen ließ. Nach meiner routinierten Untersuchung erklärte ich ihm, was passiert und wie er nach Caerlaverock gekommen war. Dass er ein von ganz England gehetzter König war, blendete ich erst einmal aus. Er begegnete mir mit einer Freundlichkeit und einer Würde, die mich sehr beeindruckten.

König Robert war kein Despot oder eitler Geck. Selbst krank und geschwächt vermittelte er jedem das Gefühl, dass er ihn ernst nahm und beachtete. Seine Intelligenz und gewandte Sprache zeugten von einer guten Erziehung, und mit seinem höflichen Auftreten beeindruckte er mich nachhaltig. Er bedankte sich bei Moira und mir für die gute Behandlung, die sein Leben gerettet hatte. Allerdings konnte er sich die Vergiftung nicht erklären, zumal er nicht gerne Pilze esse. Dies war für mich ein Hinweis, dass ihm jemand absichtlich etwas von dem giftigen Pilz in kleinen Mengen ins Essen gemischt hatte. Aber das würde ich mit James besprechen, der das Umfeld des Königs besser kannte.

James, den wir bald darauf holen ließen, wurde von ihm herzlich empfangen, jeder im Raum konnte spüren, wie der junge Douglas in Robert nicht nur einen Kämpfer für seine Sache, sondern auch eine Art Vaterfigur gefunden hatte. Ich verabschiedete mich bald, nicht ohne Robert zur Bettruhe zu mahnen, und ließ die beiden allein.

An diesem Abend wollte ich die gute Nachricht vom Genesen des Königs zumindest mit meinem Clan teilen und ordnete ein kleines Fest ihm zu Ehren an. Aufgeregt liefen die Mägde und Knechte umher, um die Halle zu schmücken und das Essen vorzubereiten. Der Hirsch, den Hugh und Hal am Vortag erlegt hatten, war noch nicht genug abgehängt, um ihn zu verzehren. So beschloss ich, eines unserer Hausschweine für das Fest zuzubereiten. Die Küche brodelte förmlich unter den Vorbereitungen für das Mahl.

Überall erleuchteten Kerzen die große Halle, Tische wurden zusammengestellt, zusätzliche Stühle hereingetragen. Der große Kamin in der Mitte des Raumes spuckte zischend und knisternd Feuer und Wärme. Die Gesichter der Kinder, die sich davor niederließen, leuchteten vor gespannter Erwartung.

Als Gastgeberin eines Festes zu seinen Ehren hatte ich Robert de Bruce an unseren Tisch geladen, auch wenn er nicht lange bleiben konnte. Aber er fühlte sich geehrt und sah es als willkommene Abwechslung von seinem Krankenbett, wenigstens für eine kurze Zeit wieder unter Gesunden zu weilen. Hugh geleitete ihn am Arm durch die Halle an unseren Tisch, und ich überließ ihm höflich meinen Stuhl. James, Lachlan und sogar Hal standen ehrfürchtig auf und verneigten sich.

Es wurde an der Zeit, auch meinen Clan über die Identität unseres kranken Gastes zu informieren, daher stand ich auf. Als Hal einen scharfen Pfiff durch die Halle jagte, verstummten die Gespräche augenblicklich, und ich bedankte mich für die Aufmerksamkeit.

»Werte Frauen, Männer, Kinder von Caerlaverock«, setzte ich an und neigte mich auch zu den Kindern am Herd, »wir feiern heute die Genesung unseres schottischen Königs Robert de Bruce, der vor ein paar Tagen von Lord Douglas zu uns gebracht wurde. Ich freue mich, ihn nun auf dem Weg zur Genesung als Gast in unserer Mitte zu haben.« Ein erstauntes Murmeln ging durch den Raum. »Das Volk von Caerlaverock mit mir als Clanführerin wünschen Euch weiterhin ein gesundes Leben und viel Kraft, die politischen Wirren endlich für ein geeintes Schottland zu entscheiden.«

Meine Rede war ein Drahtseilakt, den ich mir vorher genau überlegt hatte. Ich konnte mich noch nicht zu einem König bekennen, so weit war ich einfach noch nicht. Die Leute im Saal klatschten jetzt, begeistert vom unerwartet hohen Besuch, und Bruce neigte den Kopf vor mir.

