1.

Irgendwas an Hilke war heute anders. Ernst verharrte an der Tür des Gemeindebüros und runzelte verwirrt die Stirn, während er noch überlegte, was es war. Er trat einen Schritt näher und starrte sie so lange an, bis sie den Kopf hob und plötzlich lächelte. »Moin, Ernst.« Jetzt sah er es: Hilke Petersen trug rosa Lippenstift. Und eine sehr bunte Bluse. Und sie lächelte. Normalerweise lächelte sie nie, zumindest nicht ohne Grund. Und schon gar nicht einfach so zur Begrüßung. Das war nicht ihre Art. Und Ernst konnte das beurteilen, weil er die sonst so spröde Hilke Petersen schon sehr lange kannte, nicht erst seit sie in diesem Gemeindebüro arbeitete und sich um die Belange der Touristen und Insulaner kümmerte, sondern schon als Jugendliche. Also fast ihr ganzes Leben. In dem sie bislang ohne Lippenstift und Lächeln ausgekommen war. Und nie bunte Kleidung getragen hatte.

»Komm doch rein«, sagte sie. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich …«, zögernd trat er näher. »Hast du heute eine Feier? Geburtstag oder so?«

»Nein. Wie kommst du darauf?«

»Die Bluse«, antwortete Ernst schnell und nickte. »Du hast so eine hübsche Bluse an.«

Ernst fand sie viel zu bunt, aber irgendetwas musste er ja sagen. Hilkes Wangen hatten plötzlich dieselbe Farbe wie der Lippenstift.

»Vielen Dank für das Kompliment«, sagte sie etwas verlegen. »Sehr aufmerksam.«

»Das sieht sehr hübsch aus«, setzte Ernst hinzu. »Sehr … hell.«

»Danke«, sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und klaubte ein Haar von der bunten Bluse. »Was wolltest du denn jetzt?«

»Ich … ähm«, die veränderte Hilke hatte Ernst völlig aus dem Konzept gebracht, er musste tatsächlich überlegen, was genau er hier eigentlich wollte. Es fiel ihm wieder ein. »Ich möchte gern die Jahresaufkleber für die Einwohner-Besucherkarten. Bevor die Familie kommt. Jetzt geht die Saison ja langsam los und …«

»Hast du die Karten dabei?« Hilke hatte schon eine Schublade aufgezogen und die Hand ausgestreckt. Sie hatte auch noch ihre Fingernägel lackiert. In Rosa. Den Blick darauf gerichtet fummelte Ernst seine Brieftasche aus der Jacke und zog die Karten hervor. »Bitte schön.«

Sorgsam klebte Hilke die neuen Etiketten über die alten und schob ihm die Karten wieder zu. »15  Euro«, sie sah ihn an. »Dann wollen wir mal hoffen, dass es ein schöner Sommer wird.«

»Ja.« Ernst legte ihr das Geld hin und verstaute die Karten, während er noch nach einer klugen Antwort suchte. »Danke. Mein Enkel Mats kommt ja schon demnächst. Alleine. Er hat ja gerade keine Freundin.«

»Ist doch schön.« Hilke legte das Geld in die Kasse und schob die Schublade wieder zu. »Also, dass euer Enkel kommt. Brauchst du noch was?«

»Nein, nein, vielen Dank.« Ernst schüttelte den Kopf. »Dann gehe ich mal wieder, du hast ja bestimmt noch was Schönes vor. Also, ich meine, wegen der Bluse und so.« Er sah sie abwartend an, sie reagierte nur leider nicht. Stattdessen lächelte sie schon wieder und sagte: »Einen schönen Tag noch.«

»Danke, dir auch«, er hob unschlüssig die Hand, drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Gemeindebüro.

Erst als er draußen vor dem roten Backsteingebäude stand, blickte er sich noch mal um. Er konnte Hilke durch das geöffnete Fenster an ihrem Schreibtisch sitzen sehen. Sie schaute auf ihr Handy und lächelte entrückt. Ernst war jetzt vollends verwirrt. Das passte gar nicht zu ihr. Dieses aufs Handy starren und von der Welt nichts mitbekommen. Das machten doch nur die jungen Leute, die dabei aussahen, als wären sie mit diesem Ding verwachsen. Ernst konnte das nicht leiden. Was um alles in der Welt war denn nur mit ihr los?

