Kapitel 20

Caerlaverock im Herbst 1306

Erst weit nach Mittag kam ein völlig zerknitterter und verkaterter Lord Douglas die Treppe heruntergestolpert. Sein Haar sah aus wie ein Vogelnest, und ein dunkler Bartschatten lag auf seinem müden Gesicht. Aus geröteten Augen blickte er sich in dem großen Saal um, der noch vom letzten Festabend geschmückt war. Nur die Bänke und Tische waren bereits wieder ordentlich zusammengerückt und die Spuren des Festgelages verschwunden.

Seine Schläfen pochten bei jedem Schritt. Er brauchte dringend etwas zu trinken und war froh, als er an einem der Tische Hugh zusammen mit einigen seiner Männer entdeckte. Er blickte ihn nur aus rotgeräderten Augen an, und sein kleiner Bruder schob ihm schnell eine Karaffe mit Wasser und einen Becher hin.

»Mann, James, du siehst aus, als hätte dich eine Horde Rinder überrannt!«, rief er in ehrlichem Mitgefühl aus, die Augenbrauen hochgezogen, ein schiefes Grinsen im Gesicht.

»Ich fühle mich auch so«, krächzte James mit dickem Hals und schwerer Zunge. Er rieb sich kratzend die Bartstoppeln. »Wo ist Lady Enja?«, fragte er so beiläufig wie möglich. Irgendetwas war gestern geschehen, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Vielleicht konnte sie ihm sagen, was passiert war.

Hughs Miene wurde schlagartig ernst, fast betreten. »Das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, war sie auf dem Weg in die Krankenkammer. Das ist schon mindestens eine Stunde her.«

James’ Blick fixierte erst die Tür, bevor er sich unbeholfen in Bewegung setzte. »Ich gehe sie suchen.« Doch bevor er die Tür erreichte, blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. »Ähm, Hugh?« Sein kleiner Bruder legte den Kopf schief und blickte ihn fragend an. »Ist irgendetwas … irgendetwas passiert gestern Abend?« Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Hugh unschuldig, »du hast mit McKay noch länger gesessen und Uisge beatha getrunken. Als ich mich zurückgezogen und die Wachen eingeteilt habe, lief mir die Amme über den Weg, ähm … sie hatte Probleme mit einem der Babys.« Seine Wangen überzog eine rötliche Farbe.

James stutzte. »Soso, die Amme«, murmelte er abwesend, während er sich wieder zur Tür wandte. Draußen empfing ihn gleißendes Sonnenlicht und ließ ihn blinzeln, weil seine Augen schmerzten. Es war ein kalter, aber sonniger Oktobertag. Mit einer Hand über den Augen suchte er den Burghof ab. Es dauerte nicht lange, und sein Blick fiel auf die gegenüberliegende Burgmauer. Aufgeregt standen dort oben einige der wachhabenden Männer und Frauen und zeigten auf einen Punkt außerhalb der Burg.

Keine Minute später ging das Tor auf, und ein Reiter kam wie der Blitz durchgejagt. Vor den Stufen zur großen Halle riss Winnie ihr Pony zurück und sprang ab, die kurzen Haare klebten ihr vom Wind an der Stirn.

»Wo ist Enja?«, rief sie außer Atem, und ihre kurzen Beine flitzten die Stufen hinauf. Schweiß stand ihr von dem wilden Ritt im Gesicht, vermengt mit Dreck und Staub.

»Jedenfalls nicht in der Halle«, fing James sie ab.

»Ich bin hier!«, rief Enja. Sie war aus der Krankenkammer gekommen, als sie die schnellen Hufe trampeln hörte.

Winnie drehte sich zu ihr um und japste aufgeregt: »Eine Armee ist auf dem Weg hierher! Sie tragen die Banner von König Edward, mindestens sechshundert Mann stark! Vielleicht noch ein paar Stunden entfernt.«

Enja hielt mitten in der Bewegung inne. »Edward? Hier?«

Blankes Entsetzen befiel die Menschen im Burghof, und mit einem Schlag brach Chaos aus. James brüllte nach Hugh, er solle die Männer nach draußen bringen und bewaffnen. Hugh stürmte herbei und befahl seinen Leuten, ihre Waffen zu holen. Und McKay schrie Hugh zu, er solle mit ihm auf den Westturm kommen, die andere Seite verteidigen, falls es einen Hinterhalt gäbe. Schließlich brüllte Enja so laut, dass sie sich in dem Tumult Gehör verschaffte, dass sie hier das Kommando habe. Langsam legte sich die Panik.