»Auf Robert de Bruce, den König der Schotten, möge er noch lange leben!«, rief ein begeisterter Hugh, und es riss ihn fast vom Stuhl, als er seinen Becher erhob und aus vollem Halse schrie: »Slàinte mhath! Gesundheit!« Zusammen mit den anderen wiederholten sie laut und in seltener Einigkeit den schottischen Trinkspruch. Die brauchte man auch bei einem solchen Gesöff.

Bruce ließ es sich nicht nehmen, ein paar Dankesworte an mich und die Menschen hier zu richten, ließ sich aber entschuldigen, dass er auf den guten schottischen Uisge beatha heute und hier zu Tisch verzichten wolle, denn sein Medicus habe es ihm verboten. Dabei zwinkerte er mir zu.

Unsere Gäste staunten nicht schlecht, als ein wohlschmeckender Schweinebraten mit Gemüse gereicht wurde, zu dem es frisches Brot und Käse gab. Dazu flossen jede Menge Bier und französischer Wein, den sich Roderick Maxwell aus Frankreich kommen ließ und der vor allem James sehr mundete. McKay ließ sich lieber den Uisge beatha aus Hals eigener Brennerei schmecken und machte sich damit Hal zum Freund, der ein Liebhaber des starken Alkohols war.

Hal benahm sich an diesem Abend wie ein richtiger Gastgeber und bewies, dass sein Wortschatz aus mehr als drei Worten bestand. Vielleicht trug die eingehende Unterredung mit ihm am Nachmittag in der Schmiede doch Früchte, oder es war die Anwesenheit des Königs. Nur mit James wechselte er immer noch kein Wort. Aber solange er ihn nicht als Zielscheibe für seine Wurfaxt benutzte, sollte es mir recht sein.

Die Musikauswahl für den Abend hatte ich Muriel überlassen. Als eine der ältesten Bewohnerinnen der Burg unterrichtete sie mit ihrem umfangreichen Wissen die Kinder in den unterschiedlichen Instrumenten. Gerade die schottischen Tanzlieder waren bei den Kindern und jungen Leuten sehr beliebt. Sie schoben einfach die Tische auf die Seite und fingen zu tanzen an. Es waren schlichte, aber eingängige Weisen, die von schottischen Bodhrun-Trommeln und Harfen gespielt und von Gesang begleitet wurden. Nur selten ersetzten die Flöten den Gesang vollständig. Die Texte waren Gälisch und wurden von vielen mitgesungen.

McKay erwies sich als begnadeter Tänzer und durfte mit so ziemlich jedem Mädchen an diesem Abend seine Runden drehen. Besonders oft forderte er Kalay zum Tanzen auf, deren rotblonder Zopf bei jeder Drehung mitschwang.

Meine Chance sah ich kommen, als ich James zum Tanzen aufforderte. Sichtlich erstaunt über meine direkte Art nahm er zögerlich meine Hand und ließ sich von mir zu dem Pulk der Tänzer führen. Leider hatten die Musiker ausgerechnet bei diesem Stück einen Formationstanz angestimmt, der nicht paarweise getanzt wurde, sondern in Formation. Hierbei tanzte jeder abwechselnd einmal mit jedem. Dazu wurde der Takt immer schneller, bis alle am Ende des Lieds entweder völlig außer Atem waren oder schon vorher aufgaben und lieber wieder zu den Zuschauern zurückkehrten.