»Hast du einen Geist gesehen?«, tönte plötzlich eine weibliche Stimme hinter ihm, die Ernst zusammenzucken ließ. Sofort drehte er sich um und sah Hella Fröhlich vor sich. »Ist was passiert?«

Das Erste, was ihm an Hella auffiel, war ihr knallgelber Mantel. Hella Fröhlich trug meistens bunte Kleidung, ganz im Gegensatz zu Hilke, aber dieser Mantel war sehr gelb. »Du siehst aus wie ein großes Küken«, stellte Ernst fest und musterte sie. »Du leuchtest.«

»Das ist die Absicht«, Hella lächelte ihn breit an. »Ich habe den Frühling eingeläutet.« Sie legte ihren Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken und hielt ihr Gesicht schnuppernd in die Sonne. »Riechst du es auch? Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte. Süße, wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land «, sie sah ihn an und fuhr in normaler Lautstärke fort: »Schön, oder?«

»Nicht so laut«, Ernst runzelte die Stirn und sah sich um. »Muss ja nicht gleich das ganze Dorf hören, wie du Schlager singst. Und hier flattert auch kein blaues Band, sondern nur das rot-weiße an der Absperrung wegen der Kanalarbeiten.«

»Das ist Mörike, mein Bester«, Hella schüttelte den Kopf. »Von wegen Schlager, du hast doch keine Ahnung. Hast du schlechte Laune? Statt Frühlingsgefühle? Was ist los mit dir?«

Ernst musterte sie lange. Hella Fröhlich hatte immer gute Laune. Sie war auch immer bunt und mit Schmuck behängt. Wie ein altes Zirkuspferd. Das hatte sie selbst mal gesagt, schließlich war sie als junge Frau Schauspielerin gewesen und hatte bis vor ein paar Jahren auch noch auf der Insel bei der Laienspielgruppe mitgemacht. Die ihr aber zu unprofessionell gewesen war. Jetzt mischte sie die Gemeindeveranstaltungen auf, sammelte Geld für den Kinder-Club, organisierte die diversen Festivitäten mit und war ständig auf der Suche nach neuen Vergnügungen.

Sie bohrte ihm nun den Finger in die Brust. »Hallo? Was ist los mit dir?«

»Ich …«, Ernst drehte sich wieder um, Hilke saß immer noch mit dem Handy in der Hand am Schreibtisch. Er sah zurück zu Hella und deutete mit dem Kopf in Hilkes Richtung. »Ich habe die Jahresaufkleber geholt. Bei Hilke Petersen. Sie war ganz … wie soll ich sagen? Sie sieht aus … also sie hat Lippenstift aufgetragen. Und Nagellack. Und sie hat was ganz Buntes an. Und lächelte die ganze Zeit.«

»Hilke Petersen?« Hella folgte der Geste. »Unsere graue Maus? Lippenstift und Nagellack? Oha. Dann hat sie wohl auch Frühlingsgefühle. Das wurde ja mal Zeit.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, Ernst schüttelte energisch den Kopf. »Die hat sie nicht gehabt, seit ich sie kenne. Sie war immer ganz normal. Nein, irgendwas ist bei ihr plötzlich ganz anders.«

»Vielleicht ist sie verliebt?«, mutmaßte Hella jetzt und hob die Schultern. »Das soll ja vorkommen.«

»Hilke?«, entgeistert sah Ernst sie an. »Ich bitte dich. Sie ist doch fast fünfzig.«