Währenddessen holte Hal, der mit Winnie auf Patrouille gewesen war und das anrückende Heer entdeckt hatte, bereits die Pferde von den Weiden und übergab sie den zahlreichen Stallburschen, die sie hastig im Burginnern in Sicherheit brachten. Ein Horn erschallte hoch über den Burgzinnen, um auch die restlichen Bewohner von Caerlaverock in die Burg zu holen.

Fieberhaft arbeiteten die Bewohner die in zahllosen Übungsstunden erworbenen Routinen ab. Sie holten die Bogen und die Pfeile aus der Waffenkammer, die Schwerter und Schilde, Messer und Äxte. Teer wurde erhitzt und Wasser in Eimern gesammelt. Jeder hatte eine Aufgabe, keiner verlor die Nerven. Immer wieder kehrten noch vereinzelt Hirten und Jäger über die Fähre in die Burg zurück, dann wurde auch diese eingezogen und das Fährseil gekappt.

James versuchte die ganze Zeit, Enja in dem ganzen Irrsinn zu erwischen. Aber sie beachtete ihn gar nicht, sondern rannte die Positionen ab und vergewisserte sich, dass alle ihre Aufgaben ernst nahmen. Zeitgleich mit dem stoischen Hal, der ihr berichtete, dass die Alten mit den Kindern und Babys wohlbehalten in die unterirdischen Gewölbe gebracht worden seien, kam James auf dem Burgmauergang über dem Haupttor von der entgegengesetzten Seite auf sie zu. Eine seltsame, verhaltene Stille entstand zwischen den dreien. James suchte Enjas verschlossenen Blick und beachtete den übellaunigen Hal gar nicht, der gut sichtbar mit dem Griff seiner Axt spielte.

»Ich würde Euch gerne sprechen, Lady Enja, wenn Ihr erlaubt.« Es reichte ihm schon, dass sie ihn zurechtgestutzt hatte, als er die Befehle erteilte. Daher versuchte er jetzt einen vorsichtigeren Beginn.

»Sprecht!«, kam es kurz angebunden. Enja schaute ihn nicht an, sondern ließ ihren Blick über die Zinnen auf die umgebenden Hügel schweifen, um irgendwelche Zeichen eines anrückenden Heeres zu sehen. Sie hatte sich mit den Händen auf der Burgzinne abgestützt, die zum Mauerwerk des Wehrganges gehörte. Hal verschränkte seine Arme und giftete James in seiner unverhohlenen Art an.

»Wenn, dann bitte unter vier Augen …«, setzte James noch einmal höflich an, ohne Augenkontakt mit ihr aufnehmen zu können. Er sah ihr wütendes Gesicht nur im Profil, dazu die gerade Nase und die sorgfältig mit dem silbernen Dolch weggesteckten weißen Haare. Sie würdigte ihn keines Blickes.

»Sprecht, Hal ist eingeweiht.« Sie war schrecklich abweisend. Was bildete sie sich eigentlich ein? James schnaufte ärgerlich durch, und mit einem schärferen Ton als beabsichtigt setzte er dann zur Erklärung an: »Ich weiß nicht, was gestern Abend passiert ist, aber wenn ich Euch in irgendeiner Weise zu nahe getreten bin, dann tut es mir …« Weiter kam er nicht.

Ohne Vorwarnung flog Enjas Faust blitzschnell in sein Gesicht, und das mit einer Wucht, die ihn Sterne sehen ließ. Seine Beine versagten den Dienst, er sackte auf die Knie und hielt sich die blutende Nase. Von ihrer Reaktion völlig überrascht, hatte er ihre Hand noch nicht einmal kommen sehen, um sich wenigstens zu schützen.

»Entschuldigung angenommen.« Der Blick der kaltschnäuzigen Kriegerin schweifte nun wieder über die Hügel und wurde plötzlich von einer Bewegung eingefangen. Enja zeigte angespannt auf den Punkt vor sich.

»Sie kommen. Alle auf ihre Posten!«, brüllte sie im Befehlston.

James beachtete sie nicht ein einziges Mal, und Hal setzte ein schadenfreudiges Grinsen auf. Er schien sich höllisch über Enjas Reaktion zu amüsieren.

Langsam und unsicher zog James sich am Mauerwerk hoch. Also war etwas passiert in dieser unglückseligen Nacht. Etwas, das ihm Enja nicht verziehen hatte. Er wurde das Gefühl nicht los, er hätte diesen Nasenstüber auch verdient. Irgendwann würde er sie danach fragen. Trotz seiner Kopfschmerzen und der blutenden Nase war ihm klar, was er zu tun hatte.

»Ich bringe den König hier raus und in Sicherheit«, murmelte er und hielt sich die geschwollene Nase.

»Der König bleibt hier!«, herrschte ihn Enja an. »Er ist hier in Sicherheit.« Jetzt sah sie ihn wenigstens zum ersten Mal an, wenn auch mit kalt funkelnden Augen, die Lippen wütend zusammengepresst.