Was für ein Pech! Bei diesem Tempo verlor ich James schnell aus den Augen, da ich mich sehr auf die Tanzschritte konzentrieren musste. Aber ich hielt wenigstens bis zum Schluss bei den immer schnelleren Drehungen und Schritten mit. James, Hugh, Lachlan, Kalay, Winnie, Hal und Moira, sie alle japsten wie Fische auf dem Trockenen. Viele der anderen Tänzer mussten aufgeben und klatschten jetzt als Zuschauer Beifall.

Unbedarft, wie ich war, hatte ich gehofft, wenigstens nach dem Tanz noch einmal eine Chance zu erhalten, um James näherzukommen. Als würde sie mich absichtlich davon abhalten wollen, spielte Muriel mit ihrem Ensemble nun ein Stück, das sie in Anlehnung an meine Geschichten aus dem Orient komponiert hatte. Zusammen mit Rachel nötigte mich die Alte, nun das Stück über den persischen König Kyros zu singen. Rachel hatte das Talent ihrer Mutter Jasemin geerbt, und ihre klare, melodische Stimme klang wundervoll.

Erst nach drei weiteren Stücken durfte ich wieder an meinen Platz zurückkehren – selbstredend unter dem Applaus nicht nur meines Clans, sondern auch der Gäste, die in der Zwischenzeit schon ordentlich dem Alkohol zugesprochen hatten.

Hugh hatte den erschöpften König zurück in seine Kammer gebracht. Erleichtert über den gelungenen Abend setzte ich mich und blickte zufrieden in die Runde. Es schienen sich alle gut zu amüsieren, auch James hatte sich inzwischen mit dem Uisge beatha angefreundet und prostete McKay, Hal und Hugh in schöner Regelmäßigkeit zu. Nun, stellte ich etwas pikiert fest, der Alkohol schien ja tatsächlich unüberbrückbare Differenzen mühelos zu überwinden … Leider vertrug ich nicht viel davon: Ein paar Schlucke dieses heftigen Getränks genügten, um mich sofort betrunken zu machen. Eines Tages hatte ich beschlossen, ohne diesen Höllentrunk auszukommen, der die Sinne verwirrte und Todfeinde innerhalb eines Abends zu Trinkbrüdern machen konnte.

Als einzig Nüchterne unter all den Trinkenden verstand ich irgendwann die Witze nicht mehr und erhob mich, um in meine Kammer zu gehen. Neben mir unterhielt James sich mit roten Wangen und glänzenden Augen mit McKay, der sich über etwas totzulachen schien. Hal tanzte ausgelassen mit Kalay, die sowieso den ganzen Abend die Tanzfläche nicht verlassen hatte. Ich hielt inne und betrachtete das heitere Gesicht von James. Etwas hinderte mich, den Abend so zu beenden. Vielleicht musste ich ihm ein deutlicheres Zeichen geben.

Ich stellte mich daher dicht neben James, der für einen Moment irritiert im Gespräch mit McKay innehielt und mich von unten bis oben taxierte. Als seine Augen etwas orientierungslos mein Gesicht erreichten, deutete ich eine kleine Verbeugung an und nahm meinen ganzen Mut zusammen.

»Ich ziehe mich nun zurück, meine Herren. Lord Douglas, falls es für Euch nicht zu spät ist und Ihr noch vor Mitternacht den Weg ins Bett findet, dann kommt in meine Kammer.«

Als ich das Erstaunen in seinem Gesicht sah, drehte ich mich um und ging die Treppe zu den privaten Kammern hinauf. Erst am Treppenabsatz wandte ich mich noch einmal um und erhaschte belustigt seinen erschrockenen Blick. McKay daneben hatte nur blöd gegrinst. Aber so war ich nun mal, ich ging meinem Ziel nach und pfiff auf Konventionen. Jetzt war ich gespannt, ob er tatsächlich kommen würde …