»Sag mal«, empört trat Hella einen Schritt zurück. »In welcher Welt lebst du denn? Man kann sich in jedem Alter verlieben. Nur weil du mit Gudrun schon ein halbes Jahrhundert verheiratet bist, heißt das noch nicht, dass es nicht andere Menschen in eurem Alter gibt, die noch einen Partner suchen. Dafür ist es nie zu spät. Und Hilke Petersen ist höchstens Mitte vierzig. Und übrigens, du kennst doch dieses ältere Paar, das jetzt zwei Häuser neben Martina Wolf wohnt, oder? Sie heißt Frau Arndt, er heißt, warte mal, ich komme gleich drauf, er heißt irgendwie anders. Egal. Aber die haben sich in fortgeschrittenem Alter im Internet kennengelernt. Und sind ganz glücklich.«

Ernst winkte ab. »Im Internet. Das ist doch auch so ein Unsinn. Anstatt mal auszugehen, hocken die Leute vor dem Computer und geben Kontaktanzeigen auf. Oder beantworten sie. Du weißt doch gar nicht, ob du da gerade einen Verbrecher kennenlernst. Und zack, liegst du tot in den Dünen.«

Hella lachte. »Ernst, niemand gibt mehr Kontaktanzeigen auf, auch nicht im Internet. Das geht heute alles über Apps. Lass dir das mal von deinem Enkel erklären, du verpasst sonst die ganze moderne Technik. Und außerdem musst du nicht immer hinter allem, was passiert, kriminelle Energien wittern. So schlecht ist die Welt auch nicht.«

»Das sagst du so in deinem bodenlosen Leichtsinn«, Ernst hob anklagend den Zeigefinger. »Ich sehe genug Fälle im Fernsehen, da gibt es ganze Serien mit echten Kriminalfällen, ich kenne mich aus. Je moderner die Welt, desto ausgefuchster die Verbrecher. Also, pass gut auf dich auf, ich muss nach Hause, Hecke schneiden. Wiedersehen Hella.«

»Grüß Gudrun. Bis demnächst.«

 

Der Schlüssel steckte von außen, das Holzschild mit dem Schriftzug Bin im Garten baumelte an der Klinke. Kopfschüttelnd öffnete Ernst die Tür und trat ins Haus. Er hatte Gudrun schon vorgeschlagen eine Liste der Wertgegenstände und ihrer Aufbewahrungsorte in den Flur zu nageln, um die Unordnung, die Einbrecher in der Regel hinterlassen, zu verhindern. Aber auf dem Ohr war sie taub. Sie fand, ihr Mann habe zu viel kriminelle Fantasie, was das Ergebnis seines jahrelangen Krimikonsums im Fernsehen sei. Das war natürlich Unsinn, er hatte einfach eine gute Menschenkenntnis und einen realistischen Blick auf die Welt.

Als junger Mann hatte er sich sogar bei der Polizei beworben, sie hatten ihn nur nicht genommen, er konnte bis heute nicht verstehen, warum. Er war sich sicher, dass er ein hervorragender Ermittler geworden wäre, das merkte er auch bei den Kriminalfällen im Fernsehen, bei denen er fast immer sehr früh auf die Lösung kam. Dafür hatte er Talent, das hatten sie nur damals einfach nicht erkannt. Aber dieses Talent hatte er dann bis zu seiner Rente erfolgreich als Zollbeamter eingesetzt. Auch wenn er lieber Mörder anstatt Touristen mit zu viel Schnaps gefasst hätte.

 

Er legte die drei wieder gültigen Besucherkarten in die Schublade, tauschte seine gute Hose gegen die Gartenjeans und schloss die Tür von außen ab. Den Schlüssel ließ er in die Hosentasche gleiten.

Gudrun kniete in ihrem Blumenbeet und zupfte Unkraut. Als sie Schritte hörte, richtete sie sich auf, zog die Handschuhe aus und sah ihren Mann an. »Na? Alles erledigt?«

»Ja. Sonst wäre ich ja noch nicht wieder da.«

»Wo hast du denn die Hornveilchen hingestellt?« Gudrun war inzwischen aufgestanden und sah sich um.