»König Edward ist seinetwegen hier. Wenn ich ihn herausbringe, wird Edward vielleicht die Burg verschonen«, entgegnete James unter größter Aufbietung seiner restlichen Würde. In seinem Kopf hämmerte es unerträglich.

»Edward ist meinetwegen hier«, entgegnete sie grimmig und schob das Kinn angriffslustig nach vorn. »Woher sollte er denn wissen, dass der schottische König hier ist? Diese Armee ist seit Tagen unterwegs, wie sollte sie von Roberts Aufenthalt hier gehört haben? Keiner verlässt die Burg, das ist mein Befehl!«, zischte sie in einem Ton, der keine Widerrede duldete.

James schluckte schwer. Gerade lernte er eine Seite dieser Frau kennen, die er so noch nie gesehen hatte, und es erschreckte und faszinierte ihn gleichermaßen. So hart wie ihre Faust waren die Befehle, die sie verteilte. Hatte er sie immer nur als attraktive Frau gesehen? War sie deshalb so wütend auf ihn? Hatte er gestern Abend etwas Falsches gesagt? Vielleicht auch noch, wie schön sie war? Er stöhnte innerlich. Was hätte er dafür gegeben, den letzten Abend noch einmal nüchtern zu durchleben.

Diese Gedanken schob er aber erst einmal beiseite, denn er musste sich auf die Probleme vor der Burgmauer konzentrieren. Eine Armee mit sechshundert Mann gegen eine Burg mit vielleicht zweihundert Männern, Frauen und Kindern. Verdammt! Enja musste Nerven aus Stahl haben.

Sein Blick fiel auf eine Person, die sich gerade mühsam die Treppe hochschleppte. Vollständig in seinen blau-weißen Waffenrock gekleidet, mit dem Wappen des schottischen Throns auf der kräftigen Brust, erklomm Robert de Bruce unter Aufbietung all seiner Kräfte die Stufen. Er atmete schwer, das fahle Gesicht bedeckte ein Schweißfilm, und seine Arme zitterten.

»König Robert!«, rief James erschrocken aus. »Ihr solltet doch in Eurer Kammer bleiben!«

»Edward steht vor den Toren, und ich soll mich verkriechen? Was wäre ich für ein König?«, röhrte der tiefe Bass des kräftigen Mannes.

In diesem Moment erkannte James in Enjas Gesicht das erste Mal eine Veränderung. Langsam schien ihr zu dämmern, in welcher fatalen Situation sie sich befand. Der schottische König war in ihrer Burg und der englische stand vor den Toren. James’ Blick verfing sich in den blassen Konturen dieser tapferen Frau. Ein erster Riss zeigte sich in ihrer sonst so kühlen Fassade, als Bruce sich die Treppe zum Mauergang hochschleppte.

Was würde sie jetzt wohl tun? fragte sich James. Plötzlich spürte er nicht mehr den höllischen Schmerz in seiner Nase, etwas anderes pochte in seinem Kopf. Stolz stand sie da, hoch aufgereckt und mit jedem Zentimeter ihres Körpers strahlte sie eine Entschlossenheit aus, die ihn mit Bewunderung erfüllte. Dabei wühlte in ihr wohl eine Unsicherheit, die sie nicht an die Oberfläche ließ. Sie war die Herrin dieser Burg und musste die Menschen in einen Kampf führen, den sie vielleicht nicht gewinnen konnten. Würde sie kämpfen oder lieber den schottischen König an Edward ausliefern, um ein Gemetzel zu vermeiden?

Das Schicksal seines Königs, das seines Volkes und auch sein eigenes hingen am seidenen Faden. Eisige Stille kehrte ein. Nur Robert de Bruce atmete so schwer, als hätte er seinen größten Kampf bereits hinter sich. Selbst das ständige Gackern der Hühner und die Geräusche der anderen Menschen unten im Hof schien in den Hintergrund zu treten. Alles wurde still. Der launische Himmel hörte auf, auf die Köpfe der Menschen zu regnen, und kein lästiger Wind zerrte an ihren Haaren hier oben über dem mächtigen Holztor. Enjas Blick wanderte über sein Gesicht, dann über das jedes einzelnen Kämpfers hier und blieb an dem von Krankheit gezeichneten Gesicht des Mannes hängen, den James so verehrte und der im Moment alle Kraft der Welt aufbot, um sich nur auf den Beinen halten zu können.

Auf einmal wusste James, wie sich Enja entscheiden würde. Ihre Seele war der seinen so ähnlich: gejagt, gestählt und von einem großen Herzen getrieben. Die stolze Heldin schloss die Augen und atmete tief ein. Ein Augenblick für die Ewigkeit.