* * *

James Douglas glaubte im ersten Moment, sich durch den Nebel der Trunkenheit verhört zu haben. Die unnahbare, bildschöne Enja, Herrin von Caerlaverock, hatte ihn in ihre Kammer geladen? Entgeistert blickte er McKay ins Gesicht, der genauso verblüfft war wie er. Der lächelte schief und lallte dann ein wenig unsicher: »Scheint, die hat ’nen Narren an dir gefressen.«

»Aber das geht doch nicht«, entgegnete James kopfschüttelnd. »Ich kann sie doch nicht heiraten. Ich habe nichts mehr … ich meine, kein Land und keinen Titel …« Unsicher nahm er den letzten Schluck seines Uisge beatha und stellte den Becher mit einem Knall auf dem Holztisch ab. Was konnte er ihr schon bieten?

McKay lachte auf. »Du und deine Moralvorstellung. Die will doch nicht heiraten.« Auch er hatte Schwierigkeiten mit einem flüssigen Satz. »Geh zu ihr und gib ihr, was sie will.« Er rülpste und nahm ebenfalls einen Schluck.

James wurde nachdenklich, seine Wangen färbten sich tiefrot. »Aber ich weiß nichts über Frauen, ich habe nur ein paarmal ein Mädchen geküsst. Ich habe keine Ahnung!«

McKay starrte ihn an, als wären ihm zwei Köpfe gewachsen, seine sonst so trägen Augen weit aufgerissen. »Du«, setzte er an, »du bist noch eine Jungfrau?«

»Psst!«, herrschte James ihn an. »Das muss ja hier keiner wissen.« Unsicher blickte er auf die tanzenden Leute, aber sie saßen mittlerweile allein an dem hohen Tisch.

»Ha!«, machte McKay und goss James noch einmal großzügig nach. »Dann lass uns auf deinen Abend trinken, Junge, mein erstes Mal ist schon verdammt lange her.«

Zusammen tranken sie noch einmal einen großen Schluck der hochprozentigen Flüssigkeit. James schluckte, er begann nervös zu werden. Sehr hilfreich war Lachlan nicht gerade. Herrgott, Enja war unverheiratet, Mutter zahlreicher Kinder und hatte wahrscheinlich schon viele Männer gehabt, vom Orient bis nach Schottland. Sie konnte doch jeden haben, warum wählte sie jetzt ausgerechnet ihn? Er mochte sie, das bereitete ihm am meisten Kopfzerbrechen. Er dachte Tag und Nacht an sie, und ihre direkte Art machte ihm jetzt Angst. Sie würde ihn wegwerfen wie all die anderen Männer vor ihm, da war er sich sicher. Vorsichtshalber nahm er noch einen großen Schluck.

Lachlan war leicht in sich zusammengesunken, die Augen geschlossen, als würde er schlafen. Jetzt richtete er sich kurz wieder auf und blickte ihn mit kleinen Augen an. »Du bist ja immer noch da, Junge. Los, geh schon!«

Dabei lachte er in sich hinein, hob seinen Becher und stieß noch einmal mit James an.

»Also … also gut!« James’ Zunge war schwer. »Ich gehe zu ihr!«

Damit stand er auf und stützte sich am Tisch ab. Der Saal kreiste. Ein paar Atemzüge lang verharrte er und versuchte, die Bilder vor seinen Augen zu sortieren. Sein Blick fand die Steintreppe nach oben. Langsam, Schritt für Schritt, näherte er sich diesem wackeligen Ding. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Verfluchtes Teufelszeug, warum hatte er auch so viel trinken müssen!

* * *

Was war nur mit mir los? Lieber hätte ich mit einem Heer Wikinger gekämpft, als jetzt hier in meiner Kammer zu stehen und darauf zu warten, ob James kam oder nicht. Unruhig lief ich von einer Seite auf die andere. Das Feuer im Kamin prasselte und füllte den Raum mit einem angenehmen Duft aus Rauch und Harz. Die Scheite knackten und knisterten laut. Wie sollte ich ihn denn empfangen? Wie machten das andere Frauen?