»Welche …«, in diesem Moment fiel es Ernst wieder ein. Minna Paulsen hatte Hornveilchen für Gudrun aus der Gärtnerei mitgebracht, die er bei ihr hätte abholen sollen. »Die habe ich vergessen«, er hob die Schultern und sah seine Frau ratlos an. »Einfach vergessen.«

Sie runzelte die Stirn und stieg langsam über die niedrige Buchsbaumhecke, die das Blumenbeet begrenzte. »Aber du warst doch auf der Gemeinde, oder nicht? Mit den Jahreskurkarten?« Jetzt stand sie dicht vor ihm und musterte ihn. »Oder hast du das auch vergessen? Minna wohnt nur eine Tür weiter.«

»Ja, schon«, Ernst kratzte sich am Kopf. »Und nein, die Karten habe ich nicht vergessen. Aber Hilke hat mich so durcheinandergebracht, wegen dieses Lippenstifts. Und dann kam auch noch Hella. In so einer gelben Jacke, in der sie aussieht wie ein dickes Küken.«

»Ich kenne die Jacke«, nickte Gudrun. »Hat sie letzte Woche in Westerland gekauft. Schnäppchen. Auch wenn ich finde, dass sie etwas zu alt für diese Farbe ist. Aber in der Beziehung ist Hella ja beratungsresistent. Und was meinst du mit dem Lippenstift?«

»Hilke«, Ernst beugte sich vor. »Hilke Petersen hatte ihre Lippen rosa angemalt.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr dann fort: »Rosa. Und nicht nur die Lippen, sondern auch noch ihre Fingernägel. Und sie hatte eine ganz bunte Bluse an.«

»Warum nicht?«, Gudruns Reaktion war eher enttäuschend. »Vielleicht hat sie heute noch was Schönes vor?«

»Sie benutzt nie Lippenstift«, Ernst wurde etwas vehementer. »Es gibt keinen Grund, keine Feier, keinen Geburtstag, das habe ich sie gefragt. Ich kenne sie seit Jahren und sie war noch nie so bunt wie heute. Ganz seltsam. Das passt gar nicht zu ihr.«

»Sie wird dir auch nicht alles erzählen. Vielleicht ist sie verliebt?« Gudrun lächelte. »Jetzt haben doch gerade alle Frühlingsgefühle. Ich habe vorhin eine Umfrage im Radio gehört, die Hormone tanzen, hat da jemand gesagt, es ist gerade die beste Zeit, sich zu verlieben.«

»Doch nicht Hilke Petersen«, entschieden schüttelte Ernst den Kopf. »So eine ist sie nicht. Das hat sie mal ausprobiert und es entsprach nicht ihrem Naturell. Und wo soll sie denn schon jemanden kennenlernen? Sie geht doch nie aus.«

Das genau war es ja, was Ernst an der spröden Hilke Petersen so schätzte. Sie war so ernsthaft und so ordentlich. Er sah sie bei allen Festivitäten, die die Gemeinde veranstaltete. Ob es der Osterbasar, der Weihnachtsmarkt oder die Busausflüge waren, Hilke Petersen war in ihrer unaufgeregten Art immer dabei. Ernst unterhielt sich gern mit ihr, über Bauvorhaben, über die Touristen, über die neuen Hotels auf der Insel und Hilke regte sich über dieselben Dinge auf. Auf sie war Verlass. Sie setzten sich meistens nebeneinander, erst bei der letzten Sitzung des Kinder-Clubs war das so gewesen. Sie gehörte genau wie Ernst zum Vorstand des Vereins, der sich für die Kinder der Insel engagierte. Ernst selbst hatte sie gefragt, ob sie mitmachen wolle, und sie hatte Ja gesagt. Weil sie ja sonst nur ihre Arbeit und kaum Privatleben habe. Und nun trug sie plötzlich Lippenstift und bunte Blusen. Es war verrückt.

»Nun mach dir mal keinen Kopf über Hilke Petersens Lippenstift«, Gudruns Stimme holte ihn aus seinen Gedanken. »Und im Übrigen geht dich das auch gar nichts an. Wenn eine Frau sich plötzlich schön macht, hat sie einen Grund. Freu dich drüber, hol dein Fahrrad aus dem Schuppen und fahr zu Minna, um die Hornveilchen abzuholen. Die will ich nämlich heute noch einpflanzen.«