Entnervt verdrehte ich die Augen und betrachtete mein großes Bett, die rastlosen Hände auf dem Rücken verschränkt. Meine Mägde hatten es mit hellen Leinen bezogen. Ich beschloss, mich einfach so zu verhalten wie an jedem anderen Abend, und zog unsicher meine Sachen aus und legte sie sorgfältig zusammen. Es sollte nicht so aussehen, als hätte ich mir die Kleider vom Leib gerissen.

Ich schlüpfte nackt unter das Fell auf meinem Bett und setzte mich aufrecht hin. Wieder verging eine endlose Zeit, in der ich mich immer mehr über mein Verhalten ärgerte. In meiner übereifrigen Art hatte ich James womöglich vergrault, und er würde jetzt erst recht nicht mehr kommen. Meine Hand ging zu meinem Stein um den Hals, dem Stein meiner Mutter. Die Lederkordel hatte ich schon ein paarmal wechseln müssen, aber der schlichte schwarze Stein hatte noch nichts von seinem Zauber eingebüßt, den er für mich besaß. In ihm war die Erinnerung an meine Mutter konserviert, die für mich gestorben war.

Der Gedanke daran ließ mich schwermütig werden. Sie hatte einen Mann und eine Familie gehabt. Sie war so anders gewesen als ich. Sanft, weich, liebevoll. Der Stein an meinem Hals fühlte sich angenehm warm an, er hatte die Hitze meines Körpers aufgenommen.

Auf einmal hörte ich ein Rumpeln an der Tür, als wäre jemand dagegen gefallen. Ich sprang geschmeidig aus dem Bett, um nachzusehen, da flog das schwere hölzerne Türblatt schon auf, und der betrunkene James stolperte herein. Seine Lider standen auf Halbmast, Wangen und Nase leuchteten rot. Schwankend stand er vor mir und grinste schief. Ich blieb wie erstarrt zwischen Bett und Tür stehen. Mein Herz machte einen Satz.

»Du bist restlos betrunken«, stellte ich völlig überflüssig fest.

»Und du … du bist nackt«, kam es lallend zurück.

Gekränkt verschränkte ich die Arme. »Musstest du dir weiteren Mut antrinken, James?«

Seine Augenbrauen gingen nach oben, und sein Blick wurde unstet. »Ich habe noch nie … ich meine, noch nie so eine Frau wie dich gehabt.« Er torkelte einen Schritt nach vorn, bis sich sein Gesicht direkt vor dem meinen befand und ich den scharfen Uisge-beatha-Geruch wahrnehmen konnte. Er senkte seinen Mund, seine Arme versuchten vergeblich, mich zu greifen, denn im selben Moment trat ich etwas zurück. Das hätte ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht, und er setzte unsicher einen Schritt nach vorn. Schnell streckte ich den Arm aus und hielt ihn mit der Hand an seiner Brust von mir fern. Wie konnte er sich nur so betrinken? Sein Oberkörper stützte sich schwer gegen meinen ausgestreckten Arm. Sein Blick fiel auf meine nackten Brüste und fast im gleichen Moment fing er an zu würgen. Geistesgegenwärtig riss ich mein Waschbassin vom Holzblock und hielt es ihm unter die Nase.

Plötzlich gaben ihm die Knie nach, und ich hatte Mühe, den großen und schweren Mann samt Schüssel auf den Boden zu bringen. Es roch erbärmlich. James schien davon nicht mehr viel mitzubekommen. Ich hoffte inständig für ihn, die Gnade des Vergessens würde ihn morgen ereilen. Nur mit Mühe brachte ich ihn in mein Bett, in dem er mit ausgestreckten Armen und Beinen zu schnarchen begann.

Nachdenklich setzte ich mich auf das Bett neben ihn und betrachtete James, dessen Züge im Schlaf so friedlich wirkten. Er hatte sich lieber betrunken, als mit mir das Bett zu teilen. Eine tiefe Enttäuschung erfasste mich und zog mich mit eiserner Faust in eine nie gekannte Traurigkeit. Ich war für solch einen Mann zu unattraktiv. Meine Größe, mein Selbstbewusstsein, meine Art, mir zu holen, was ich wollte, das schreckte die Männer ab. Und dann mein Äußeres … Wer wollte schon eine Kriegerin in Männerkleidung, noch dazu eine, die den meisten das Fürchten lehrte? Zutiefst enttäuscht atmete ich noch einmal durch und strich mit der Hand über seinen weichen dunkelbraunen Haarschopf. Der Geruch von Kaminrauch und Uisge beatha erfüllte den Raum und nahm ein wenig von der Schärfe, die der Inhalt aus der Waschschüssel verbreitete.

Ich würde mich von nun an wieder darauf konzentrieren, meinen Clan zu führen. Ein einziges Mal hatte ich meinem Drang, als Frau wahrgenommen zu werden, nachgegeben. Und jetzt hatte ich die Quittung dafür erhalten. Langsam erhob ich mich, nahm meine gefaltete Kleidung und zog mich an. Heute Nacht würde ich bei Taycan im Stroh schlafen. So war ich nicht allein, und mein treuer Freund störte sich nicht an meinem Wesen.

* * *

Natürlich wusste am nächsten Tag jeder, dass James die Nacht in meinem Bett verbracht hatte. Unter den neugierigen Blicken der Stallburschen war ich allein zu den Kampfübungen aufgebrochen, Hals saure Miene war jetzt das Letzte, was ich brauchen konnte. Diese Begegnung war aber nur aufgeschoben, denn irgendwann musste ich unweigerlich den Gang in den großen Saal auf mich nehmen. Dort saßen sie jetzt alle und warteten auf mich. Ich ließ mir Zeit, drückte mich noch ein wenig im Stall herum, aber ich kam um dieses Aufeinandertreffen nicht herum.

So straffte ich meine Schultern, ging die paar Stufen bis zur Tür des großen Saals hinauf und stieß sie entschlossen auf. Natürlich hörte das Gemurmel und Gelächter sofort auf, als ich mich durch die Tischreihen bewegte. Jeder starrte mich an, und ich fragte mich, ob es in ihren Augen eine Sünde war, was ich getan oder auch nicht getan hatte. Am hohen Tisch fehlte jegliche Spur von James, und ich vermisste ihn auch nicht.

McKay sah mir lieber nicht in die Augen, er drehte nur verlegen seinen Löffel in der Hand. Er machte den Eindruck, als hätte er nicht gut geschlafen. Seine dunklen Haare standen in alle Richtungen, aufs Rasieren hatte er verzichtet, und die Lider waren verquollen. Hal, die fiese Ratte, hatte sich in seinem Stuhl nach hinten gelehnt und die Arme verschränkt. Seine Miene ließ nicht erkennen, ob er böse war oder amüsiert. Die grünen Augen musterten mich nur scharf. Er wartete wohl darauf, was ich zu den Gerüchten sagte, die von den Mägden sicher schon bis in den letzten Winkel getragen worden waren.

»Guten Morgen!«, gab ich fröhlich von mir. Nein, ich würde mir keine Blöße geben. Ich lächelte gezwungen und schlug Lachlan freundschaftlich die Hand auf die Schulter. Er zuckte zusammen und hielt sich die Schläfe, sein Mund quälte sich zu einem schiefen Lächeln.

»Ihr solltet Folterknecht werden bei Eurem Gespür, anderen Schmerzen zu bereiten, Mylady

»Oh, glaubt mir, Euer Freund wird mir heute dasselbe sagen«, entgegnete ich ihm grimmig.

»Schläft er noch?«, fragte Lachlan unsicher.

»Das nehme ich doch schwer an. Da er nicht zum Frühstück erschienen ist, wird er sicher noch seinen Rausch ausschlafen.« Der Spott in meiner Stimme sollte nicht zu überhören sein. Mit einer schnellen Bewegung schnappte ich mir eine Schüssel von dem warmen Haferbrei, den eine Magd auf einem Tablett servierte, setzte mich neben Hal und gab einen Löffel Honig aus dem Honigtopf dazu. Genüsslich ließ ich mir den süßen Porridge schmecken.

Gerade als ich die Augen wieder öffnete, blieb mir beim Blick in Hals Gesicht fast der Brei im Halse stecken. Seine Augen funkelten mich gefährlich an. Die Faust, die seinen Löffel umklammert hielt, war weiß. »Hast du mit ihm geschlafen, Enja?«

Ich verschluckte mich und hustete, bis mir die Tränen kamen. Erst als ich meine Stimme im Griff hatte, hielt ich meinen Löffel wie eine Waffe vor mich und zischte zwischen meinen Zähnen hervor: »Das geht dich nun wirklich nichts an, Hal. Ich kann in meinem Bett tun und lassen, was ich will!«

»Das sehe ich nicht so, und die Leute hier auch nicht. Was gibst du für ein Vorbild ab, wenn du dich aufführst wie eine Hure?«

Bitter enttäuscht legte ich den Löffel weg und lehnte mich zurück. »Eine Hure, so siehst du mich also? Wenn ein Mann sich mit einer Frau einlässt, ist er der Held. Aber wehe, die Frau macht das mit einem Mann, dann ist sie eine Hure.«

»Enja!«, mahnte er mich eindringlich und etwas leiser. Dabei beugte er sich zu mir herüber. »Du kannst die Gefühle der Menschen hier und deren Überzeugung nicht ignorieren. Was ich persönlich denke, spielt keine Rolle.«

Jetzt appellierte er doch tatsächlich an meine Pflichten als Burgherrin. Aber ich musste widerwillig zugeben, dass ich zu einem ähnlichen Entschluss gekommen war, und konnte ihm daher glaubhaft meine guten Absichten vermitteln.

»Ich hatte nur einen schwachen Moment. Keiner hier soll mich je wieder in einer solchen Situation erleben. Meine Pflicht als Clanchefin ist mir sehr wichtig, Hal. Ich habe meine Gefühle im Griff, das solltest du mir glauben.«

Hal stand auf, und noch ein wenig steif, als würde es ihm schwerfallen, verbeugte er sich vor mir. »Ich werde dich an deine Worte erinnern, Enja«, murmelte er, und seine Stimme klang ungewöhnlich kühl. »Es sind die Gefühle, die wir am wenigsten im Griff haben.«

Mit einem Ruck stand ich ebenfalls auf. Ich musste hier raus. Wenn ich bisher kein schlechtes Gewissen gehabt hatte, jetzt war es da. Es waren genau die Worte, die meine emotionale Fassade sprengten. Ich rannte die wenigen Meter bis zur Tür, riss sie auf, eilte die Treppen hinunter und verschwand in der kleinen Kapelle. Mit meinem Rücken stemmte ich mich fest gegen die Tür und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ich verdammte die Männer und insbesondere James und Hal und alle, die mir noch einfielen. Es waren nicht viele.

Die Stille in der Kapelle war eine Wohltat. Vorn am Altar brannte eine Kerze und tauchte den kleinen Raum in ein warmes Licht. Langsam klärte sich meine verschwommene Sicht. Ich war gerne hier, nicht zum Beten, sondern um zu mir selbst zu finden. Aber wo befand ich mich denn eigentlich?

Die Tür hinter mir wurde plötzlich mit solch einem Ungestüm aufgedrückt, dass ich nach vorn stolperte. Hal drängte sich herein und ließ die Tür krachend hinter sich ins Schloss fallen. Er schnaubte durch die Nase.

Um hier rauszukommen, musste ich an ihm vorbei. »Ifreann!«

»So kann man das nennen!«, schnaufte er böse.

Hatte ich es laut gesagt?

»Du kommst hier nicht raus, ehe du mir erzählt hast, was passiert ist.«

Mir war verdammt klar, Hal meinte es ernst. »Es gibt nichts zu erzählen.« Verzweifelt versuchte ich, normal zu klingen.

»So?« Seine Augenbrauen zogen sich nach oben. Im Kerzenschein tanzten die Schatten auf seinem Gesicht mit seinen schwarzen Linien einen bedrohlichen Tanz.

Wie um seine Fragen abzuwehren, verschränkte ich die Arme vor meinem Oberkörper. »Es ist nichts passiert, James war viel zu betrunken.«

»Hat er dir wehgetan, der verdammte Hurensohn?« Hal kam auf mich zu. Meine Augen suchten verzweifelt einen Ausweg, aber ich kam nicht an ihm vorbei.

»Hal, bitte!« Ich hob beschwichtigend die Hände. Ein Kloß formte sich in meinem Hals. Warum musste dieser Kerl immer so direkt nachbohren?

»Was hat er getan?« Hals Stimme war nur noch ein Zischen.

Meine Brust hob und senkte sich hektisch. Von seiner Rage überrannt, schaute ich überall hin, nur nicht in sein wutverzerrtes Gesicht.

»Er … er«, ich stotterte wie ein kleines Mädchen, »oh, Hölle! Er hat sich betrunken, weil er mich so abstoßend findet.«

Jetzt war es an Hal, nach Luft zu schnappen. »Er hat sich betrunken, weil er … was?«

»Weil er nüchtern nicht mit mir schlafen konnte«, vollendete ich den Satz für ihn. Hal schien um Fassung zu ringen. Egal, ich war froh, dass ich es gesagt hatte – jetzt war es raus.

Noch bevor mein Atem sich wieder beruhigt hatte, geschah etwas, das ich bis heute nie verstanden habe. Hals große Hände umfassten mein Gesicht. So zärtlich, wie ich es einem so großen Kerl wie ihm niemals zugetraut hätte, presste er mir einen Kuss auf den Mund. Es war ein warmer, liebevoller Kuss. Als er mich wieder ansah, waren seine Augen voller Emotionen. Klar und tief wie die irischen Seen.

»Du bist das Schönste, was meinen Augen je untergekommen ist, Enja. Alles, was du tust, ist ehrlich, unkonventionell und verrückt. Und ich liebe jede deiner Stärken und Schwächen. Du weißt, dass ich dich liebe, als wärst du meine Frau. Ich weiß auch, dass ich dich nie haben kann. Aber ich werde jeden töten, der dir wehtut und dich nicht zu schätzen weiß.«

Er meinte jedes Wort ernst, das spürte ich, und berührte damit meine verwundete Seele. Eine Träne schlich sich meine Wange hinab, er strich mit seinem Daumen darüber. Sein Gesicht war eine einzige Liebeserklärung, und ich schloss die Augen, um sie aufzunehmen.

Nein, wegen meines gekränkten Stolzes würde kein Mann sterben! Ein Ruck ging durch meinen Körper, mit neuer Energie öffnete ich meine Augen und legte meine flache Hand an seine Brust. »Nur weil ich weine, bin ich nicht schwach, Hal. Bitte entschuldige diesen emotionalen Moment.«

Es fiel mir nicht leicht, mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Nicht umsonst hatte mich Shi Fu immer wieder davor gewarnt, Gefühle zu zeigen. »Gefühle nicht gut, machen schwach«, hatte er stets in seinen Lehrstunden gewarnt.

Hal drehte sich wortlos um, ging zur Tür, die etwas schief in den Angeln hing, bog die obere Angel wieder gerade und lief hinaus. Sie fiel hinter ihm ins Schloss. Unruhig und ziellos stapfte ich aus der Kapelle.